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Dr. Kira Marrs: „Digitalisierung und Gendergerechtigkeit müssen zusammen gedacht werden“

Dr. Kira Marrs ist Wissenschaftlerin am ISF München und befasst sich mit dem digitalen Umbruch von Wirtschaft und Arbeit. Sie forscht speziell zum Thema Gendergerechtigkeit in der Arbeitswelt 4.0. Wir haben uns mit ihr unterhalten.

Gendergerechtigkeit in der Arbeit 4.0

Dr. Kira Marrs ist Wissenschaftlerin am Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung in München. Im Zuge ihrer Forschung beschäftigt sie sich als Schwerpunkt mit dem digitalen Umbruch von Wirtschaft und Arbeit. Ein besonderes Augenmerk legt sie mir Ihrem Team auf die Förderung der Entwicklungschancen und Karriere von Frauen in der digitalen Arbeitswelt.

Am 17. Mai wurde Dr. Kira Marrs, zusammen mit anderen inspirierenden Frauen, in Berlin für ihr Engagement mit dem 25 Frauen Award von EDITION F ausgezeichnet. Sie ist eine der Frauen, die mit ihrer Stimme unsere Gesellschaft bewegen.

Im Interview erzählt sie, welche Chancen die digitale Transformation für Frauen bietet. Außerdem spricht sie darüber, warum es nicht klug ist „Digitalisierung und Automatisierung“ gleichzusetzen und erklärt, warum es unerlässlich ist, dass wir Digitalisierung und Gendergerechtigkeit von Anfang an zusammen denken.

Sie betonen immer wieder, dass Frauen jetzt eine tragende Rolle im digitalen Umbruch einnehmen müssen. Wenn man sich jetzt aber die Führungsetagen der größten Digital und IT-Unternehmen, wie Google, Facebook und Co. anschaut, dann wird klar, dass die Szene vor allem männlich ist. Haben wir den Zeitpunkt nicht vielleicht schon verpasst?

„Wir haben ihn nicht verpasst, aber wir müssen uns fragen, ob wir mit Blick auf die Entwicklungs- und Karrierechancen von Frauen in der digitalen Transformation auf dem richtigen Weg sind. Ich bin da erst einmal skeptisch. In Deutschland gilt nach wie vor ,Digitalisierung First, Gendergerechtigkeit Second’. Es ist aber wichtig, beides von Anfang an zusammenzudenken. Um ein Beispiel zu geben: Vor kurzem war ich auf einer Konferenz zum Thema Frauen in der digitalen Transformation und eine Expertin hat hier in ihrer Rede sehr detailliert den Weg ihres Unternehmens in die digitale Zukunft dargestellt. Dann hat sie einen gedanklichen Schlussstrich gezogen und gesagt, wenn wir das alles geschafft haben, dann überlegen wir uns, was Digitalisierung für Diversity bedeutet. Ich halte diese Vorgehensweise für einen Fehler. Denn wir wissen, dass der Weg in eine gendergerechte Arbeitswelt kein Selbstläufer ist. Deshalb sind in deutschen Unternehmen nur sehr wenige Frauen in Führungspositionen vertreten.

Wir sollten also nicht erst abwarten, bis sich neue Strukturen herausbilden, die wir dann mühsam im Nachgang versuchen zu reparieren. Stattdessen sollten wir den aktuellen Neuerfindungsprozess der Unternehmen nutzen, um mit den alten Strukturen und Kulturen auch die alten geschlechtsspezifischen Begrenzungen aufzubrechen. Dazu müssen wir Frauen zu Gestaltenden der Digitalisierung und Gendergerechtigkeit zum integralen Bestandteil der aktuellen Transformationsprozesse machen.“

Müsste die Politik sich einmischen und die nötigen Rahmenbedingungen dafür schaffen?

„Ich halte eine Quote für Aufsichtsräte und Vorstände für wichtig, wenn wir auf absehbare Zeit mehr Frauen in Verantwortung wollen. Damit wird nicht nur der gesellschaftliche Anspruch auf eine gerechte Teilhabe signalisiert. Eine gesetzlich geregelte Quote hält vor allem die Unternehmen unter Druck, sich mit Blick auf die Karrierechancen von Frauen zu engagieren. Zugleich ist aber klar, dass eine Quote bei weitem nicht genügt. Das zeigt der Blick in die 100 größten börsennotierten Unternehmen, wo die seit 2016 geltende Frauenquote von 30 Prozent für Aufsichtsräte zwar erfüllt wurde. Allerdings stellte sich der erhoffte Erfolg für Frauenkarrieren im Rest des Unternehmens nicht ein. Das heißt eine Quote ohne strukturelle Veränderungen in Unternehmen, wird die Karrierechancen von Frauen nicht nachhaltig verbessern. Deshalb ist Gestaltung in den Unternehmen so entscheidend. Ein guter Indikator dafür ist zum Beispiel, ob Führungskräfte in Teilzeit arbeiten.

