Eva Lohmann war ein introvertiertes Kind. Was das für sie bedeutete und wie es ist, Jahrzehnte später als introvertierte Mutter den Alltag zu meistern, erzählt sie in ihrem Buch „So schön still“ – und als Vorgeschmack bei EDITION F.
Einmal, es ist jetzt ein paar Jahre her, lag ich im Bett, die Schlafzimmertür hatte ich zugemacht, um genau zu sein hatte ich sie sogar abgeschlossen. Meine Tochter und ihren Vater hatte ich gebeten, mich ein bisschen in Ruhe zu lassen, allein zu spielen. Sie hatten eigentlich keine Lust gehabt, auf mich zu verzichten – aber trotzdem eingewilligt. Leider war der einzige Platz, der ihnen für ihr Spiel einfiel, genau vor der Schlafzimmertür. Und sie spielten dort laut, dass sie auch genauso gut im Schlafzimmer hätten spielen können.
Was war falsch mit mir?
Ich steckte mir ein paar extra für diesen Zweck bereitgelegte Ohrstöpsel rein. Ich hörte sie immer noch. Ich legte mich auf die Seite und presste mir ein Kissen aufs Ohr. Immer noch. Mehr konnte ich nicht tun. Ich starrte aus meinem Bett heraus auf den circa 5-Zentimeter-Altbau-Spalt unter unserer Schlafzimmertür und stellte mir vor, wie ich diesen Spalt sorgfältig und präzise mit Bauschaum versiegelte. Und dann direkt die ganze Tür. Zuverlässiger, dicker Bauschaum, der mich von den beiden isolierte. Ich schämte mich für diese Vorstellung. Was war verdammt noch mal falsch mit mir, dass ich meine eigene Familie so oft nicht ertragen konnte, noch nicht einmal hören wollte?
„Caring for your Introvert“
Ungefähr zur gleichen Zeit las ich im “the Atlantic” einen Text mit dem Titel „Caring for your Introvert“. Der Autor Jonathan Rauch beschrieb darin, wie introvertierte Menschen funktionieren – und warum das Alleinsein für sie so wichtig ist. Der Text war wie eine Offenbarung für mich. Und anscheinend für viele andere auch. Jahre später jedenfalls berichtete Rauch, dass er nie in seinem Leben wieder so viel Leserbriefe voller Dank zu einem einzigen Artikel bekommen hat.
Die wichtigste Erkenntnis, die ich über introvertierte und extrovertierte Menschen seitdem gewonnen habe, ist die Sache mit der Energie. Wenn Introvertierte mit anderen Menschen zusammenkommen, sind sie automatisch damit beschäftigt, Eindrücke aufzunehmen und zu verarbeiten – und verlieren dabei Energie. Diese gewinnen sie erst durch das Alleinsein wieder. Sie tanken auf, wenn sie sich nur auf sich selbst konzentrieren können. Extrovertierte hingegen gewinnen Energie, wenn sie ihre Aufmerksamkeit nach außen richten. Sie schöpfen Kraft aus der Anwesenheit anderer Menschen und dem Austausch mit ihnen. Wenn sie allein sind, verlieren sie Energie.
„Diese Sehnsucht nach Einsamkeit ist wie Durst. Ich kann sie eine Zeitlang unterdrücken, aber ab einem gewissen Punkt bin ich einfach gezwungen, ihr nachzugeben.“
Natürlich ist niemand nur introvertiert oder nur extrovertiert. Die Sache ist als Spektrum zu sehen. Aber ich schätze, in diesem Spektrum stehe ich doch ziemlich am äußersten Rand der Introvertiertheit. Das zu verstehen, war damals eine große Erleichterung. Nicht der einzige Mensch auf der Welt zu sein, dem das Alleinsein so viel bedeutet. Und irgendwie auch nichts dagegen tun zu können.
