Wer sind „wir“ als Gesellschaft, was muss sich verändern und wo wollen wir hin? Das sind Fragen, auf die es mit jeder neuen Perspektive auch neue Antworten gibt. In unserer Kolumne „Reboot the System“ gehen ihnen deshalb verschiedene Autor*innen zu unterschiedlichen Themenbereichen nach. Heute mit: Rebecca Maskos
Angestarrtwerden kann anstrengend sein
„Guck mal, so eine kleine Frau!“, höre ich eine piepsige Stimme sagen und ich weiß: Wahrscheinlich kommt gleich ein Kind vorbei und stellt eine Menge Fragen. Das passiert mir mehrmals in der Woche. Mindestens genauso oft blicke ich in faszinierte Kinderaugen, die nicht aufhören können, mich anzustarren. Meine neunzig Zentimeter Körpergröße sind für Kinder ein Mysterium: Ein Mensch, so klein wie ich und doch erwachsen? Noch dazu hat diese kleine Frau dann auch noch einen Rollstuhl. Den kennen viele schon, meist von Oma und Opa. Oft höre ich deshalb auch: „Guck mal, eine kleine Oma!“ Mit Mitte zwanzig fand ich das wenig schmeichelhaft, mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt. So wie an die vielen anderen Fragen von Kindern. Die sind oft überraschend und süß: Warum hast du so kleine Füße? Wann bist du so klein geworden? Kannst du gar nicht laufen, auch nicht wenn du das mal zusammen mit mir ausprobierst?
Nicht alle Kinder sind gleich nett. Da ist das andere Extrem, die – sagen wir es mit Christiane Rösinger – Arschlochkinder. Die bauen sich vor mir auf, zeigen mit dem Finger auf mich und lachen mich aus. Holen andere Kinder zur Verstärkung und laufen hinter mir her. Die gibt es immer seltener, und Erwachsene schreiten dann auch öfter mal ein. Die meisten Kinder machen das mit dem Nachfragen sehr charmant. Sind es Kinder meiner Freund*innen, ist das ohnehin völlig in Ordnung. Manchmal aber sind die Fragen und das Angestarrtwerden auch einfach nur, naja, ein bisschen anstrengend. Vor allem von Kindern, die mir gerade im Supermarkt, im Bus oder im Großraumwagen des ICE begegnen. Nicht immer habe ich gerade die Zeit, Lust und Ruhe, Kindern meinen Körper zu erklären. Manchmal habe ich einfach einen unsozialen Tag, bin müde, gestresst oder ich möchte gerade etwas lesen.
Muss ich wirklich darüberstehen?
Ich weiß – es sind Kinder. Sie können ja nichts dafür. Sie wollen die Welt entdecken. Und ich bin erwachsen und sollte darüberstehen. Doch so erwachsen ich auch bin – das Starren und die Fragen, sie machen etwas mit mir. Die Kinder können es wirklich nicht wissen, und sie machen es nicht bewusst, aber sie machen mich zur „Anderen“. Sie zeigen mir immer wieder aufs Neue, dass ich herausfalle aus der Normalität. Das kann ich mit Humor nehmen, was ich meistens auch tue. Das kann ich als Auftakt für Sensibilisierung sehen und sagen: Menschen sind verschieden, es gibt große und kleine. Was ich nicht kann: Es komplett ausblenden, wenn es mir gerade zu anstrengend ist.
Würde ich das Gleiche mit Erwachsenen erleben – private Fragen von Fremden nach meiner Behinderung, nach Diagnosen, warum ich nicht laufen kann, intensives Anstarren – es wäre ein klares No-Go. Es wäre allgemein akzeptiert, dass ich darüber nicht begeistert bin. Bei Kindern scheint das nicht ganz so klar. Viele finden: Kindern muss man Behinderung erklären, damit sie einen ungezwungen Umgang damit bekommen. Das stimmt auch! Aber: Ist das immer mein Job?
Berührungsängste abbauen ohne Aufdrängen
Klar ist: Kinder wegzuzerren und zu sagen: „Guck da nicht hin!“ ist keine Lösung. Meistens passiert mir aber eher das Gegenteil: Eltern bleiben mit ihren Kindern vor mir stehen, lassen die Kinder machen, ermuntern sie, mir Fragen zu stellen. Oft ist ihnen die eigene Unsicherheit deutlich anzusehen, vielen ist das auch unangenehm, sie sind hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, den Kindern keine Berührungsängste zu vermitteln und gleichzeitig meine Privatsphäre zu wahren. Manche Eltern treten aber auch auf, als hätte ihr Kind ein Recht darauf, meine Behinderung zu erforschen. Bestärkt werden sie durch Debatten in sozialen Medien und Texte von behinderten Aktivist*innen. Dort wird Eltern vorgeschlagen, gemeinsam mit dem Kind die behinderte Person anzusprechen: „Ich weiß nicht, warum der Mann so klein ist. Aber wenn du willst können wir gemeinsam zu ihm gehen und ihn fragen.“ Der nachvollziehbare Vorschlag, ungezwungen und ehrlich mit den Fragen der Kinder umzugehen, kann zum Anspruch an behinderte Menschen führen, jederzeit als Diversity Trainer*in fungieren zu müssen.
