Foto: Christina Vetesnik

Ich bin gerne allein – so ist das nun mal, wenn man introvertiert ist

Introvertiertsein wird oft mit Schüchternheit und Einsamkeit assoziiert. Das ist aber völliger Quatsch! Wie ticken Introvertierte wirklich? Unsere Community-Autorin weiß es – denn sie ist selber eine.

Introvertierte sind keine Misanthropen

Immer wieder sehe ich ein kritisches Stirnrunzeln, ein „Naja, aber” und den vielleicht sogar nett gemeinten Hinweis, dass ich ja wohl nicht schüchtern sei, Freunde hätte und gerne unter Menschen sei. Hm. Ja. Nein. Ganz ehrlich: Darum geht es beim Introvertiertsein am wenigsten. Worum dann? Hier ist mein Versuch, den Extrovertierten einen kleinen Einblick zu geben, was der feine Unterschied zwischen „Extras” und „Intro” ist.

Ich dachte eigentlich immer, ich sei extrovertiert. Der Grund dafür war, dass ich blind an das plakative Vorurteil glaubte : Introvertierte sind Einzelgänger, Nerds, sprechen kaum. Da das auf mich nicht zutraf, war mein Umkehrschluss, dass ich auf jeden Fall extrovertiert sein musste: aufgeschlossen, gerne unterwegs, ein großer Menschenfreund. Heute weiß ich es besser, denn ich habe angefangen mich selbst zwischen den Zeilen zu lesen und vor allem zu beobachten.

Alleine sein ist etwas Schönes – wenn man es mag!

Soweit ich mich zurückerinnern kann, war ich gerne alleine. Die Betonung liegt auf GERNE. Es hat mich nie gestört, alleine zu spielen. Meine Mama erzählt heute noch, dass sie mich manchmal in den Wäschekorb gesetzt hat und ich über Stunden einfach darin saß und zufrieden war.

Heute sitze ich nicht im Wäschekorb, kann aber über einen sehr langen Zeitraum im Bett liegen, etwas lesen oder einfach daliegen. In Ruhe. Wenn es dann noch still um mich ist, fängt mein Akku an zu laden. Und genau dieser Akku ist es, der, meiner Meinung nach, den Unterschied zwischen einem extrovertierten und introvertierten Menschen macht. Wir brauchen alle Energie, um gut durch den Tag zu kommen, um produktiv zu sein, um für andere da zu sein – die Liste der energiefressenden  ist endlos lang. Wo wir unsere Energie dafür bekommen, ist unterschiedlich. Hier kommt das ‚Intro-‚ und das ‚Extrovertiertsein‚ ins Spiel – die beiden Pole beschreiben den jeweiligen Ort des Energieaufladens und zwei gegensätzliche Persönlichkeitsmerkmale.

In der Ruhe liegt die Kraft

Ab und an kommt es vor, dass ich zu einer Party eingeladen werde, zu der ich dann tatsächlich auch gehe. Während der Feier fängt mein Akku an, schwächer zu werden. Das liegt nicht daran, dass ich zuviel trinke, sondern daran dass mein Kopf und meine Wahrnehmung permanent arbeiten. Ich beobachte, höre an fünf Ecken gleichzeitig zu, führe Gespräche, höre zu, führe Gespräche, höre zu. Die Musik wird mit jeder Stunde lauter, meine Ohren hören die Musik, hören Stimmen, hören zu. Meine Augen beobachten, gehen nach links, nach rechts, nach links, nach rechts. Und der Akkubalken geht immer weiter ins Minus. Für ein paar Stunden ist das vollkommen in Ordnung, genau dafür ist ja mein innerer Akku da.

Kommen wir aber in den roten Bereich, wird es für mich Zeit zu gehen. Das passiert dann meist sehr schnell. Viele meiner Freunde hingegen erleben an solchen Abenden genau das Gegenteil. Je später die Stunde, desto voller wird ihr Akku. Sie bekommen ihre Energie durch den regen Austausch mit anderen, sie stecken sozusagen ihr Stromkabel mit Beginn der Party an und ihr Akku beginnt durch das Feiern mit anderen zu laden. Die Energie kommt also von außen, sprich „extro”.

Mein Akku hingegen lädt nur, wenn ich für mich selbst bin. Ich ziehe meine Energie aus Ruhephasen, in denen ich mich zurückziehe und alleine bin. Mein Inneres, mein „intro”‚ ist mein Energiespender. Ist dies nicht möglich, wird die Sache etwas kompliziert. Reizüberflutungen passieren schneller, Gespräche führen wird mühselig – und ich werde immer wortkarger. Die Sehnsucht nach einem Rückzugsort steigt.

