Foto: Lizzie Guilbert

Ist die Work-Life-Balance total überbewertet?

Arbeit ist wichtig und soll Freude bereiten. Ist der klassische Ausgleich zwischen Arbeit und Freizeit also überholt?

Ist der in den letzten Jahren viel diskutierte und geforderte angemessene Ausgleich zwischen Arbeit und Freizeit ein alter Hut? Ich lese in letzter Zeit häufiger Artikel und Berichte, in denen die oft zitierte Work-Life-Balance als überbewertet und unsinnig dargestellt wird. Es heißt, die Menschen bräuchten mehr Arbeit. Mehr Arbeit, bei der sie sich entfalten können. Freizeit wäre quasi überflüssig, da die Arbeit sämtliche Bedürfnisse des Menschen abdeckt beziehungsweise die Arbeit mit der Freizeit immer mehr verschmilzt. Mich erschreckt diese Sichtweise. Ich sehe es nämlich ein wenig anders:

1. Arbeit ist leider nicht immer und für jeden eine Berufung

Arbeit gehört zum Leben. Ich behaupte nicht, dass Arbeit ausschließlich dazu dient, das Dach über dem Kopf zu sichern oder den Kühlschrank zu füllen. Arbeit soll Spaß machen und berufliche Befriedigung schenken. Denn: Arbeitszeit ist Lebenszeit. Dennoch gehen viele Menschen nach wie vor vor allem deshalb arbeiten, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Nicht jeder findet seine ultimative Berufung oder spürt die besondere Befähigung, die er als Auftrag in sich fühlt.

Ich denke, so geht es vielen Menschen. Und ich weiß nicht, ob ich die Menschen beneiden soll, für die Arbeit einfach alles ist. Nicht, dass ein falscher Eindruck entsteht: ich arbeite selbst seit 30 Jahren in verschieden Branchen und Bereichen. Ich habe immer gern gearbeitet, neue Impulse gesucht und mich verändert, wenn ich nicht mehr zufrieden war. Es gab schöne und nicht so schöne Erfahrungen, ich hatte Menschen um mich, die Spaß hatten an ihrer Arbeit und wiederum Menschen, die sich mehr oder wenig zur Arbeit gequält haben. Menschen, die ihre Arbeit als ihre Passion bezeichnet haben, kann ich wohl an einer Hand abzählen. Das ist das, was ich erlebt habe.

 2. Das Büro ist nicht das Zuhause

Ich trenne Arbeit und Freizeit ganz bewusst, auch wenn es nicht dem neuen Trend entspricht. Vielleicht ist der Begriff Work-Life-Balance nicht richtig gewählt. Arbeit und Leben zu trennen, halte auch ich nicht für richtig. Arbeit und Freizeit sehr wohl. So müsste es wohl eher Work-Leisure-Balance heißen. Es gibt für mich neben der Arbeit nämlich viele andere Dinge, die mein Leben ebenso bereichern und die ich nicht in Zusammenhang mit meiner Arbeit sehen kann und auch nicht sehen möchte. Ich möchte das Büro, in dem ich arbeite, nicht als Pseudo-Zuhause ansehen, denn das ist es nicht. Es ist der Platz, an dem ich viel Zeit verbringe, aber eben nicht mein privater Bereich. Meine durchaus netten Kolleg*innen sind eben Kolleg*innen, aber nicht zwangsläufig meine Freund*innen.

3. Es gibt so viele Dinge, die ich im Büro nicht erleben kann

Ich bewege mich gern an der frischen Luft, laufe, gehe am Meer spazieren, in den Bergen wandern. Fotografieren ist ein sehr erfüllendes Hobby für mich. Ich treffe mich gern mit Freunden bei einem leckeren Essen, einem guten Glas Wein und intensiven Gesprächen. Ich mache es mir gern auf meiner Couch gemütlich bei Kerzenschein, einer Tasse Tee und einem spannenden Buch. Ich reise gern, einen Kurztrip genieße ich in vollen Zügen. Ich freue mich, wenn mein mittlerweile erwachsener Sohn und mein Mann ihre Erlebnisse des Tages mit mir teilen und hierfür nicht nur eine knappe halbe Stunde am Tag übrig bleibt. All diese gewöhnlichen und schönen Dinge stellen für mich Freizeit dar und sind mir wichtig, sehr wichtig. Diesen Dingen den nötigen Raum zu geben, fällt im beruflichen Alltag oft schwer und ich möchte nicht, dass sie mit meiner Arbeit verschmelzen.

3. Ohne Geld geht nicht alles und Geld ist nicht alles

Der monetäre Aspekt (m)einer beruflichen Tätigkeit spielt nun einmal eine Rolle und solange dies so ist, werde ich nicht wissen können, ob ich ohne Arbeit in einen Zustand der gefühlten Wertlosigkeit verfallen würde. Bei, seit einem Jahr bewusst gewählter, reduzierter Arbeitszeit, kann ich die gewonnene Zeit jedoch den Dingen widmen, die bei einer durchschnittlichen 50-Stunden-Woche in der Vergangenheit zu kurz kamen. Finanzielle Einschränkungen einerseits führten zu neu gewonnener Freiheit andererseits. Entschleunigung tut gut und ist mit Geld nicht zu bezahlen.

4. Ausgleich sorgt für Wohlbefinden

Es wird für mich immer eine Trennung zwischen Berufs-und Privatleben geben und ich werde auch weiterhin abwägen, was mir sowohl im beruflichen als auch im privaten Bereich wichtig ist. Den Kampf, diesen wichtigen Dingen immer zu gleichen Teilen Platz einzuräumen, werde ich sicher nicht immer gewinnen. Ich werde jedoch dafür sorgen, dass Ausgleich stattfindet. Denn ich habe gelernt, dass Ausgleich glücklich macht und für mich wichtig ist.

Raus aus dem Hamsterrad

Alle, die meinen, der Mensch brauche keinen Feierabend, keine Auszeiten, Freiräume und Freizeitaktivitäten, sollen sich gern in ihrem Hamsterrad weiter drehen und sich einreden, sie hätten dauerhaft Spaß. Allen, die aus dem Hamsterrad heraus wollen, rate ich, es zu tun. Es gibt so viele schöne Dinge, die man schnell gar nicht mehr wahrnimmt vor lauter Rennen – höher, schneller, weiter! Allen, die in ihrer Arbeit ihre Berufung gefunden haben, gratuliere ich. Ich werde weiterhin in meiner Freizeit Kraft tanken, versuchen durch sinnvolle gestaltete Freizeit oder auch Nichtstun einen Ausgleich zu den alltäglichen und beruflichen Herausforderungen zu finden und meine kostbare, neu gewonnene Zeit genießen.

Ich weiß neben meiner Berufstätigkeit ein erfülltes Privatleben zu schätzen. Das ist verwerflich, unmodern oder nicht im Trend? Ist mir egal. Und solange das viel zitierte Geld eine Rolle spielt, muss ich mir sowohl die Zeit als auch das Geld weiterhin gut einteilen.

Leben ist gleich Arbeit? Nein, zum Leben gehören für mich noch viele andere Dinge wie frei verfügbare Zeit, mit der ich anfangen kann, was ich möchte, Familie, Freunde, Natur und vieles mehr. Nicht immer bekommt man alles unter einen Hut. Prioritäten zu setzen, scheint unumgänglich. Wie man diese setzt, muss letztlich jeder selbst entscheiden.

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