Weitere Stellschrauben sind die Versachlichung und Professionalisierung der Auswahlverfahren oder die systematische Ermöglichung ,später Karrieren’, also eines lebensphasensensibles Karrierekonzepts, das eine berufliche Weiterentwicklung auch nach der Familienphase ermöglicht. Das ist bekannt und müsste vielfach in der Fläche schlichtweg umgesetzt werden. Das Rad hat sich aber in der Zwischenzeit weitergedreht und die entscheidende Frage ist jetzt: Wie verändern sich diese bewährten Stellschrauben im Kontext der Digitalisierung und wo liegen neue Chancen für eine gendergerechte Gestaltung? Wo liegen aber auch neue Risiken?

Gelingt es, die Digitalisierung für mehr individuelle Zeitsouveränität zu nutzen oder läuft es gegenteilig in Richtung einer Unkultur permanenter Verfügbarkeit, von der wir wissen, dass sie neben der Teilzeitfalle das wichtigste Karrierehemmnis für die berufliche Entwicklung von Frauen ist. Es kommt deshalb darauf an die Digitalisierung im Sinne von Frauen zu gestalten.“

Es scheint, als würden viele Unternehmen ihre alten Strukturen auch in die neue, digitale Arbeitswelt tragen.

„Man sollte aber nicht vergessen, dass die meisten Unternehmen mit Blick auf den digitalen Umbruchprozess vor einer gigantischen Herausforderung stehen. Das ist nicht einfach. Statt das Bestehende immer weiter zu optimieren, müssen Unternehmen heute ihre vertrauten Pfade verlassen. Anders als die Startups im Silicon Valley können sie dabei in Deutschland kaum auf der ,grünen Wiese’ beginnen. In Deutschland gibt es Unternehmen wie Bosch oder Siemens mit einer über hundertjährigen Firmentradition. Sie können auf eine lange Erfolgsgeschichte zurückblicken und verfügen deshalb über gewachsene Strukturen, haben gefestigte Kundenbeziehungen, Organisationsroutinen und Arbeitsprozesse. Konkret geht es also darum, einen grundlegenden Umbruch in historisch gewachsenen Strukturen zu bewältigen.

Unternehmen müssen lernen, Neuland zu gestalten und dabei müssen sie die Menschen mitnehmen. Denn Digitalisierung ist ja weit mehr als Technik. Es geht um neue Geschäftsmodelle, Wertschöpfungssysteme und neue Formen der Organisation von Arbeit. Das alles zu Ende gedacht geht es um eine völlig neue Unternehmenskultur. In dieser Umbruchsituation beobachten wir zwei Lager: Unternehmen, die versuchen sich grundlegend neu aufzustellen und neue Wege suchen und andere, die zwar die strategischen Auswirkungen der digitalen Transformation erkennen, aber versuchen das Ganze in den bisherigen Strukturen zu bewältigen.“

Und mit Blick auf die Frage der Gendergerechtigkeit in der Digitalisierung?

„Wie gesagt, der Fokus in den Unternehmen liegt auf der Bewältigung des digitalen Transformationsprozesses, und zwar vor allem mit Blick auf die Technikseite. Dementsprechend findet ein Umdenken vor allem vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels und des ,War for Talents’ im Hightech-Bereich statt. Um den digitalen Wandel zu bewältigen setzen Unternehmen hier verstärkt auf weibliche Absolventinnen und Talente. Und um diese zu gewinnen  – das ist den Unternehmen klar – müssen sie sich zeitgemäß aufstellen und mit attraktiven Arbeitsbedingungen punkten, so dass diese hochqualifizierten Frauen für sich auch gute Entwicklungsmöglichkeiten und Entfaltungschancen sehen.“

Sie sagen, dass im Zuge der Digitalisierung „Soft Skills zu Hard Skills“ werden. Können Sie das näher erläutern? Inwiefern ist das für Frauen ein Vorteil?

„Mit der Digitalisierung bekommt kollaboratives und vernetztes Arbeiten einen ganz neuen Stellenwert in den Unternehmen. Als Antwort auf eine zentrale Herausforderung der Digitalisierung: Wie können wir die zunehmende Komplexität und Geschwindigkeit bewältigen. Produkte und Entwicklungsprozesse werden immer komplexer und auch Innovationszyklen verkürzen sich massiv. Damit geraten Unternehmen mit ihren traditionellen Strukturen schnell an ihre Grenzen. Sie setzen deshalb vermehrt auf agile, interdisziplinäre Teams.

