Der Sohn unserer Autorin Jennifer Meyer-Ueding. Mutter und Sohn, der im Rollstuhl mobil ist, halten sich die Hand.
Foto: Jennifer Meyer-Ueding

„Mein Sohn hat eine Behinderung. Macht sie ihn zum Opfer?“

Der Sohn unserer Community-Autorin hat eine Behinderung. Sie möchte ihn vor Gewalt schützen und wird sich darüber bewusst, dass sie ihm gegenüber selbst auf eine Art gewalttätig ist. Und sie fragt sich: „Was macht das mit meinem Kind? Und was muss (s)ich ändern?“ – Ein Kommentar von Jennifer Meyer-Ueding.

In Deutschland werden Menschen mit Behinderung häufiger Opfer von Gewalt als Menschen ohne Behinderung. Dabei verpflichtet die UN-Behindertenrechtskonvention, Menschen mit Behinderung vor Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch zu schützen. Im letzten Jahr offenbarten zwei große Gewalttaten, wie unzureichend Deutschland diese Aufgabe erfüllt und wie wenig die Mehrheitsgesellschaft hinsieht. Den Ertrinkungs-Tod von zwölf Wohnheimbewohner*innen im Jahr 2021 im Landkreis Ahrweiler spiegelten Medien nur vereinzelt als strukturelle Gewalt. In Potsdam behandelten sie die Ermordung von vier Menschen mit Behinderung primär als kontextunabhängigen Einzelfall. Der Aufschrei blieb jeweils begrenzt. Medien, Politik und unsere Gesellschaft haben einen blinden Fleck. Der Verein AbilityWatch beleuchtet mit dem Rechercheprojekt #AbleismusTötet strukturelle Gewalt. Gesellschaftliche Missstände wirken sich aber auch auf individueller Ebene aus. Wo liegt meine eigene Verantwortung? Die Antwort erschreckt mich.

„Gesellschaftliche Missstände wirken sich auch auf individueller Ebene aus. Wo liegt meine eigene Verantwortung? Die Antwort erschreckt mich.“

Werden Menschen mit Behinderung Opfer von Gewalt, stammen die Täter*innen meist aus dem engeren Umfeld, sind Betreuer*innen, Mitbewohner*innen, Kolleg*innen oder Familienmitglieder. Das macht mir als Mutter eines Sohnes mit Behinderung schon länger Angst. Was mir bisher nicht bewusst war: Ich selbst bin Täterin. Ich tue meinem Sohn Ben* Gewalt an. Ich konditioniere ihn dazu, Opfer zu sein und Opfer zu bleiben. Meine Gewalt ist nicht roh und offensichtlich. Ich schlage keines meiner Kinder. Ich schreie sie nicht an. Dennoch ist meine Gewalt real und verletzend. Eigene Ignoranz, ein kollektiver Ableismus und unser gesellschaftlicher Umgang mit Behinderungen machen mich zur Täterin und Ben zum Opfer.

Nicht nur mein Sohn ist betroffen. Menschen mit Behinderung erleiden zwei- bis viermal häufiger Gewalt als der Bevölkerungsdurchschnitt. Die Dunkelziffer dürfte weit höher sein. Bei diesen Zahlen geht es um sexualisierte, körperliche und psychische Übergriffe. Doch Gewalt beginnt schon früher. Hier liegt das Problem und hier werde ich zur Täterin.

Am letzten Morgen vor den Ferien sind wir spät dran. Der Fahrdienst wird in 20 Minuten klingeln. Weder Ben noch seine zwei Schwestern haben bisher gefrühstückt. Ich bin dabei, Ben die Orthesen anzuziehen. Seine kleine Schwester meckert. Die Große sucht ihre Sportsachen. Alles in allem: maximaler Stress. Ich bin nicht bei der Sache. Ohne hinzusehen, ziehe ich einen der Reißverschlüsse des Korsetts hoch. Eine Hautfalte gerät hinein. Ben schreit auf. Das Hämatom bleibt bis heute, zwei Tage später, sichtbar.

