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In 25 Jahren wird die Hälfte der Jobs nicht mehr existieren – es gibt nur eine Möglichkeit, Kinder darauf vorzubereiten

Gerald Hüther ist Neurobiologe und Autor des Buches „Rettet das Spiel“, in dem er dafür plädiert, Kinder möglichst viel selbst entdecken zu lassen. Im Interview mit Business Insider spricht er über unser Bildungssystem, Kindergärten und wie Kinder gefördert werden müssen, um Spaß am Lernen und Entdecken zu haben.

„Es geht doch nicht darum, Kinder auf die Anforderungen von Schulen vorzubereiten, sondern auf das Leben”

In 25 Jahren werden 47 Prozent der Jobs, die uns jetzt im Alltag begegnen, nicht mehr in dieser Form existieren. Das geht aus einer Studie der Oxford-Universität hervor. Nicht nur Fabrikarbeiter*innen könnten künftig durch Roboter und Künstliche Intelligenzen ersetzt werden, auch Buchhalter*innen, Ärzt*innen, Jurist*innen, Lehrer*innen oder Finanzanalyst*innen. Was werden also jene Menschen später tun, die jetzt in den Kindergarten gehen?
Der Hirnforscher Gerald Hüther erklärt im Gespräch mit Business Insider, warum wir uns endlich von einem ideologisch aufgeladenen Bildungssystem lösen und im Kindergarten jedes Kind so fördern müssen, dass es Spaß am Lernen und Entdecken hat. Denn nur diese Menschen, so seine These, werden sich im Berufsleben der Zukunft zurechtfinden können.

Herr Hüther, wie stellen Sie sich den Kindergarten der Zukunft vor?

„Der Kindergarten der Zukunft wird so aussehen, dass Kinder dort all das lernen, was wir Erwachsene in Zukunft für wichtig halten. Wenn wir künftig eher Leute haben wollen, die wenig nachdenken, immer gerne das einkaufen, was ihnen die Wirtschaft anbietet und brav ihre politischen Parteien wählen, werden wir ein anderes Bildungssystem brauchen, als wenn wir möchten, dass es in Zukunft möglichst viele Menschen gibt, die diese Zukunft aktiv gestalten. Ich fürchte nur, wir sind uns noch nicht sicher, was wir nun in Zukunft gerne hätten.”

Was wir jetzt schon über die Zukunft wissen: Viele Jobs werden künftig von Robotern und Künstlichen Intelligenzen verrichtet werden. Wie wirkt sich der Fortschritt auf unser Bildungssystem aus?

„Ich hätte es vor einigen Jahren selbst noch nicht für möglich gehalten, dass Automaten auch Autofahren können. Wir steuern auf eine Zukunft zu, in der jede menschliche Tätigkeit, die so einfach und banal ist, dass man sie aufschreiben kann, von digitalen Geräten übernommen wird. Solche automatisierbaren Routinetätigkeiten verrichten heute meist solche Personen, die eigentlich keine Freude an dem haben, was sie machen. Die also nur ihre Aufgaben abarbeiten. Automaten können das viel besser, Tag und Nacht, ohne Urlaub und fehlerfrei.

Künftig werden also nur noch diejenigen eine Beschäftigung finden, die Freude an dem haben, was sie tun. Das gilt nicht nur für Fabrikarbeiter*innen, auch für Pflegekräfte, Jurist*innen, Hochschul-Dozent*innen und Ärzt*innen.
Deshalb dürfte keinem einzigen Kind in der Schule oder gar schon im Kindergarten die Freude am eigenen Entdecken und gemeinsamen Gestalten verloren gehen. Denn genau das führt mit großer Wahrscheinlichkeit dazu, dass solche Kinder später als Erwachsene auch nicht gern lernen, geschweige denn gern arbeiten.”

Ist denn jeder Mensch von Natur aus dafür gemacht, gerne zu lernen und zu arbeiten?

„Jeder Mensch kommt so auf die Welt. Und wenn das später aufhört, ist das kein Naturgesetz — und hat nichts mit dem Gehirn zu tun.”

Was können Kindergärten tun, damit Kinder diesen Entdeckungsdrang nicht verlieren?