Und jetzt komme ich auf die eigentliche Frage zurück: Denn damit verändern sich auch die Anforderungen an Beschäftigte ganz erheblich. Wo einzelne Expert*innen nicht mehr in ihrem ,Silo’ sitzen, sondern Teil eines interdisziplinären Teams sind, wird zum Beispiel der kommunikative Austausch von Wissen unentbehrlich. Immer wichtiger wird dabei die Fähigkeit, dass man seine eigene Expertise auch vermitteln kann. Mal ganz zugespitzt formuliert: Fachlichkeit wird ohne die Fähigkeit zur Kommunikation wertlos. In einer digitalen Arbeitswelt erhalten so kommunikative, soziale und integrative Fähigkeiten eine entscheidende Aufwertung. Und zwar nicht als ,weiche Faktoren’, sondern als essenziell für die kollektive Intelligenz interdisziplinärer Teams. Und es sind gerade diese Kompetenzen, die bei Frauen in der Vergangenheit stärker adressiert wurden als bei Männern. Diese können nun zum Türöffner für Frauen werden, beispielsweise in hochqualifizierte technische Bereiche. Zugleich entstehen aber in diesem Kontext auch ganz neue Rollen und Tätigkeitsprofile.“

Könnten Sie ein Beispiel dafür nennen?

„Community-Manager*innen sind ein gutes Beispiel für neue Tätigkeitsprofile, die mit der Digitalisierung entstehen. In den Unternehmen, die wir für unsere Forschung besucht haben, waren diese Posten eigentlich fast alle mit Frauen besetzt. Mit Blick auf gemeinsames und vernetztes Arbeiten gewinnt dieses Tätigkeitsprofil zunehmend an Bedeutung. Fachliche Communitys in Unternehmen strukturieren Kommunikation und Zusammenarbeit effektiv, sie treiben Innovationen mit voran. Das alles will gemanagt und orchestriert werden. Oftmals machen Frauen das noch neben ihrem normalen Job. Hier können und müssen Unternehmen jetzt gezielt Entwicklungs- und Karrieremöglichkeiten schaffen.“

Sie sagen auch, dass viele Menschen in Deutschland „Digitalisierung mit Automatisierung“ gleichsetzen. In vielen Branchen ist die Sicht auf die Arbeitswelt 4.0 deshalb negativ geprägt.

„Das führt zu der Frage, was denn eigentlich Digitalisierung ist und, wie wir in Deutschland als einem Wirtschaftsstandort, der noch immer stark von der industriellen Fertigung geprägt ist, Digitalisierung denken. Digitalisierung heißt vor allem, dass durch das Internet ein globaler Informationsraum entstanden ist, in dem Milliarden von Menschen zueinander in Beziehung treten können. Es ist ein Ort, an dem sie Informationen austauschen und Wissen teilen, das über sämtliche Lebens- und Arbeitsbereiche hinweg geht. Ich hatte ja eben schon betont: Primär geht es bei der Digitalisierung nicht um Technik, sondern um Kommunikation, um Miteinander, um Ausprobieren und um neue Ideen. Diese Aspekte, die die Digitalisierung vor allem für jüngere Generationen so attraktiv macht, werden in der Debatte jedoch häufig ausgeblendet.

Zur Wahrheit gehört natürlich auch, dass die Digitalisierung ganz neue Rationalisierungs- und Automatisierungspotenziale birgt – eine Entwicklung, die längst über die industrielle Fertigung hinausgeht und zunehmend auch in die Kopfarbeit vordringt. Was das speziell für Frauen bedeutet sehen wir in den Büros und Verwaltungen – alles relevante Bereiche von Frauenerwerbstätigkeit. Hier gibt es ganz viele Tätigkeiten, die gerade jetzt an der Schnittstelle von analogen zu digitalen Prozessen von der Digitalisierung bedroht sind. Das sind vor allem Routinetätigkeiten.

Es entstehen aber gleichzeitig ganz neue Tätigkeitsprofile, die neue Entwicklungs- und Karrieremöglichkeiten bieten, die wir aber definieren und ausgestalten müssen. Die Digitalisierung bietet also auch Potenziale, die in der Öffentlichkeit oftmals überhaupt nicht wahrgenommen werden. Das muss sich ändern, weil dadurch letztendlich jegliche Handlungsfähigkeit verloren geht. Wenn wir die Digitalisierung nur technizistisch betrachten, dann können Menschen entweder dafür oder dagegen sein, aber sie können sie nicht gestalten.“

Welche Chancen bietet die Digitalisierung speziell für Frauen in potenziellen Führungspositionen?

