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Gewalt gegen Frauen: Warum nimmt die Bundesregierung ihre Verantwortung nicht ernst?

Am 1. Februar 2018 tritt die Istanbul-Konvention gegen Gewalt gegen Frauen auch bei uns in Kraft. Warum aber ist Gewalt gegen Frauen in Deutschland so selten Thema? Das fragt sich Helen heute in ihrer Kolumne „Ist das euer Ernst?”.

Gewalt gegen Frauen ist auch in Deutschland Alltag 

Jede vierte Frau in Deutschland hat im Laufe ihres Lebens mindestens einmal körperliche und oder sexualisierte Übergriffe durch einen Beziehungspartner erlebt. Täglich wird im Durchschnitt eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner lebensgefährlich attackiert. Drei Frauen sterben dabei wöchentlich.  Jedes Jahr finden in Deutschland circa 18.000 Frauen und ihre Kinder Schutz in Frauenhäusern –  allein 2016 wurden aber auch circa 13.500 Frauen von den Frauenhäusern abgewiesen. In Bayern fand in dem Jahr jede zweite Frau keinen Platz. Gewalt gegen Frauen ist auch in Deutschland alltäglich und trotzdem kaum Thema im öffentlichen Diskurs.

Die letzten Monate der #Metoo-Debatte haben das sicherlich geändert. Aber weder im letzten Bundestagswahlkampf, in den Sondierungsgesprächen oder in den aktuellen Koalitionsverhandlungen ist das Thema wirklich präsent. Und auch dass heute die völkerrechtliche Istanbul-Konvention in Deutschland in Kraft tritt, ist kaum Thema. Istanbul-Konvention? Was war das noch mal?

Das erste juristisch verpflichtende Instrument zum Schutz von Mädchen und Frauen

Die Istanbul-Konvention oder auch „Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt” wurde am 11.Mai 2011 von 13 Mitgliedstaaten der EU, darunter Deutschland, in Istanbul unterzeichnet. Auf EU-Ebene wurde sie 2014 ratifiziert. Deutschland tat das erst am 12. Oktober 2017. Die Konvention stellt einen völkerrechtlichen Vertrag dar, der es mit dem heutigen Inkrafttreten auch Frauen in Deutschland ermöglicht, sich vor Gericht auf die 81 Artikel umfassende Rechtsgrundlage gegen Gewalt an Frauen zu berufen. Es ist auf europäischer Ebene das erste juristisch verpflichtende Instrument zum Schutz von Frauen und Mädchen gegen jede Form der Gewalt.

Die Konvention verpflichtet alle unterzeichnenden Staaten dazu, die Gleichstellung der Geschlechter in der Verfassung und Gesetzgebung zu verankern und dort gleichzeitig jede Form der Diskriminierung abzuschaffen. Die Konvention besteht aus drei Säulen: Prävention, Schutz der Opfer und Bestrafung der Täter. Konkret verpflichten sich die Länder unter anderem dazu, die Hilfsangebote für Opfer zu verbessern, die psychologische und finanzielle Unterstützung dieser zu verbessern und gegen körperliche und psychische Gewalt gegen Frauen und Mädchen offensiv vorzugehen. 

Das Inkrafttreten heute ist eigentlich also ein ziemlich wichtiger Schritt – vor allem, weil in Deutschland in dieser Hinsicht immer noch so einiges falsch läuft: Frauenhäuser und Beratungsstellen sind permanent überlastet, finanziell und personell. Jede Frau, die vor häuslicher Gewalt Schutz sucht und abgewiesen werden muss, ist eine Frau zu viel. Eine Frau, die vor Gewalt flieht, an zu langen Wartezeiten scheitern zu lassen, ist makaber. Es mangelt aber auch an der geforderter politisch-gesellschaftlichen Gesamtstrategie. In Deutschland gibt es ein großes Netz ehrenamtlicher Organisationen, aber Bund und Länder weisen in ihrer Versorgungspflicht große Lücken auf. Es gibt ganze Landstriche ohne Versorgungsstruktur. Dazu kommt, dass vor allem geflüchtete Frauen und Frauen mit Behinderungen nicht ausreichend Schutz erfahren. Nur circa fünf Prozent der Frauenhäuser sind komplett barrierefrei. Schutz vor Gewalt muss in Deutschland besonders verletzliche Gruppen einschließen: Menschen, die von Armut, Verschuldung oder Wohnungslosigkeit betroffen sind, die eine Behinderung haben oder einen unsicheren bis gar nicht vorhandenem Aufenthaltsstatus.

Gewalt gegen Frauen geht uns alle an

Die Istanbul-Konvention erkennt an, dass Gewalt gegen Frauen mit tradierten Rollenvorstellungen und Machtstrukturen zusammenhängt. Alle Unterzeichner verpflichten sich auch, diese Strukturen aufzulösen. Es geht also auch um Lohngerechtigkeit, Gleichstellung und Repräsentation. Das alles sichert die Istanbul-Konvention uns zu. Ändert sich in Deutschland mit dem heutigen Tag aber wirklich etwas für Frauen, die Schutz vor Gewalt suchen? Ein Blick ins Sondierungspapier der CDU, CSU und SPD, die ja wahrscheinlich gemeinsam die nächste Regierung bilden werden, offenbart wenig konkrete Maßnahmen. Einen ganzen Absatz war ihnen das Thema wert. Dort heißt es zu Beginn: „Wir werden ein Aktionsprogramm zur Prävention und Unterstützung für von Gewalt betroffene Frauen und Kinder auflegen und die Hilfestrukturen verbessern. Um von Gewalt betroffenen Frauen und Kindern den gesicherten Zugang zu Schutz und Beratung in Frauenhäusern zu ermöglichen, werden wir einen Runden Tisch von Bund, Ländern und Kommunen einberufen.” Im folgenden soll viel geprüft,  auferlegt und in die Wege geleitet werden. Den 13.500 Frauen, denen der Schutz verweigert wurde, bringt das herzlich wenig. 

Dabei könnte und müsste man so viel tun. Der Juristinnenbund zum Beispiel hat eine Stellungnahme veröffentlicht, in dem die Mitglieder die Bundesregierung auffordern, ein flächendeckendes, umfassendes und allgemein zugängliches Unterstützungssystem für alle gewaltbetroffenen Frauen zu schaffen, das insbesondere Schutzunterkünfte, Beratungsstellen, Notrufe, Traumazentren, Therapiemöglichkeiten, medizinische Versorgung und Barrierefreiheit im weiteren Sinne umfasst. 

Die Politik muss diese Verpflichtung ernst nehmen und endlich in Gesetzen und Maßnahmen, – und nicht nur an runden Tischen und zum Weltfrauentag – verankern. Daran müssen wir sie immer wieder erinnern. Simone de Beauvoir hat mal gesagt: „Feminismus ist eine Art, individuell zu leben und kollektiv zu kämpfen.” Die 25 Prozent der Frauen in Deutschland, die mindestens einmal von körperlicher oder sexualisierter Gewalt betroffen sind, brauchen diese Kollektivität. Für ihren Schutz müssen wir alle einstehen. 

 

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