„Kinder verlieren ihren Entdeckerdrang dann, wenn man ihnen vorschreibt, was sie zu entdecken haben. Oder besser ausgedrückt: Sobald man das Kind zum Objekt der eigenen Belehrungen macht, hört es auf, selber zu fragen und fühlt sich nicht wertgeschätzt. Kinder und später Schüler*innen und auch noch Erwachsene dürfen nicht zum Objekt von Erwartungen, Belehrungen, Maßnahmen, Zielen und Anordnung gemacht werden. In dem Moment, in dem man bevormundet und bewertet wird, werden die zwei wichtigsten Bedürfnisse verletzt: das nach Verbundenheit und das nach Selbstgestaltung. Das führt zu Schmerzen, die man sogar im Gehirn nachweisen kann.”

Warum tun wir Menschen das?

„Weil wir seit 10.000 Jahren in hierarchischen Ordnungsstrukturen leben, nämlich seit wir sesshaft geworden sind. Und ein Grundmerkmal dieser Strukturen ist, dass man zwangsläufig zum Objekt gemacht wird, je weiter man unten ist. Deshalb will jeder aufsteigen und deshalb haben sich diese Menschen immer angestrengt und daraus sind sehr viele Erfindungen und Entdeckungen hervorgegangen.”

Aber es ändert sich.

„Ja, inzwischen ist unsere Welt durch all diese Neuerungen so komplex geworden, dass wir mit den alten hierarchischen Ordnungen nicht mehr weiterkommen. Gut möglich, dass wir deshalb vor der größten Transformation der Art unseres Zusammenlebens seit der Sesshaftwerdung stehen. Die Digitalisierung hat diese Entwicklung sehr beschleunigt. Wenn alles globalisiert, digitalisiert und vielfach voneinander abhängig ist, lässt sich dieses hochkomplex gewordene Zusammenleben nicht mehr durch Hierarchien steuern. Das merkt man schon deutlich in der Wirtschaft, wo alle nach flachen Hierarchien rufen. Die altbewährten hierarchischen Ordnungsstrukturen unseres Zusammenlebens beginnen sich aufzulösen, aber wir wissen noch nicht, wir wir uns anders organisieren sollen.”

Und da könnten Bildungseinrichtungen ins Spiel kommen

Genau, deshalb müssen wir unseren Kindern helfen, eine eigene innere Ordnungsstruktur, eine Art inneren Kompass, aufzubauen, der ihnen Orientierung für ihr Leben bietet und ihnen hilft, ihr Zusammenleben mit anderen fruchtbar für alle zu gestalten. Wir müssten ihnen die Möglichkeit bieten, ein Gefühl, eine Vorstellung und dann auch ein Bewusstsein ihrer eigenen Würde zu entwickeln. Das ist zu einer der wichtigsten Bildungsaufgaben geworden. Wenn sie gelingt, hätten wir eine neue Ordnungsstruktur, aber keine von Außen aufgesetzte, sondern eine von Innen kommende Orientierung: Als Einzelne zu leben, dass es gut für uns alle ist, ein gemeinsames Anliegen zu verfolgen, das allen gleichermaßen am Herzen liegt.“

Sind Kindergärten schon auf dem richtigen Weg, Kinder auf diese neue Ordnungsstruktur vorzubereiten?

„Kindergärten wären eigentlich schon auf einem guten Weg in die Zukunft, weil den Kindern dort oft schon sehr gut geholfen wird, sich selbst als Entdecker und Gestalter zu erleben. Das Problem ist aber, dass sich die Frühpädagogik noch sehr nach dem richtet, was die Schulen als Vorgaben machen. Und bei den dafür Verantwortlichen ist die neue Botschaft bisher noch nicht so recht angekommen. Kindergärten werden gezwungen, mehr oder weniger Grundschulaufgaben zu übernehmen, weil sie die Kinder auf die Schule vorbereiten sollen. Aber es geht doch nicht darum, Kinder auf die Anforderungen von Schulen vorzubereiten, sondern auf das Leben. Aber solange die Schule da reindirigiert, überträgt sie ihr altes hierarchisches Ordnungssystem in die Kindergärten und zwingt sie, ständig neue Leistungsbeurteilungen und Förderungssysteme zu schaffen und einzusetzen.”

Was ist die Aufgabe von Kindergärten?