Sich unter Extros zu beweisen ist nicht immer leicht

Seit ich in der Arbeitswelt bin, habe ich einige Wesenszüge an mir besonders wahrgenommen, die mich an mir als Person haben zweifeln lassen. Berufsbilder und deren Anforderungen lesen sich für mich oftmals wie eine Auflistung an Eigenschaften, die ich kaum besitze. Nicht, weil ich inkompetent bin, sondern weil ich anscheinend ein Intro bin. Unsere Berufswelt ist leider auf die Extros unserer Welt ausgerichtet.

Ich muss teamfähig sein (das bin ich, aber so richtig in Fahrt komme ich vor allem in intensiven Gesprächen zu zweit und nicht in einem Pitch mit zehn anderen). Ich muss flexibel und multitaskingfähig sein (schade, dass niemand jemanden sucht, der zwar weniger Aufgaben übernimmt, diese aber gewissenhaft und mit vollem Einsatz bearbeitet). Ich muss Freude an einem Großraumbüro haben, denn ein einzelnes Zimmer bekommt nur die Chefetage (wie schön, dass die damit verbundene, permanente Reizüberflutung und Dauerbeschallung mir schon den halben Akku nimmt und ich dann auch noch in Höchstform produktiv arbeiten soll). Ein After-Work Drink mit den Kollegen nach mindestens acht Stunden im Großraumbüro? Jeder Intro weiß, wie meine Antwort ausfällt: Ich werde dankend ablehnen, nach Hause fahren, die Tür hinter mir schließen und mit Eintreten der Stille den Akku für den nächsten Tag wieder aufladen.

Dieses Verhalten kann auf manche abweisend wirken:  „Hat sie keine Lust, etwas mit uns zu unternehmen?”, „Mag sie uns nicht?”, „Aha, sie hält sich wohl für was Besseres?”, „Die ist aber schüchtern.” Das ist alles schon passiert. Hier und da half dann zwar eine kurze Erklärung, dennoch ist es für Intros in vielen Situationen schwieriger. Jemand, der sich gerne zurückzieht, in größeren Gruppen eher leise ist (da alleine das Zuhören und die eigenen Gedanken erst einmal alle verarbeitet werden müssen und eine Antwort dann leider zwei Minuten zu spät kommt), oder jemand, der lieber für sich alleine arbeitet als mit anderen zusammen, geht in unserer lauten Gesellschaft unter. Dabei belegen Studien, dass Introvertierte zum Beispiel die besseren Chefs sind. Wir nehmen uns Zeit, hören zu und haben ein großartiges Gespür dafür, was andere brauchen, können und wo der Schuh drückt. Manchmal wissen wir es sogar schon, bevor es der Andere bemerkt.

Introvertiert sein ist eine Eigenschaft, kein Problem

Heute weiß ich diese und viele anderen Eigenschaften an mir zu schätzen – ich liebe den Intro in mir, aber erst seitdem ich weiß, dass ich einer bin. Es musste erst ein Persönlichkeitskollaps inklusive starker Selbstzweifel und einem sehr geringen Selbstwertgefühl über mir einbrechen. Erst da fand ich heraus, dass viele meiner „Probleme” gar keine sind, sondern die zarten und leisen Persönlichkeitsmerkmale eines introvertierten Menschen. Eine Erkenntnis, die mich nach wie vor äußerst glücklich macht.

Für alle, die immer noch nicht so recht verstanden haben, was ich da eigentlich erklären wollte, lasse ich es die grandiose Amy Schumer nochmal kurz und trocken zusammenfassen: „Wenn man wirklich introvertiert ist, sind andere Menschen in erste Linie Energievampire. Man hasst sie nicht, man muss sich nur gut überlegen, wann man sich ihnen aussetzt – es ist wie mit der Sonne. Sie ist lebenswichtig, das schon, aber sie kann dich auch verbrennen und dann kriegst du diesen faltigen Long-Island-Ausschnitt, den ich immer gefürchtet habe und mittlerweile wirklich habe.“

Wer sich intensiver mit dem Thema Introvertiertheit beschäftigen möchte, dem lege ich das Buch „Still: die Kraft der Introvertierten”, von Susan Cain ans Herz.

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