Ihr beneidet Menschen, die schon immer wussten, was sie mal werden wollen, während ihr bis heute nicht recht wisst, welcher Beruf der richtige für euch ist? Dann tut es vielleicht gut, zu hören, dass ihr damit nicht alleine seid.
Was möchtest du mal werden, wenn du groß bist?
Wenn ich groß bin werde ich Tänzer*in, gehe zur Feuerwehr, schreibe Geschichten und gründe ein Ballonfahrtunternehmen. So oder so ähnlich buntgemischt kann es klingen, wenn man Kinder fragt, was sie später mal werden wollen. Kindern gesteht man zu, ganz vielfältige Vorstellungen von ihrer beruflichen Zukunft zu haben und sich nicht auf eine Sache festzulegen. In der Regel ermutigt man sie sogar, grenzenlos zu träumen, sich für vieles zu interessieren und in verschiedenen Bereichen auszuprobieren. Ab einem gewissen Alter wird dann jedoch erwartet, dass man weiß, wo die eigenen Stärken und Interessen liegen und, dass man sich für eine Richtung entscheiden kann. Von da an gilt häufig das Motto: Immer hoch die Karriereleiter, am besten ohne große Umwege. Was aber, wenn das für einen nicht funktioniert? Nicht, weil man keine Ideen hat, was man tun könnte, sondern vielmehr, weil man viel zu viele Interessen hat, als dass man sich für eine Sache entscheiden könnte.
So ging es Karriere-Coach und Autorin Emilie Wapnick. In einem sehr persönlichen TED-Talk spricht sie über genau dieses Phänomen. Sie habe die Frage „Was willst du mal werden, wenn du groß bist?“ nie beantworten können. Immer wieder interessierte sie sich für etwas Neues, eignete sich das nötige Wissen und die entsprechenden Fähigkeiten an, und wurde dann auch richtig gut darin. Bis zu dem Punkt, an dem es sie langweilte und etwas anderes ihr Interesse weckte. Jedes Mal dachte sie von Neuem: Endlich, das ist es. Jetzt habe ich meine Berufung gefunden. Und jedes Mal ging das Ganze wieder von vorne los. Dieses Verhaltensmuster habe bei ihr große Unsicherheit ausgelöst. „Irgendwann verwandelt sich das unschuldige ,Was willst du werden, wenn du groß bist?‘ in die Frage, die dich um den Schlaf bringt“, sagt sie in ihrem TED-Talk. Sie hätte Angst gehabt, dass sie irgendwann gezwungen sei, sich auf eine Sache festzulegen und sich mit Langeweile arrangieren zu müssen. Und sie habe sich gefragt, wie sie unter diesen Voraussetzungen jemals Karriere machen solle. Zum Schluss, so erzählt Emilie Wapnick, dachte sie, mit ihr stimme etwas nicht.
Keine Schwäche, sondern eine Stärke
Allen, die sich mit diesen Gefühlen identifizieren können, sei gesagt, mit euch stimmt sehr wohl alles. Sehr wahrscheinlich seid ihr, wie auch Emilie Wapnick, ein*e Multipotentialist*in: „Ein Mensch mit vielen Interessen und Leidenschaften“, erklärt sie. Dabei handelt es sich nicht um etwas, das man kristisch oder gar als Schwäche betrachten sollte. Im Gegenteil: Emilie Wapnick zählt im Video gleich mehrere Stärken von so vielseitig interessierten Menschen auf. Wenn Multipotentialist*innen ihre verschiedenen Interessensgebiete und erlernten Fähigkeiten miteinander kombinieren, können daraus neue, innovative Dinge entstehen. Zudem fällt es ihnen leicht, sich an neue Situationen anzupassen und wechselnde Funktionen und Rollen einzunehmen. Ein weiterer Vorteil: Multipotentialist*innen können sich leicht neue Dinge aneignen. Wenn sie etwas interessiert, gehen sie mit vollem Einsatz rein, saugen jeden kleinen Funken gierig auf und sind deshalb auch weniger ängstlich, Neues auszuprobieren. „Momentan gibt es so viele komplexe, multidimensionale Probleme auf der Welt. Wir brauchen kreative Querdenker, die sie angehen“, feiert Emilie Wapnick das Phänomen.
Vielleicht klingt die Definition eines*r Multipotentialist*in im ersten Moment etwas abgehoben, als wären diese Menschen fähiger als all die Leute, die sich für einen Beruf entscheiden und deren Expertise somit in einem bestimmten Feld liegt. Aber die Denkkategorie „besser als“ macht an dieser Stelle keinen Sinn. Es geht nicht darum, Multipotentialist*innen gegen jene Menschen aufzuwiegen, die sich im Laufe ihres (Beruf-)Lebens zu Expert*innen in einem Gebiet entwickeln. Die braucht es nämlich genauso. Und am besten wirken sie zusammen. Laut Emilie Wapnick bestehen die besten Teams aus Spezialist*innen und Multipotentialist*innen: „Der Spezialist geht Dingen auf den Grund und bringt die Expertise mit, während ein*e Multipotentialist*in breit gefächertes Wissen und ganz unterschiedliche Fähigkeiten mit ins Projekt einbringt.“ Also gibt es keinen Grund, Fronten aufzuziehen und zu vergleichen, stattdessen sollten sich diese beiden Typen zusammentun.
Warum nicht mehrere Berufe gleichzeitig ausüben?
Selbstverständlich haben fast alle Menschen mehrere Begabungen und Interessen, denen sie im Laufe ihres Lebens nachgehen. Doch gerade für Menschen, die das Gefühl haben, im bestehenden System nicht den einen richtigen Beruf für sich zu finden und daran verzweifeln, hilft das Wissen um Multipotentialist*innen sicherlich.
In ihrem TED-Talk gibt Emilie Wapnick auch Beispiele von solchen Menschen, die für sich neue Berufe geschaffen haben oder gleich mehrere Berufe gleichzeitig ausüben. Wer sich beispielsweise nicht zwischen an seinen*ihren Interessen für Sprachen, Psychologie und Medizin entscheiden kann, wird vielleicht Dolmetscher*in in einem Krankenhaus und kann so Menschen beistehen, die die Befunde der Ärzt*innen ansonsten nicht verstehen würden. Vielleicht hilft es also, zu überlegen, wo aus den Schnittstellen vieler Interessen etwas Neues entstehen kann. „Wir alle sollten unser Leben und unsere Karriere so gestalten, dass sie zu unserem Wesen passen“, sagt Emilie Wapnick. Absolut richtig, denn nur so kann auch ein Leben gelingen, in dem man sich wohlfühlt und die ganz persönliche Definition von Erfolg erreichen kann. Ihren TED-Talk findet ihr hier.
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