„Momentan wird viel über die Zukunft von Führung gesprochen. Auch in den Unternehmen ist die Neugestaltung von Führung ein heißes Eisen und steht ganz oben auf der Agenda. Wir beobachten, dass Führung und Zusammenarbeit sich ganz grundsätzlich verändern und sich damit neue Möglichkeitsräume für Frauen öffnen. Alte von hierarchischem Denken geprägte Managementkulturen sind in der neuen kollaborativen, vernetzten Arbeitswelt, ein Auslaufmodell. Hier kommen wir wieder zum Thema Agilität. Mit der Etablierung agiler Arbeitsformen sind statt Command and Control Team-Empowerment und soziale Aushandlungsprozesse gefragt. Das lässt Spielraum für neue Führungsrollen und innovative Konzepte wie die geteilte Führung. Führungskräfte müssen also lernen ein Team von Expert*innen zu coachen und zu empowern.

Insgesamt heißt das, dass Führung deutlich attraktiver für Frauen werden kann, weil sie teambasiert ist und auf dem Kollektiv aufbaut. Unsere Forschung hat sehr konsequent gezeigt, dass Frauen genau solche Führungsrollen suchen. Weil sie sich mit dem alten Leitbild des durchsetzungsstarken Machers in einer aggressiven Managementkultur kaum identifizieren können. Insofern bietet die Digitalisierung hier neue Chancen. Interessanterweise sagen auch sehr viele jüngere Männer, dass das nicht die Führung sei, die sie möchten.“

Oft heißt es, Deutschland sei gerade dabei die Digitalisierung zu verschlafen und das uns dies in ein paar Jahren teuer zu stehen kommen wird. Wo stehen wir Ihrer Meinung nach im internationalen, europäischen Vergleich?

„Vereinfacht betrachtet könnte man sich fragen, wo die größten Internetkonzerne sitzen: allesamt nicht in Deutschland, allesamt nicht in Europa, sondern vor allem in den USA oder China. Aber auch hier ist es wichtig, die Dinge differenzierter zu sehen. Die Digitalisierung hat die Wirtschaft in Deutschland und Europa mit einer enormen Dynamik erreicht. Unternehmen diskutieren auf allen Ebenen, von den Strategen bis zu den Beschäftigten, was die digitale Transformation für das eigene Geschäftsmodell bedeutet. Das war in Deutschland lange Zeit nicht der Fall. Digitalisierung war im Prinzip ein Nischenthema. Das hat sich stark geändert. Die Frage, die sich jetzt stellt, ist aber nicht nur ob und welche Unternehmen in Deutschland wirklich die strategische Bedeutung der digitalen Transformation begriffen haben. Vielmehr ist die Digitalisierung ein Lernprozess, der über die Wirtschaft hinaus die gesamte Gesellschaft betrifft. Wie müssen uns also auch fragen: Gelingt es uns auf gesamtgesellschaftlicher Ebene eine neue Leitorientierung zu entwickeln, die die Menschen als Gestalter*innen mitnimmt und ihnen Lust auf Zukunft macht?

Es gibt generell wenig geschlechterbezogene Forschung zur Digitalisierung. Sie selbst haben Ende 2018 das Projekt #WomenDigit gestartet. Was sind Ihre Ziele und wie gehen Sie dabei vor?

„Wir entwickeln Positiventwürfe für die neue Arbeitswelt und denken dabei Gendergerechtigkeit und Digitalisierung konsequent zusammen. Unser Ziel ist es, Frauen zu Gestalterinnen des digitalen Aufbruchs in den Unternehmen zu machen. Dazu arbeiten wir mit Dax-30-Unternehmen wie Siemens und VW aber auch mit mittelständischen Unternehmen wie Gothaer Systems aber auch mit innovativen Startups wie RatePay zusammen. Methodisch setzen wir auf ein neues, in unserem Forschungsteam entwickeltes Instrument: Betriebliche Praxislaboratorien, die beteiligungsorientiert, agil und sozialpartnerschaftlich arbeiten. In diesen Labs entwickeln wir mit den Akteur*innen vor Ort in den Betrieben neue Konzepte für die digitale Arbeitswelt. Die Anwendungsbeispiele reichen von der Einführung neuer digitaler Tools über neue Formen der Arbeitsorganisation bis hin zur Entwicklung neuer Führungskonzepte. Wichtig ist: Die Mitglieder der Lab-Teams identifizieren die Herausforderungen und Handlungsfelder. Sie setzen also selbst die Themen. Dies bedeutet eine völlig neue Form der Gestaltung aus der Mitte der Belegschaft heraus. Denn wir sind überzeugt: Wie die digitale Arbeitswelt am Ende aussieht, entscheidet sich im Herzen der Unternehmen.

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