Das scheint vor allem in Deutschland ein Trend zu sein. Behinderte Freund*innen, die erst seit kurzem in Deutschland leben, erzählen mir, sie würden nirgendwo so häufig von Kindern angestarrt und ausgefragt wie in Deutschland. Ich selbst merke im Urlaub, dass sich die Situation außerhalb Deutschlands deutlich entspannt. Als einmal in Deutschland ein Kleinkind mit Mutter eine gefühlte Ewigkeit vor mir stehen blieb und zuschaute, wie ich aus dem Auto stieg, war eine meiner Freundinnen dabei. Sie ist in Frankreich aufgewachsen. Fassungslos schüttelte sie den Kopf: Ihre französische Mutter habe es ihr in ihrer Kindheit streng verboten, fremde Menschen anzustarren.
Statt Verbote: Empathie und Respekt
Verbote finde ich alles andere als hilfreich. Empathie und den Respekt vor den Grenzen anderer Menschen hingegen schon. Warum sollen nicht auch Kinder das schon früh lernen? Wenn Kinder einen unverkrampften Umgang mit Behinderung lernen sollen, dann gehört dazu auch, dass Starren und private Fragen Menschen unangenehm sein können – allen Menschen, auch behinderten. Wenn ein Kind einen nichtbehinderten, dicken Mann fragt „Warum bist du so fett?“ – dann ist das vielleicht lustig, aber es wird nicht allgemein erwartet, dass der dicke Mann darauf freundlich antwortet. Auch von einer Frau mit Bart wird möglicherweise nicht immer und überall angenommen, dass sie bereitwillig Kindern ihre Gesichtshaare erklären wird. Körper, die aus der weißen, deutschen, heterosexuellen, nichtbehinderten Norm fallen, erzeugen immer noch viel Erstaunen und Neugier, unter Erwachsenen und Kindern – und der Grad der Sensibilisierung für Rassismus, Sexismus und Ableismus variiert stark. Was in einer Großstadt wie Berlin für Kinder Alltag ist, wird auf dem Land wahrscheinlich mehr Aufsehen erregen und von Eltern unterschiedlich eingeordnet werden.
Sichtbar behinderte Menschen werden gesellschaftlich dabei besonders häufig als „offene Personen“ behandelt, wie Forscher*innen in den Disability Studies es nennen. Sichtbar behinderte Menschen erleben deutlich mehr Eingriffe in ihre Privatsphäre als Nichtbehinderte, Grenzüberschreitungen scheinen legitim: ungewolltes Anfassen, private Fragen, übergriffiges Helfen. Oft wird nicht mit ihnen selbst gesprochen, sondern mit anderen über sie – auch wenn sie direkt daneben stehen.
Ironischerweise haben sie dies mit Kindern gemeinsam: Auch ihnen wird gerne von Fremden mal eben über den Kopf gestreichelt, auch über sie wird oft in der dritten Person gesprochen, obwohl sie direkt daneben stehen und zuhören, auch ihnen nötigen fremde Menschen manchmal unnötig Gespräche auf. Umso wichtiger, dass Kinder lernen, dass man Grenzen schützen darf – nicht nur die der anderen, sondern auch die eigenen.
Keine Spekulationen
Viele Eltern wünschen sich ein klares Rezept für den Umgang mit behinderten Menschen. So werden auch aktivistische Texte von behinderten Menschen (inklusive dieser hier) oft gelesen. Doch behinderte Menschen sind – wie alle Menschen – vielfältig. Statt es als „Pflicht“ zu begreifen, Kinder in Kontakt mit behinderten Menschen zu bringen, können Eltern versuchen, die jeweilige Situation einzuschätzen, genauer hinzuschauen: Passt es für die behinderte Person gerade, angesprochen oder angeschaut zu werden? Schaut die behinderte Person interessiert zum Kind hin, nimmt sie sogar selbst Kontakt auf? Dann sollte man das Kind nicht daran hindern, mit ihr ins Gespräch zu kommen.
Schaut die behinderte Person aber eher gestresst zur Seite oder ignoriert sie das Kind? Dann hat sie vielleicht gerade keine Lust auf Begegnungen mit Fremden. Wenn das Kind weiter fragt, können Eltern ihm die Unterschiedlichkeit von Menschen erklären. Überlegungen zu Diagnosen, Unfällen oder Gendefekten führen dabei eher auf den falschen Weg. Im Gegenteil: Es ist okay, als Elternteil nicht alles zu wissen, auch nicht, warum genau jemand nicht laufen kann oder blind ist. Was zählt, ist die Botschaft: Menschen sind verschieden. Manche verstehen auch als Erwachsene Dinge nicht so schnell, manche nutzen einen Rollstuhl, manche können nichts sehen, manche nichts hören. So ist das. Und das ist gut so.
Reboot the System“ ist eine Kolumne von verschiedenen Autor*innen im Wechsel. Mit dabei: Rebecca Maskos (inklusive Gesellschaft), Sara Hassan (Sexismus), Josephine Apraku (Diskriminierungskritik), Elina Penner (Familienthemen), Natalie Grams (Gesundheit / Homöopathie) und Merve Kayikci (Lebensmittelindustrie).