In ihrer Kolumne „Familie und Gedöns“ schreibt Lisa über alles, womit sich Eltern so beschäftigen (müssen), diesmal: Gehört Gangster Rap auf den Grundschul-Pausenhof?
Die Gretchenfrage an Helikopter-Eltern
Nicht erst seit einer ZDF-Dokumentation, oder „Social Factual“, wie das der Sender selbst nennt, welche sich der Frage widmete: „Nur besorgt oder schon durchgedreht?“ schwirrt dieser zweifelhafte Begriff „Helikopter-Eltern“ überall rum. Ich finde ihn fast so schlimm wie, ich will das Wort eigentlich schon gar nicht mehr schreiben, „Latte-Macchiato-Mütter“. Immer blöd, wenn aus einem Begriff ein stumpfes Klischee wird. In der Debatte um diese sogenannten Helikopter-Eltern wird stets eine Schlüsselszene heraufbeschworen, die immer dann herhalten muss, wenn ergründet werden soll, wer denn nun eigentlich helikoptert und wer nicht, die Gretchenfrage in diesem Kontext quasi, und sie lautet: Trägst du deinem Kind den Turnbeutel hinterher oder nicht?
Ich persönlich finde es wichtig, bei dieser durchaus berechtigten Frage ein bisschen zu differenzieren – kann die Antwort auf diese Frage nicht auch unterschiedlich ausfallen, je nachdem, was für ein Kinder-Exemplar man zu Hause hat? Ich habe zum Beispiel eines, das, was soziale Normen betrifft, zum blinden Gehorsam neigt: Es bekommt erst einen Wutanfall, dann eine Panikattacke und anschließend einen Nervenzusammenbruch, wenn wir unser Auto kurz auf dem Behindertenparkplatz abstellen, während ein Erwachsener kurz in den Supermarkt rennt, um ein fehlendes Produkt zu besorgen. Selbst wenn man dem Kind sagt, dass ja ein weiterer Erwachsener am Steuer sitzt und SOFORT, sollte ein Mensch mit Anrecht auf den Behindertenparkplatz in Sichtweite kommen, den Parkplatz freimachen würde. Es würde mich nicht wundern, wenn das Kind auf die Idee kommt, mit seinem Analog-Handy die Polizei oder zumindest das Ordnungsamt anzurufen, wenn das nochmal vorkommen sollte. Aber keine Sorge: Es wird nicht nochmal vorkommen. Das Kind liegt mit seiner Reaktion goldrichtig.
Feine Antenne für soziale Normen
Dieses Exemplar ist auch ein Kind mit sehr feinen sozialen Antennen, das unglücklich wird und dann unruhig und dann sauer, wenn es mitbekommt, wenn Erwachsene einen saudoofen Witz auf Kosten anderer machen. Neulich zum Beispiel machte ein Erwachsener einen wirklich blöden Witz über den englischen Namen eines Kollegen, der nach DDR-Art so geschrieben wird, wie man ihn spricht. Das Kind, wütend, panisch, nervlich strapaziert: „Man darf keine Leute auslachen wegen ihres Namens!“ (Zu meiner großen Freude ist das Kind ein ebenso großer Fan des Genitivs wie ich).
Jedenfalls: Mit ebendiesem Kind hatte ich neulich einen wirklich schlimmen Streit. Was die Alltagsorganisation betrifft, neige ich schlimm zum Helikoptern, das muss ich schon sagen: Ich habe es einfach nicht hingekriegt, meine Kinder an die Pflicht heranzuführen, nach der Schule selbst die Brotboxen und Trinkflaschen aus dem Ranzen zu holen, und – Gott bewahre – sogar noch zu leeren und zu säubern. Ich packe die Sportbeutel und die Schwimmtasche aus und gebe das Zeug in die Wäsche. Ich packe den Rucksack fürs Fußballtraining, für die Judostunde und für Schulausflüge. Ich kann nicht anders.
Kompletter Zusammenbruch
Beim Kind jedenfalls stand ein Schulausflug zu einem Konzert an, bei diesen Schulausflügen muss immer das kostenlose Schüler*innenticket der Berliner Verkehrsbetriebe mitgegeben werden. Neulich packte ich also den Rucksack zum „Peter und der Wolf“-Konzert wie üblich: mit Portemonnaie und darin enthaltenem Schülerticket. Am Nachmittag fand ich im Hausaufgabenheft einen Eintrag der Klassenlehrerin, dass 1,80 Euro nachzureichen seien, weil das Kind sein Ticket nicht dabeigehabt habe. Das Kind war außer sich, und beschuldigte mich, ich hätte sein Ticket nicht eingepackt. Und dann beging ich einen großen Fehler: Ich wühlte im Rucksack und zog triumphierend, „Na klar habe ich das!“-rufend, den Geldbeutel samt Ticket aus den Tiefen des Rucksacks. Das Kind brach völlig zusammen. Ich glaube, es war auch unterzuckert.
