Foto: Andi Weiland | Gesellschaftsbilder

Studie: Frauen mit Behinderung werden auf dem Arbeitsmarkt doppelt benachteiligt

Frauen mit Schwerbehinderung sind auf dem Arbeitsmarkt gleich doppelt benachteiligt: Als weiblich gelesene Person und als Menschen mit Behinderung. Das belegen nun die Ergebnisse einer aktuellen Studie der Aktion Mensch.

Lisa Albrecht ist 29 Jahre alt und arbeitete nach ihrem Psychologiestudium in einer Einrichtung für Suchtkranke – bis sie von einem Tag auf den anderen nicht mehr in ihrem Beruf tätig sein konnte. Durch eine Erkrankung wurde sie zur Rollstuhlfahrerin und von dem Moment an durch etwas behindert, das bis dahin für sie nicht entscheidend war: Die fehlende Barrierefreiheit ihres Arbeitsplatzes. Sie fragte bei ihrem Chef nach einer gleichwertigen Arbeitsplatzalternative, die man ihr jedoch nicht bieten wollte „Im gesamten Unternehmen ist nicht ein einziger Arbeitsplatz rollstuhlgerecht”, erzählt Lisa Albrecht über ihren alten Arbeitsplatz.

Lisas Erfahrung zeigt: Nicht nur Gender, sondern auch Behinderung beeinflussen die Berufschancen auf dem deutschen Arbeitsmarkt erheblich. „Für viele Frauen mit Behinderung äußert sich die derzeitige Situation als ein Kampf um das berufliche Überleben“, erklärt Christina Marx, Sprecherin der Aktion Mensch. „Um sich im Arbeitsleben zu behaupten, müssen sie einer gleich zweifachen strukturellen Benachteiligung entgegentreten.“ Wie diese beiden Merkmale zusammenwirken, hat nun die Aktion Mensch in einer Studie über Frauen mit Schwerbehinderung auf dem Arbeitsmarkt untersuchen lassen und damit Pionierarbeit geleistet: Noch nie zuvor wurde die Erwerbssituation von Frauen mit und ohne Schwerbehinderung sowie die jeweiligen männlichen Bevölkerungsgruppen miteinander verglichen. Für die bundesweite Repräsentativ-Befragung wurden Interviews mit rund 2.000 Erwerbstätigen im Alter von 18 bis 64 Jahren geführt. 

Der Berufseinstieg

Die Umfrage zeigt, dass die Hürden bereits früh beginnen. Vor allem Menschen mit angeborener Schwerbehinderung werden in ihrer schulischen sowie be­ruflichen Ausbildung oft nicht gleichwertig qualifiziert. Mehr als jeder zweite Mensch mit Schwerbehinderung (51 Prozent) hat keinen Schulabschluss oder lediglich einen Hauptschulabschluss. Daraus schließen die Studienautor*innen, dass das Potenzial von Menschen mit angeborener Schwerbehinderung im schulischen Bereich bislang nicht optimal gefördert wird. Es ist für sie fast unmöglich, später Positionen auf dem Arbeitsmarkt zu erlangen, die vergleichbar sind mit jenen von Menschen ohne Behinderung.

Auch nach der Schul- oder Berufsausbildung erfahren Frauen mit Behinderung auf dem Arbeitsmarkt Diskriminierung. Die Hälfte aller befragten Frauen berichtet von Diskriminierungserfahrungen während des Bewerbungsprozesses. Das führt nicht nur zu Druck und Stress bei der Arbeitssuche, sondern zeigt sich auch im anschließenden Arbeitsalltag: Die Mehrheit der Arbeitnehmer*innen mit Behinderung beklagt eine hohe persönliche Stressbelastung durch den zunehmenden Konkurrenz- und Leistungsdruck und die Angst, den errungenen Arbeitsplatz wieder zu verlieren.

Die Bezahlung

Frauen mit Behinderung werden im Gruppenvergleich außerdem am schlechtesten entlohnt. Dabei zeigt sich unter den Arbeitnehmer*innen mit Behinderung ein klares Lohngefälle aufgrund des Geschlechts: Im Durchschnitt verdienen weibliche Erwerbstätige mit Behinderung 667 Euro netto weniger pro Monat als ihre männlichen Kollegen mit Behinderung. Außerdem sind Frauen mit Behinderung mit Abstand die größte Gruppe der Arbeitnehmer*innen, die in Berufen mit einem Nettoverdienst von unter 1000 Euro arbeiten.

Der Aufstieg

Wer bereits in der beruflichen Ausbildung und beim Bewerbungsprozess auf Hürden trifft, scheint außerdem kaum Chancen auf Aufstieg, das Erlangen einer Führungsposition und freie berufliche Gestaltung zu haben. Frauen mit Behinderung werden wie keine andere Gruppe von diesen Karrierechancen ausgeschlossen. Gerade einmal jede Zehnte arbeitet in einer leitenden Position.

Was die Studie der Aktion Mensch nun bestätigt, twitterte die Journalistin Andrea Corinna Schöne bereits zum Equal Pay Day vor ein paar Jahren: Als Frau mit Behinderung wird sie auf dem Arbeitsmarkt doppelt diskriminiert.

Außerhalb der Lohnarbeitswelt

Wo Frauen mit Behinderung im Arbeitsleben oft unterschätzt und benachteiligt werden, wirkt die Last der Care-Arbeit umso höher. So sind weiblichen Erwerbstätige mit Behinderung in Partner*innenschaften stärker durch Haushalts- und Familienaufgaben belastet als ihr männliches Äquivalent. Rund ein Drittel ist mit der Aufgabenteilung nicht zufrieden und beklagt mangelnde Unterstützung. „Für eine chancengerechte Teilhabe am Erwerbsleben ist zwingend ein Kultur- und Bewusstseinswandel erforderlich – wir brauchen einen Arbeitsmarkt, der die individuellen Stärken und Qualifikationen von Bewerber*innen sieht und sich Inklusion und Gendergerechtigkeit zur Maxime macht”, sagt Christina Marx von der Aktion Mensch im Fazit zur Studie.

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