Foto: Uwe Dettmar

„Momentan werden Frauen weder vom Berufsbild der Ingenieur*in angesprochen, noch werden ihre Bedürfnisse bei der Entwicklung neuer Techniken mitgedacht“

Ingenieur*innenwesen – ein Berufsfeld für Männer? Von wegen! Zeit, die Vorurteile über diesen Beruf über Bord zu werfen. Was den Ingenieur*innen-Job wirklich ausmacht, erzählt uns die Professorin Dr.-Ing. Kira Kastell – und sie erklärt, warum sie sich eine Vorabendserie über ihren Beruf wünscht.

„Momentan werden Frauen nicht mitgedacht“

Kreativität, Teamwork und Innovationen für den Alltag – an welchen Beruf denkt ihr? Wahrscheinlich nicht unbedingt an den einer Ingenieurin. Dabei steckt die Arbeit von Ingenieur*innen in so vielen Dingen, die wir täglich benutzen. Das Ingenieur*innenwesen entspricht bis heute leider dem, was man gemeinhin als „Männerdomäne“ bezeichnet: Nur ca. 18 Prozent aller Ingenieur*innen sind Frauen. Wieso ist es so wichtig, dass die Zahl steigt? Und wie sieht der Ingenieur*innen-Beruf abseits von Klischees aus?

Diese und viele weitere Fragen haben wir der Professorin Dr.-Ing. Kira Kastell gestellt. Sie machte ihren Abschluss im Bereich Nachrichtentechnik, Telekommunikation und Informationstechnik, anschließend arbeitete sie als Projektingenieurin. Heute unterrichtet sie an der Frankfurt University of Applied Sciences. Zudem ist sie Vorsitzende des VDI-Netzwerks Frauen im Ingenieurberuf (Verein Deutscher Ingenieure e.V.), welches Frauen verbindet und die Möglichkeit bietet, sich gegenseitig zu unterstützen und auszutauschen.

Sie hat uns erzählt, was den Ingenieur*innenberuf wirklich ausmacht, warum er eben nicht nur für Männer geeignet ist, ob reine Frauenstudiengänge sinnvoll wären und warum der demographische Wandel Frauen zugute kommen kann.

Mehr als Mathe und Physik

„Viele stellen sich unter der Berufsbezeichung Ingenieur*in einen Mann vor, der irgendwo im Keller mit einem Lötkolben oder hinter seinem Computer versteckt arbeitet und keinen Kontakt zur Außenwelt hat. Doch ganz im Gegenteil ist der Job eines*r Ingenieur*in ein kreativer Beruf, bei dem man sehr viel mit Menschen arbeitet. Sei es mit Kund*innen oder dem eigenen Team, um Ideen zu entwickeln und sie voranzubringen. Hinter Klischee-Vorstellungen wie, ,das ist alles nur Mathe und Physik‘ kommen so viele Aspekte des Berufes zu kurz.

Abseits der typischen Stellenbeschreibungen würde ich den Beruf als sehr vielseitig beschreiben, da man in den verschiedensten Bereichen arbeiten kann: Bauingenieur*innenwesen, Maschinenbau, Elektrotechnik, Chemieingenieur*innenwesen, Verfahrenstechnik und viele mehr. Natürlich muss man hier mit Zahlen umgehen können und ein Verständnis für Physik haben, aber wichtig sind auch Neugier, Kreativität und Teamfähigkeit. Man braucht auch nicht unbedingt einen Mathe-Leistungskurs belegt zu haben – auch wenn da jetzt vielleicht ein paar Kolleg*innen die Luft anhalten. Viel wichtiger ist es, Interesse am Thema zu haben. Defizite können an der Hochschule mit vielen Unterstützungsmöglichkeiten aufgeholt werden. Als Ingenieur*in hat man ein sehr vielfältiges Feld, in dem man sich gut weiterentwickeln und sogar sehr schnell in die benachbarten Berufsfelder hineinfinden kann. Man muss also nicht heute wissen, was man die nächsten 40 Jahre machen möchte.

Nicht alle werden mitgedacht

Ich finde an dem Beruf die Vorstellung besonders spannend, ganz vorne an neuen technischen Entwicklungen mitwirken zu können. Ich kann tatsächlich den Alltag anderer Leute mitgestalten – denn ganz viele Dinge, im Grunde alles, was einen Stecker oder Batterien hat, hat mit Elektrotechnik zu tun. Ingenieur*innen machen sich Gedanken, wie man etwas in der Mobilität oder im Haushalt verbessern könnte und setzen diese Ideen um.