„Aus neurobiologischer Sicht stimmt das alte Sprichwort: Man braucht ein Dorf, um Kinder gut großzuziehen. Kinder sollten in vielen verschiedenen Bereichen mit der Natur und in der Kultur eine Vielfalt von Erfahrungen machen können — nicht nur mit dem Kopf, auch mit dem Körper und im tagtäglichen Zusammenleben. Das ist die wichtigste Aufgabe von Kindergärten. Es ist ungünstig, Kinder auf ein Schulsystem vorzubereiten, das in dieser Form nicht mehr für das 21. Jahrhundert tauglich ist. Das wissen nur viele Eltern noch nicht, die denken, Kinder müssen das überstehen, damit sie eine starke Persönlichkeit entwickeln. Das entspricht meist ihrer eigenen Schulerfahrung und ist sehr fragwürdig.”

Mehrere Erzieher*innen sagten im Gespräch mit Business Insider, dass oftmals Eltern fordern, dass ihr Kind auf die Schule vorbereitet wird und sich Sorgen machen, wenn ihr Kind dieses oder jenes noch nicht kann. Das Problem sind also nicht die Kindergärten, sondern die Gesellschaft.

„Es ist erstaunlich, dass man das jetzt erst so langsam merkt: Schulen und Kindergärten sind nicht zu verändern, solange man nicht bereit ist, auch die Gesellschaft umzugestalten, in die sie eingebettet sind. Man muss sich nur die Geschichte anschauen: Im Kaiserreich gab es Bildungseinrichtungen, die dafür geschaffen wurden, dass der/die Kaiser*in gute Untertan*innen bekam — und nicht dafür, dass die Kinder ihre Potenziale entfalten. Im Nationalsozialismus sollten gute Nazis aus den Schulen kommen, in der DDR gute Kommunist*innen. Und jetzt wäre es absurd, zu glauben, dass in unserer westlichen Konsumgesellschaft auf einmal hochkompetente und selbstbewußte, teamfähige junge Erwachsene daraus hervorgehen — nein, da sollen systemerhaltende Menschen rauskommen, die an den Wettbewerb glauben, die viele ungestillte Bedürfnisse haben, die sie dann mit Konsum befriedigen und die Wirtschaft am Laufen halten. Wenn unser Bildungssystem lauter glückliche und neugierige Kinder hervorbrächte, wären Einkaufsstraßen schnell ausgestorben, denn wer all das braucht, was dort als Ersatzbefriedigungen angeboten wird, dem muss es schon ziemlich schlecht gehen.”

Wie kann sich eine Gesellschaft so wandeln, dass sie ihr Bildungskonzept hinterfragt?

„Sie wird sich ändern, weil es durch die Digitalisierung gar nicht mehr anders geht. Schon jetzt ist absehbar, dass unser Bildungssystem so nicht mehr funktioniert — und dann wird es relativ schnell umgebaut. Wie schnell so eine Veränderung in Gang kommen kann, konnte man zum Beispiel zum Ende der DDR ganz gut beobachten. Und der Wandel an den Schulen ist eben auch jetzt schon längst im Gange. Es wächst eine Elterngeneration heran, die nach neuen Bildungseinrichtungen sucht. Es gab noch nie so viele Schulgründungen und auch noch nie so viele Schulverweigerer*innen wie heute — Eltern, die sagen: Ich schicke mein Kind nicht in diese Einrichtung, wenn es dort nicht hinwill, weil es ihm dort nicht gut geht. Das sind die ersten Anzeichen, dass das System in sich zusammenfällt.”

Was hindert uns dann noch daran, unser Bildungssystem zu verändern?

„Politiker*innen wissen, dass sie die nächste Wahl nicht überstehen, wenn sie solche Bildungseinrichtungen schaffen, wie sie für das 21. Jahrhundert gebraucht werden. Viele Wähler denken ja immer noch, dass es in unseren Schulen sowieso schon zu lax zugeht. Dass mehr Druck gemacht werden muss, damit das Lernen funktioniert. Das sind Vorstellungen, die entstanden sind, als diese ältere Generation selbst noch in der Schule war. Aber die neue Generation wächst nach, die sagt: Das mache ich nicht mit meinem Kind. So ändert sich die Nachfrage und dann muss auch die Politik handeln.”

Einige Menschen befürchten, dass Kindern zu wenige Vorgaben gegeben würden in diesen neuen Schulkonzepten, und dass man Lernerfolg nicht mehr messen kann. Was kann man gegen diese Sorgen tun?

„Die Diskussion läuft immer darauf hinaus, dass alle denken, man soll die Kinder machen lassen, was sie wollen. Das hat nichts mit liebevoller Begleitung eines Kindes zu tun und das hat auch nichts mit Potenzialentfaltung zu tun. Wenn ich mein Kind liebe und wenn ich möchte, dass es seine Potenziale entfaltet, dann habe ich die heilige Verantwortung, aufzupassen, dass es sich nicht verläuft. Wir müssen Kindern helfen, ihren Weg zu finden und dabei auch die Schwierigkeiten zu meistern, die ihnen begegnen.”

