Christian Fregnan | Unsplash

Geschlechterklischees, Sexismus und gewalttätiger Frauenhass – eine ganz normale Woche in Deutschland?

Seit dem 22. April hat die SPD, nach 155 Jahren, ihre erste weibliche Vorsitzende: Andrea Nahles. Ist die Welt bereit für eine inhaltliche Auseinandersetzung? Das fragt sich unsere Redakteurin Helen diese Woche in ihrer Kolumne „Ist das euer Ernst?”.

Die erste Frau an der Spitze der SPD

Eigentlich sollte es in diesem Text um Andrea Nahles als erste weibliche Vorsitzende der SPD gehen. Speziell sollte es um dieses Zitat aus
ihrer Bewerbungsrede für dieses Amt auf dem Sonderparteitag der
Sozialdemokraten am 22. April gehen: „Aber Solidarität ist doch das, woran es
am meisten fehlt in dieser globalisierten, neoliberalen, turbodigitalen Welt.
Und seien wir doch mal ehrlich: auch ein Stück weit der Sozialdemokratie selbst
fehlt.” Es sollte darum gehen, was wirkliche sozialdemokratische Solidarität
bedeuten muss. Kurz: Es sollte um Inhalte gehen.

Dann kamen die Ereignisse dieser Woche dazwischen und plötzlich muss man sich fragen, ob der alleinige Fakt, dass die SPD nach gerade einmal 155 Jahren (nach einer Wahl, bei der überhaupt erst zum zweiten Mal in der Geschichte der Partei Frauen kandidiert haben) die erste Frau an ihrer Spitze hat, dass die gläserne Decke, die Nahles damit durchbrochen hat, dringend betont und bejubelt werden muss.

Eine Woche voller Diskriminierung in Deutschland

Es scheint fast so, als hätte sich diese Woche vorgenommen, daran zu erinnern, wie weit der Weg in eine gleichberechtigte, offene und diverse Gesellschaft
noch ist. Da ist die Berichterstattung über Nahles selbst, die immer wieder die gängigen Klischees bediente: Nahles sei zu laut, zu breitbeinig, zu wütend („Sei leise, Andrea Nahles”, brüllte ihr zum Beispiel die Bild-Zeitung entgegen). Ein bemitleidendswerter Haufen der Jungen Union verteilte Ohrstöpsel vor dem Gebäude, in dem der Parteitag der SPD stattfand. Traurig genug.

In dieser Woche gab es aber auch eine Beschwerde der Gleichstellungsbeauftragten des Bundes, wie Zeit Online berichtet. Der Grund: Von allen Staatssekretär*innenstellen, die die neue Regierung vergeben hat, sind nur 27 Prozent mit Frauen besetzt. In einigen Ministerien sind ausschließlich Männer benannt worden. Im Innen- und Heimat-, im Verkehrs-, im Wirtschafts- und im Verteidigungsministerium: nur männliche Staatssekretäre. Horst Seehofer entließ sogar die einzige vorher angestellte weibliche Staatssekretärin in seinem Ministerium, schuf eine weitere Stelle und setzte sich über die Empfehlung der zuständigen Gleichstellungsbeauftragten hinweg, um alle Jobs mit Männern zu besetzen.

Apropos Bayern – der dortige neue Ministerpräsident Markus Söder dachte sich diese Woche wohl: Backlash, das kann ich auch! Und verkündete, dass ab Juni in jeder bayerischen Behörde ein Kreuz zu hängen habe. Die logische Entwicklung einer progressiven Gesellschaft wäre ja eigentlich, die Kreuz-Pflicht in Klassenzimmern und Gerichtssälen abzuschaffen, aber es ist ja schließlich Wahlkampf.

Mehr Johns als Frauen in Führungspositionen

Aber auch international hat diese Woche vorgesorgt: Die New York Times aktualisierte ihren neuesten „Glass Ceiling Index”, in dem die Redaktion überprüft, wie viele wichtige Führungspositionen in den USA von Frauen und wie viele von Männern besetzt sind. Das Ergebnis: Unter den Top-500-Fortune-Vorstandschef*innen sind mehr Männer, die John heißen, als Frauen.

Dass Misogynie aber noch viel schlimmere und tatsächlich lebensbedrohende Ausmaße annehmen kann, stellte diese Woche das Attentat von Toronto unter Beweis. Dort fuhr ein 25-Jähriger in eine Menschenmenge und tötete dabei zehn Menschen, 15 weitere wurden verletzt. Das mutmaßliche Motiv für seine Tat: Frauenhass.

Und heute ist erst Donnerstag. Leider ist diese Woche aber keine Ausnahme: Bayern dreht schon seit ein paar Wochen durch, Paragraf 219a ist immer noch nicht gestrichen und die Sparkasse muss Frauen immer noch nicht Kundinnen nennen. Solange solch eine Nachrichtenlage also fast jede Woche Realität ist, muss man wohl auch die längst überfällige erste Frau an der Spitze der SPD als einen Triumph ansehen – und kann sich erst danach inhaltlich mit ihr auseinandersetzen.

Titelbild: Flickr | SPD Schleswig-Holstein | CC BY 2.0

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