Ich forsche im Bereich der Standardisierung, das heißt, ich mache mir Gedanken, wie unterschiedliche drahtlose Netze wie GSM, UMTS, LTE und 5G, aber auch WLAN oder Bluetooth nahtlos zusammenwirken. Im Idealfall findet mein Endgerät automatisch das für mich beste Netz und leitet mich, ohne dass ich es merke oder etwas tun muss, in das beste verfügbare Netz, während ich mich bewege. Das ist nicht ganz einfach, da zum Beispiel ein WLAN über ein Passwort geschützt sein kann, ein Mobilfunknetz meistens interne Authentisierungsmerkmale verwendet und auch die Reichweiten, Datenraten und die Protokolle, also die internen Sprachen und Abläufe sehr unterschiedlich sein können. Ich habe die verschiedenen Standards analysiert, Unterschiede beschrieben und dann Kriterien sowie Protokolle dazu entwickelt und in Simulationen getestet. Außerdem wollte ich den Nutzer*innen die Möglichkeit geben, Präferenzen bei den Kriterien für die Auswahl zu setzten, also zum Beispiel Mindestdatenrate, Preis, Sicherheitsniveau etc. Die Ergebnisse bezüglich des Zusammenwirkens finden sich nun zunehmend in den weltweit abgestimmten neuen Mobilfunkstandards wieder. Bei den Nutzendenpräferenzen sind wir leider noch nicht so weit, aber wenigstens gibt es immer mehr Parameter, die in allen unterschiedlichen Netzen gemessen werden. Das ist die Grundlage, um die Netze entsprechend der Präferenzen zu vergleichen.

Aus meiner Sicht ist es wichtig, dass gerade Frauen eigene Ideen in den Bereich einbringen und an Innovationen mitarbeiten. Momentan werden Frauen weder vom Berufsbild angesprochen, noch werden ihre Bedürfnisse bei der Entwicklung neuer Techniken mitgedacht. Ein griffigeres Beispiel als Mobilfunknetze sind Smartphones: Sie sind inzwischen so groß, dass sie bei den allerwenigsten Frauen in die Hosentasche passen. Während Männer das Smartphone ganz einfach am Körper bei sich tragen und so die Fitnessfunktionen nutzen können, haben Frauen das Handy in der Handtasche liegen. Hier zeigt sich, dass eine rein männliche Entwicklergruppe nicht mitdenkt, dass Frauen andere Kleidung, Größen oder Ansprüche haben. Deswegen brauchen wir mehr Frauen, die bei der Ideenentwicklung ihr Nutzungsverhalten einbringen können.

Diverse Teams erzielen bessere Ergebnisse

Insgesamt müssen Teams diverser werden, nicht nur auf Frauen bezogen. Denn: Je diverser ein Team aufgestellt ist, desto natürlicher werden unterschiedliche Ansprüche mitgedacht. So bringen viele verschiedene Menschen ihre jeweiligen Gedanken und Perspektiven ein. Wenn ich bei der Teamzusammensetzung schon auf Diversität achte, muss sich niemand die Bedürfnisse anderer vorstellen, das ist nämlich extrem schwierig – sondern die Bedürfnisse werden automatisch von Mitgliedern des Teams mitgedacht.

Ich glaube, dieser Grundgedanke ist auch schon bei vielen Unternehmen angekommen. Viele suchen aktiv nach Frauen, weil sie wissen, dass diverse Teams den Erfolg eines Unternehmens steigern. Das haben Studien längst bestätigt.

Unternehmen erkennen auch, dass sie sich aufgrund des demografischen Wandels für Frauen attraktiver darstellen müssen. Denn wenn wir weniger Nachwuchs haben, aus dem sie rekrutieren können, dann müssen sich Unternehmen mehr auf Frauen konzentrieren und auch für sie attraktiv werden. Das bedeutet zum Beispiel, dass sie eine Unternehmenskultur entwickeln müssen, die offen dafür ist, dass Frauen bei ihnen Karriere machen können. Dabei begeistert man am besten mit echten Beispielen: Frauen, die bereits bei ihnen arbeiten und angemessen dargestellt werden, beziehungsweise überhaupt in der Kommunikation vorkommen.