Die Sache war leider: Der Rest meiner Familie ist … sagen wir mal … zumindest extrovertierter als ich. Meine sechsjährige Tochter jedenfalls könnte den ganzen Tag von früh bis spät Dinge unternehmen, mit Menschen zusammen sein und Party machen. Rückzugsräume? Ruhezeiten? Brauchte sie nicht. Das clashte im Alltag natürlich mit meinen Bedürfnissen. Oft versuchte ich, mich zurückzunehmen. Und oft funktionierte das auch. Aber immer nur bis zu einem gewissen Punkt. Dann machte mir mein Körper, meine Seele, meine Psyche einen Strich durch die Rechnung. Manchmal dachte ich: Diese Sehnsucht nach Einsamkeit ist wie Durst. Ich kann sie eine Zeitlang unterdrücken, aber ab einem gewissen Punkt bin ich einfach gezwungen, ihr nachzugeben.
Termine mit mir selbst
Ich versuchte also, mehr Zeit für mich in den Alltag zu integrieren. Wer Familie und kleine Kinder hat, der weiß: Man muss um jede freie Stunde kämpfen. Das tat ich – und sehnte mich nach so viel mehr. Manchmal, wenn ich mehr brauchte, mich aber nicht zu fragen traute, behauptete ich, ich hätte einen Termin. Dass der Termin eigentlich mit mir selbst war und dass ich ihn auf einem Friedhof verbrachte, hat nie jemand bemerkt. Aber je mehr ich mich mit dem Thema Introvertiertheit beschäftigte, je mehr ich meine Bedürfnisse verstand, desto weniger Lust hatte ich, ein schlechtes Gewissen für diese Bedürfnisse zu haben. Denn wann immer ich Zeit für mich einforderte, war da diese Angst, wie sich das für meine Familie anfühlen musste. War es wirklich verkraftbar für ein kleines Kind, wenn es gesagt bekam: „Mama will grad lieber allein sein als mit dir zusammen“?
„Ich bin momentan das wichtigste Vorbild meiner Tochter. Wenn sie sieht, dass ich Grenzen habe, diese Grenzen kommuniziere und verteidige, prägt sie das.“
Es war die Arbeit an meinem Buch, die mir half. Dort fordere ich Eltern auf, ihre introvertierten Kinder um Himmels Willen nicht für ihre Art zu kritisieren, ihnen ihre individuellen Bedürfnisse zuzugestehen, ihnen die Ruhe zu geben, die sie brauchen. Warum verdammt noch mal sollte das denn nicht auch für uns Erwachsene gelten? Und da war noch eine Sache, die ich langsam verstand: Ich bin momentan das wichtigste Vorbild meiner Tochter. Wenn sie sieht, dass ich Grenzen habe, diese Grenzen kommuniziere und verteidige, prägt sie das. Auch wenn es manchmal doof für sie ist. Ich zeige ihr am ganz praktischen Beispiel, wie man auf seine Bedürfnisse hört und bei sich bleibt, auch wenn andere Menschen eventuell gerade das Gegenteil erwarten. Davon wird meine Tochter irgendwann profitieren. Und wird im besten Fall später nicht verzweifelt davon träumen, ihre eigenen Grenzen mit Bauschaum verteidigen zu müssen.
„So schön still“
Die Autorin Eva Lohmann hat ein Buch darüber geschrieben, wie das ist, wenn in einer Familie eine Person ganz viel Ruhe braucht und die andere Person ständigen Input. Was soll man Eltern raten, die sich Sorgen machen, ihre introvertierten Kinder könnten in einer dermaßen lauten und extrovertierten Welt untergehen? Introvertierte fühlen sich oft falsch, irgendwie fehl am Platz. Dabei sind es oft sehr sensible Wesen, die wahnsinnig gut zuhören können, die sich einfühlen in ihre Mitmenschen und klugen, durchdachten Rat geben. Aber: Sie müssen sich und ihre Introvertiertheit gut kennenlernen. Sie müssen darauf achten, dass sie regelmäßige Schutzräume haben und Strategien erlernen, sich in dieser Welt zurechtzufinden. Eva Lohmann zeigt anhand ihrer eigenen Geschichte, wie das funktionieren kann.
“So schön still” ist bei Rowohlt erschienen (240 Seiten, 16 Euro).