Wie kann man Kindern helfen, sich auf den Weg zu machen und dranzubleiben?

„Wir haben beobachtet, dass Kinder kreativ werden und sich reinhängen, wenn man ihnen die Möglichkeit bietet, etwas umzusetzen, was sie von Herzen wollen. Und Erzieher*innen, Eltern oder Lehrer*innen haben eine Führungsverantwortung, wie es ja auch in der Wirtschaft der Fall ist: Die Chef*innen sagen nicht, wie es gemacht werden soll, sondern schaffen geeignete Rahmenbedingungen, damit die Mitarbeiter*innen das, was für sie und den Betrieb wichtig ist, umsetzen können. Und im besten Fall liegt den Mitarbeiter*innen das Wohl der Firma und die Freude am Mitwirken am Herzen — und das erreicht man nicht, indem man etwas anordnet oder Belohnungen verspricht. Das entwickeln Menschen nur in einem Klima, das ihnen gut tut, wo sie sich gesehen fühlen, etwas gestalten können und wo sie sich zugehörig und verbunden fühlen.“

Dieser Artikel ist Teil eines Themen-Specials von Business Insider zu Kindergärten in Deutschland. Was Kindergärten mit Wirtschaft und Karriere zu tun haben? Eine ganze Menge: Viele Eltern sehen in der Institution inzwischen einen Ort, an dem schon die Kleinsten auf die Arbeitswelt der Zukunft vorbereitet werden sollten. Pädagog*innen, Ökonom*innen und Erzieher*innen befürchten jedoch, dass wir die Zukunft unserer Kinder verspielen, wenn wir ihnen den Spaß am Spielen und Entdecken nehmen.

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  1. Hüther argumentiert m.E. in Teilen überhaupt nicht mehr wissenschaftlich. Es geht halt nicht unbedingt auf, wenn man als Neurobiologe gesellschaftliche Verhältnisse analysiert…

    Die Oxford-Studie von Frey/Osborne ist von 2013 und somit auch die Debatte um die Thesen schon alt… Es wäre gut sich dann auch darauf zu beziehen, um die Debatte nicht weiter künstlich zu polarisieren. Im Kern gibt es ein Automatisierungsrisiko, aber was passiert ist schwer vorher zu sagen. Was Hüther dadurch m.E. negiert, ist, dass die Arbeitsmärkte weiterhin sozial ungleich bleiben werden, weil es immer Jobs geben wird, die hohe und geringe und mittlere Tätigkeitsanforderungen haben.

    Nicht alle einfachen Jobs werden verschwinden, gerade nicht, wenn die Politik alles dafür tut, dass die Lohnkosten und Beschäftigungsbedingungen optimal für Arbeitgeber_innen sind und somit weitaus günstiger als eine Automatisierung von Tätigkeiten.

    Somit braucht, funktional gesehen, der Arbeitsmarkt und die Betriebe Menschen, die bereit sind, schlecht bezahlte, gesundheitsbelastende, anstrengende usw. ff. Arbeit auszuüben. Dazu werden wenig ganzheitlich gebildete Menschen bereit sein – verständlicherweise.
    Implizit bräuchte es dann eine gesellschaftliche Transformation, die durch Rücknahme der Arbeitsteilung oder ähnlichem diese Jobs verschwinden lässt. Und hier widerspricht sich Hüther m.E. auch, wenn er einerseits postuliert dass Menschen in guten Bildungssystemen keinen Konsum brauchen und es andererseits noch diese Firmen gibt, die diese Menschen mit besonderen Fähigkeiten brauchen.

    Ich stehe voll hinter dem Punkt, dass es gute Lernräume für Kinder geben sollte und auch das Konstrukt der Schule aufgebrochen werden sollte. Aber dahinter steht m.E. auch der Wille an den gesellschaftlichen Verhältnissen insgesamt zu rütteln. Hüther zieht sich m.E. auf den bequemen Platz zurück, dass es auch ökonomisch erforderlich sei, solche Entwicklungsperspektiven zu bieten. Das lässt sich leichter vermitteln, blendet dann aber die inhärenten Widersprüche einer Klassengesellschaft aus.

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