Barrieren beim ersten Karriereschritt

Viele Hochschulen legen großen Wert auf Vielfalt. Wir haben viele internationale Studierende, sind sehr interkulturell aufgestellt und ich achte natürlich darauf, dass ich mit meinen Inhalten alle Geschlechter anspreche.

Manche Hochschulen bieten reine Frauenstudiengänge in den MINT-Fächern an. Sie bieten also exakt die gleichen Inhalte, aber nur Frauen werden zugelassen und erst in höheren Semestern mit männlichen Studienkollegen zusammen unterrichtet. Darin sehe ich Vor- und Nachteile: Ich möchte nicht bestreiten, dass Frauen sich in einer rein weiblichen Gruppe womöglich anders verhalten, stärker einbringen oder gewisse Hemmungen verlieren. Nichtsdestotrotz ist am Ende, wenn es in den Berufsalltag geht, die Mischung wichtig. Denn auch andersherum kann ein reines Frauenteam nicht das Nutzungsverhalten und die Bedürfnisse von Männern mitdenken. Aber: Um in das Thema reinzukommen und um Selbstbewusstsein zu tanken, können Frauenstudiengänge durchaus hilfreich sein und eine gute Chance bieten.

Ich habe den Eindruck, dass Frauen auch mit männlichen Kommilitonen von Beginn an gut zusammenarbeiten. Die gefühlte Barriere kommt oft erst später, wenn Frauen den ersten Karriereschritt machen möchten. Der Einstieg in den Beruf ist einfach, weil Unternehmen froh sind, Stellen überhaupt besetzen zu können. Anders sieht es aus, wenn man auf die Beförderungen von Frauen blickt und darauf, wie wenige in Führungspositionen aufsteigen. Unternehmen sollten sich außerdem fragen, ob sie mit ihren Formulierungen in Stellenausschreibungen auch wirklich alle ansprechen.

Nur langsam mehr Frauen

Trotz der hohen männlichen Beschäftigungszahlen ist der Beruf nicht nur etwas für Männer. Diesem Schubladendenken kann man, so glaube ich, am besten durch echte Beispiele gegensteuern. Denn an sichtbare Beispiele glaube ich doch viel mehr, als wenn ich in einer Stellenausschreibung nur die Erwähnung sehe, dass sich das Unternehmen über Bewerberinnen freuen würde. Das mag ja stimmen. Viel ermutigender ist aber doch, wenn ich sehe, dass es dort Frauen gibt, die tatsächlich weitergekommen sind. Das haben manche Unternehmen und Hochschulen schon erkannt, doch das Problem des Schubladendenkens ist ein gesellschaftliches. Es ist so tief verankert, dass wir viele Begriffe und dadurch eben auch Berufe männlich konnotieren. Zum Beispiel – auch wenn das vielleicht nicht böse gemeint ist – wird man als Frau immer noch gefragt: ,Wow, Elektrotechnik, ist das nicht schwer?‘. Niemand würde das einen Mann fragen, aber viele Frauen fragen sich dann natürlich selbst, ob sie sich ein ,schweres‘ Fach antun sollen. So lange die Umwelt uns spiegelt, dass es exotisch und seltsam sei, als Frau etwas mit Technik zu studieren, so lange tragen Frauen dieses Wissen mit sich herum und das beeinflusst nunmal ihre Berufsentscheidung.

Die Zahl der Frauen im Ingenieur*innenberuf steigt zwar, aber leider nur im Bereich hinter dem Komma. Da wünsche ich mir manchmal eine Vorabendserie, in der eine smarte Ingenieurin die Hauptrolle spielt und die Klischees in dem Berufsfeld aufbricht. Ähnlich wie bei den CSI/CIS-Serien, die dafür sorgten, dass der Beruf des*r forensischen Patholog*in auf einmal viel Beachtung fand. Auf so eine einfache Art könnte man den Beruf zeigen, wie er wirklich ist und die Zielgruppe ansprechen – auch, weil eine Doku über das Berufsleben eines*r Ingenieur*in nicht unbedingt das ist, was Schüler*innen sich voller Begeisterung anschauen. Leider ist mir für so eine Serie noch nicht der richtige Plot eingefallen. Aber das ist der Punkt, an dem wir noch viel stärker arbeiten müssen: Wie bekomme ich mein geniales Berufsfeld weg vom Klischee und spannend vermittelt?“

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