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Was ist überhaupt normal? Vom Leben mit einer nicht-sichtbaren Behinderung

Unsere Community-Autorin Lisa hat eine Behinderung, die man ihr auf den ersten Blick nicht ansieht. Dadurch muss sie sich manchmal dafür rechtfertigen, wenn sie etwas nicht kann. Darauf hat sie keine Lust mehr!

Unsichtbare Einschränkungen

Eine Behinderung zu haben, die auf den ersten Blick nicht sichtbar ist, hat nicht nur Vorteile. Ich muss mich häufig erklären. Wenn mich die Menschen ansehen, denken sie nicht: „Ach ja, die kann das nicht (so gut), weil sie eine körperliche Einschränkung hat.“ Es kommen eher Sätze wie „Hä? Warum traust du dich das jetzt nicht?“ Ich finde es teilweise enorm schwierig und manchmal erniedrigend, meine Behinderung erklären zu müssen. Wenn ich zum Beispiel eine steile Böschung nicht runterklettern möchte, weil mein Gleichgewichtssinn so schlecht ist, dass ich zu 99,99 Prozent auf die Schnauze fliege.

Wie behindert ist behindert?

Für mich war es in der Vergangenheit schwer, die Bandbreite meiner Einschränkungen zu begreifen und zu unterscheiden, was ich tatsächlich aufgrund meiner Behinderung nicht kann und wozu ich mich schlichtweg nicht traue. Für nicht-betroffene, außenstehende Personen stell ich es mir um so schwieriger vor, meine Behinderung zu verstehen.

Eine Behinderung ist bis zu einem gewissen Grad individuell. Soll heißen: Wenn ich dir sage, ich bin Spastikerin, bedeutet das nicht zwangsläufig, dass meine Muskeln so krass gelähmt sind, dass man es mir bei jedem Schritt anmerkt. Gerade als ich noch ein Kind war, wurde ich von Arzt zu Arzt geschickt. Dort sah ich Kinder, die nur mithilfe einer Gehhilfe vernünftig gehen konnten. So hätte es auch mir ergehen können. Ist es aber nicht. All diese Kinder, die ich sah, hatten die gleiche Krankheit wie ich. Nur eben schwächer oder stärker ausgeprägt.

Alltägliche Definitionsschwierigkeiten

Die Worte „Behinderung“ oder „behindert“ sind fest im Sprachgebrauch etabliert. Jeder benutzt sie, jeder ist der Meinung, sich etwas darunter vorstellen zu können, was es bedeutet behindert zu sein. Und in manchen Fällen mag das auch stimmen. Laut Wikipedia ist die Definition für Behinderung: „Als Behinderung bezeichnet wird eine dauerhafte und gravierende Beeinträchtigung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Teilhabe bzw. Teilnahme einer Person, verursacht durch das Zusammenspiel ungünstiger Umweltfaktoren (Barrieren) und solcher Eigenschaften der behinderten Person, die die Überwindung der Barriere erschweren oder unmöglich machen.“

Klingt erst ein Mal so, als hätten alle Behinderten die Arschkarte des Lebens gezogen und wüchsen völlig isoliert auf. Als wären wir Menschen mit Behinderung kein Teil der Gesellschaft. Das Sozialgesetzbuch, § 2 Abs. 1, drückt es da schon ein wenig netter aus. Hier heißt es: „Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilnahme am Leben der Gesellschaft beeinträchtigt ist.“

„Was bedeutet denn überhaupt ‚Beeinträchtigung‘?“

Aber auch diese Definition klingt ziemlich diskriminierend. Laut Gesetz bin ich behindert, trotzdem fühle ich mich nicht so, als wäre meine Teilhabe am Leben innerhalb der Gesellschaft beeinträchtigt. Was bedeutet denn überhaupt „Beeinträchtigung“ und woran wird das festgelegt?

Diese und viele andere Definitionen beinhalten eine konkrete Kernaussage: Du entsprichst nicht der Norm. In meiner Jugend hatte ich oft das Gefühl, durch mein Abweichen von der Norm nicht in Ordnung zu sein – nicht „normal“. Dieser Gedanke entstand durch das Wissen, anders als die anderen zu sein. Bis ich mich zwei Dinge fragte, ersten: Wer sind (in meinem Leben) „die anderen“ und wer sagt eigentlich was „normal“ ist und was nicht?

„Normal“ gibt es nicht!

Ich denke, die Antwort auf meine Frage gefunden zu haben. Zumindest habe ich für mich eine Antwort, die ganz gut in mein Leben passt.

Wer und was „normal“ ist, wird immer von der jeweiligen Gruppe definiert, innerhalb der du dich bewegst. Bin ich also ein Teil einer Gruppe, von der alle Mitglieder enorm gute Schwimmer sind und ich selbst kann nicht schwimmen, wird dies ersten als Beeinträchtigung gesehen und zweitens entspreche ich nicht der Gruppen-Norm. Trete ich aber einer Gruppe bei, in der alle nur ungern schwimmen, wird dieses Thema – wenn überhaupt – nur kurz zur Sprache kommen. Die Gruppe interessiert sich nicht wirklich für deine nicht vorhandenen Schwimmkünste. Wie und über was sich eine Gruppe definiert, hängt also von ihren einzelnen Mitgliedern ab.

Niemand ist perfekt

Betrachten wir den einzelnen Menschen innerhalb der Gesellschaft, passt für mich ein Spruch sehr gut: Es ist nicht alles Gold, was glänzt. Wenn wir nämlich meinen, anders als zu sein als die, die uns umgeben, hemmt uns oft die Angst und macht es schwer, offenherzig auf Menschen zuzugehen. Doch genau das sollten wir tun. Für uns selbst und um anderen zu helfen, uns besser zu verstehen. Denn schnell werden wir merken: Laut Gesetz bist du beeinträchtigt. Aber du bist nicht der einzige Mensch mit Beeinträchtigung. Es gibt Menschen, die vor dem Gesetz nicht behindert sind und trotzdem nicht schwimmen, können. Allzu häufig denken wir: „Alle können das. Nur ich nicht.“ Nein, wir denken es nicht nur, wir meinen sogar es zu wissen. Wir stellen gesunde Menschen auf ein Podest, ohne jemals mit ihnen gesprochen zu haben und machen uns selbst klein, damit wir besser zu ihnen hochschauen können.

Sobald wir aber anfangen mit unserer Umwelt zu kommunizieren, merken wir: Niemand ist besser als die beste Version deiner selbst. Begegnest du den Menschen auf Augenhöhe, nimmst du ihnen die Möglichkeit, auf dich runter zu blicken. Darum ist es wichtig sich klar zu machen, dass wir alle unser persönliches Verständnis von Normalität haben und darum ohne Scheu von den Dingen sprechen sollten, die uns schwerer fallen als unserem Gegenüber. Denn auch wir können manches besser als er oder sie. Behinderung hin oder her.

Dieser Text ist zuerst auf Lisas Blog Hirngelaber erschienen. Wir freuen uns, dass wir ihn auch hier veröffentlichen dürfen.

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