„Kinder mit Behinderung können solches Fehlverhalten schwer als übergriffig oder gewaltsam einschätzen. Sie verlernen ihre Grenzen und ihre Rechte. Stattdessen erlernen sie Hilflosigkeit.“

Nicht mit Absicht, aber dennoch habe ich mein Kind verletzt. Dieses Erlebnis rüttelt mich wach. Denn es ist mehr als ein Unfall. Ben ist auf mich als pflegende Person angewiesen. Sein Wohlergehen liegt in meiner Verantwortung. Ich habe mich bis zu diesem Morgen nie als gewalttätig wahrgenommen. Unser Familienleben würde ich als liebevoll beschreiben. Trotzdem ist das Hämatom, das ich Ben zufüge, nicht meine erste Gewalttat. Es ist nur der erste Anlass zur Reflexion: über mein Verhalten, dessen Ursachen und die Folgen für Ben.

Aufgrund einer Blasenfunktionsstörung muss Ben alle vier bis fünf Stunden katheterisiert werden. Er kann das nicht allein. Dieser pflegerische Vorgang ist eine intime Angelegenheit. Bis zu seiner Einschulung habe ich seine Schwestern hierfür nie des Bades verwiesen. Es schien Ben nicht zu stören. Er kannte es nicht anders. Ich habe ihm nicht aufgezeigt, dass ihm eine Privatsphäre zusteht. Bereits da habe ich seine Grenzen missachtet. Ebenso schwäche ich Bens Autonomie, wenn mein Zeitplan und nicht er den genauen Zeitpunkt des Katheterisierens bestimmt. Ich missbrauche meine Macht. Das ist Gewalt und das fördert Gewalt. Solche alltäglichen Grenzverletzungen werden internalisiert. Kinder mit Behinderung können solches Fehlverhalten schwer als übergriffig oder gewaltsam einschätzen. Sie verlernen ihre Grenzen und ihre Rechte. Stattdessen erlernen sie Hilflosigkeit. Sie werden zu Opfern.

„Fehlende Inklusion und ein verbreiteter Ableismus sind strukturelle Missstände, die Gewalt gegenüber Menschen mit Behinderung fördern.“

Jetzt, da ich meine Täterinnenschaft sehe, kann ich an mir arbeiten. Ben zukünftig vor Gewalt zu schützen, ist indes ebenso eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe: Fehlende Inklusion und ein verbreiteter Ableismus sind strukturelle Missstände, die Gewalt gegenüber Menschen mit Behinderung fördern. Erwachsene und Kinder mit Behinderung sowie ihre Familien leben häufig isoliert. Kinder mit Behinderung können nicht in jeden Sportverein und werden seltener zu Geburtstagen eingeladen. Als Teil der Risikogruppe müssen viele von ihnen während der Corona-Pandemie zurückgezogen leben. Wo keine Kontakte sind, sieht niemand hin.

„Wir müssen Kinder mit Behinderung in ihrem Selbstbewusstsein stärken.“

Kommt es zu Interaktionen, sind ableistische Denkmuster verbreitet. Dies sind Gewaltakte und sie verursachen indirekt weitere Gewalt. Die Be- und Abwertung von Menschen als „anders“ und „fehlerhaft“ ist bereits psychische Gewalt. Zugleich schädigen solche Zuschreibungen das Selbstwertgefühl und erhöhen das Risiko, Opfer zu werden. Es bedarf gesellschaftlicher Aufklärung sowie gelebter Inklusion, um ableistische Denkmuster zu durchbrechen. Daneben müssen wir Kinder mit Behinderung in ihrem Selbstbewusstsein stärken. Neben Physio- und Ergotherapien sollten auch Empowerment-Kurse eine Selbstverständlichkeit sein. Und nicht nur das.

Nach Bens Geburt wurde ich auf der Neonatologie medizinisch angelernt: Wie führe ich den Katheter ein, mit welchen physiotherapeutischen Übungen kann ich die Beweglichkeit seiner Beine fördern? Zu den Themen Ableismus, Autonomie und Gewalt in der Pflege gab es kein Training. Und heute? Niemand kontrolliert mein Verhalten gegenüber Ben. Einmal pro Quartal besucht uns eine Fachkraft der Pflegebegutachtung. Kurz begrüßt sie Ben. Dann lässt sie ihn spielen und geht bei einem Kaffee mit mir ihre Listen durch. Mein Umgang mit Ben bleibt so im Dunkeln. Dies sind strukturelle Missstände. Keiner macht das Licht an. Auch ich brauchte acht Jahre, um meinen Lichtschalter zu finden.

Jetzt tut es mir weh, mich als Täterin zu sehen. Es schmerzt, mir einzugestehen: Ich habe meinem Sohn wehgetan. Doch diese Erkenntnis ist wichtig. Wichtig, damit Ben kein Opfer bleibt.

*Name von der Redaktion geändert

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