Eine halbe Stunde lang war das Kind außer sich und schrie immer wieder „Gib zu, dass der Geldbeutel da heute früh noch nicht drin war!“ Weil das also ein Kind ist, das es als riesige Demütigung begreift, wenn es eine halbe Minute zu spät zur Schule kommen würde (was genau nullmal passiert ist während seiner bisherigen Schullaufbahn), wenn es sein BVG-Ticket nicht dabei hat, oder wenn ein von den Eltern auszufüllendes Formular nicht pünktlich wieder in der Postmappe liegt – bin ich bei der Turnbeutelfrage eher soft drauf. Als dieses Kind neulich zum ersten Mal innerhalb von mehr als zwei Jahren kurz vor acht fast weinend anrief und fragte, ob man ihm die vergessene Schwimmtasche kurz vorbeibringen könnte – da habe ich nicht gesagt: „Nein, Kind, es ist wichtig, dass du lernst, für deine Sachen selbst Verantwortung zu übernehmen, das wird dir eine Lehre sein, das nächste Mal dran zu denken, deine Schwimmsachen mitzunehmen“ – sondern habe mich samt Schwimmtasche aufs Fahrrad gesetzt. Und mich überhaupt nicht helikopternd gefühlt.
Darf ich die Schulhofbeschallung kuratieren?
Was ich aber eigentlich erzählen wollte: Ich hatte neulich so einen Moment des Zweifels, was mein potenzielles Helikoptereltern-Dasein betrifft. Wie so oft beim Elternsein ist es für mich oft schwer, mit der Tatsache klarzukommen, dass manche Sachverhalte je nach Perspektive von einer krassen Kluft getrennt werden. Manchmal denke ich „Meine armen, tollen, selbstständigen Kinder, was die schon alles mitmachen jeden Tag und wie gut sie jeden Tag funktionieren müssen, dafür machen die alles ganz, ganz toll“ und einen Tag später denke ich „Boah, die kriegen alles in den Arsch geblasen und machen trotzdem ständig Terror. Können die nicht einfach mal funktionieren, ohne Terz zu machen?“ Nun ja.
Jedenfalls bekam ich vor einigen Wochen mit, dass der Schulhausmeister, so erzählten es zumindest die Kinder, immer freitags während der Hofpausen den Schulhof mit Musik beschallt, und dass er offenbar auch Musik von Capital Bra auf seiner Schulhof-Playlist hat. Das sechsjährige Kind trällerte begeistert „Cherry Cherry Lady“, und ich nehme stark an, dass es nicht die Version von Modern Talking meinte.
Ich fragte mich: Ist es OK, auf dem Schulhof einer Grundschule, den unter anderen auch fünf- und sechsjährige Erstklässler*innen besiedeln, frauenverachtende und menschenfeindliche Musik abzuspielen? Ist das nun dieses berühmte Helikopter-Eltern-Ding, wenn Eltern sich beschweren, weil auf dem Schulhof unpassende Musik gespielt wird? Von wegen Helikopter-Eltern mischen sich überall ein, wollen alles bestimmen, den Speiseplan in der Mensa, Noten, Umgang mit ihren Kindern, und nun wollen sie auch noch die Pausenhofplaylist kuratieren?
Ist es kleinkariert, zu intervenieren?
Ich haderte. Zum einen bin ich überzeugt davon, dass mein sechsjähriges Kind überhaupt keinen Schaden davontragen würde, wenn es weiterhin von Capital Bra auf dem Schulhof heimgesucht würde, tatsächlich fragte ich mich aber: Muss das sein? Hier ein toller Text von Rike Drust zum Thema. Ich bin total ihrer Meinung, wenn sie schreibt, warum sie gegen ein generelles Verbot dieser Musik ist: „Erstens machen Deutschrap ja nicht nur die da oben, und zweitens wird zu Sexismus auch im Schlager geschunkelt, im Indie gerockt – und sogar ganz ohne Musik sind Anreden wie ,Stück Scheisse‘ und ,altes, grünes Drecksschwein‘ rechtlich völlig okaye Bezeichnungen für eine Politikerin. Da haben wir nun wirklich andere Probleme, und das frauenverachtende Gedickhose im Deutschrap ist nur eines davon.“ Ich glaube, mir ging es irgendwie ums Prinzip: Ich fand es einfach nicht gut, dass jemand wie Capital Bra seine Musik so völlig easy und barrierefrei an hunderte Schüler*innen verteilt bekommt.
Ich schrieb also eine Mail an die Schulleitung, das ist einige Wochen her, und habe nie eine Antwort bekommen. Mein Anliegen begann ich mit: „Ich hoffe, das kommt jetzt nicht Helikoptereltern-mäßig rüber, aber….“ Kurz hatte ich noch überlegt, ob ich vielleicht noch schreiben sollte, dass es wirklich ganz, ganz tollen Rap für Kinder gibt, und ich da gern ein paar Tipps geben könnte, von wegen, man soll doch immer konstruktive Vorschläge machen, wenn man was kritisiert, aber das ging mir dann doch zu weit in Richtung Kuratorinnentätigkeit. Bisher habe ich keine Ahnung, ob sich an der Musikauswahl etwas geändert hat, die Kinder konnten nur schwammig Auskunft geben („Weiß ich doch nicht mehr, was da heute für Musik lief…“). Damit gebe ich die Frage zwischenzeitlich an euch weiter: Hättet ihr die Mail geschrieben?