Was würdest du sagen, wenn du nur 100 Wörter am Tag sprechen dürftest? Genau diese Frage stellt sich im spannenden und verstörend realistischen Debütroman ‚VOX‘ von Christina Dalcher. Sie schreibt über eine Welt, in der Frauen fast nichts mehr zu sagen haben – außer 100 Wörter pro Tag.
Was würdest du tun, um frei zu sein?
Stell dir vor, die Bevölkerung deines Landes hätte eine Regierung gewählt, die alle Bewohner*innen mit einem Mal in die absolute Gleichstellungssteinzeit zurückversetzt. Wie würdest du dich fühlen, wenn ein Wortzähler an deinem Handgelenk von einem auf den anderen Tag alle Worte aufzeichnet, die du sprichst und dir bei über 100 einen Stromschlag versetzt? Was würdest du tun, um frei zu sein?
Diesen beklemmenden Fragen widmet sich die Autorin Christina Dalcher in ihrem Debütroman ‚VOX‘. Sie beschreibt eine Welt, die so real scheint, dass es beim Lesen Gänsehaut beschert und zeichnet in ihrem Buch ein Amerika, das der Gegenwart sehr nah ist, in dem Frausein vollständige Entmündigung bedeutet. Dalcher gewährt durch ihr Gedankenspiel Einblicke in ein Gesellschaftsszenario, das das Gefühl aufkommen lässt, dass es unserer Realität bei bestimmten politischen Entscheidungen gefährlich nahe rücken könnte. Und genau dieses Gefühl führt die Leser*innen auf eine Reise, die extrem nachdenklich macht – denn was würde ich dann wohl tun?
Jedes Wort zählt
Als Leser*in taucht man direkt in Jean McClellans Gedanken ein – denn nur diese sind noch nicht limitiert. Jean lebt in Amerika mit ihrem Mann Patrick und den vier Kindern, drei Jungs und ein Mädchen. Beim Abendessen berichtet Patrick von seiner Arbeit für den neuen Präsidenten und die Söhne erzählen von ihrem aufregenden Schultag. Nur Jean und ihre kleine Tochter Sonia bleiben stumm. Denn sie tragen ein Armband, das jedes Wort registriert. Abends ist von ihrem Kontingent nicht mehr viel übrig, wenn sogar das tägliche „Ich liebe Dich“ beim Zubettgehen abgezählt werden muss.
Noch vor einem Jahr war Jean eine angesehene Neurolinguistin und Expertin ihres Fachs. Heute ist sie Hausfrau, Mutter und todunglücklich mit ihrer Situation. Eine Präsidentenwahl hat sie in diese, für sie ausweglos scheinende und auch für alle andere vollkommen neue gesellschaftlichen Ordnung geführt. Aus der zuvor aufgeklärten Gesellschaft wird durch wenige, tiefgreifende Entscheidungen und bereitwillige politische Mitläufer ein Gefängnis.. Ausbrechen können weder Frau noch Mann. Für Frauen zeigt sich die Situation jedoch wesentlich unangenehmer.
Lebensgefahr für Widerständler*innen
Widersetzen sich die Frauen den Vorgaben des Systems, werden sie durch Stromschläge gequält, im Fernsehen in aller Öffentlichkeit vor einen Richter gestellt und in Arbeitslager abgeschoben, in denen ihre Wortzähler auf eine Grenze von Null eingestellt sind. Gleichgeschlechtliche Paare erfahren eine ähnliche Behandlung: Sind sie nicht bereit, sich eine*n Partner*in des anderen Geschlechts zu suchen, werden auch sie in Arbeitslager abgeschoben.
„Wenn wir männlicher Führung in Demut und Unterwerfung gehorchen, erkennen wir an, dass der Kopf eines jeden Mannes Christus ist und, dass der Kopf einer jeden Frau der Mann ist.“
Rebellion trotz Gefängnis
Beim Lesen erkennt man in Jean schnell eine mutige Frau, die sich dem System nicht unterwerfen möchte und immer wieder ausbricht. Als sie dann eine kleine Chance auf mehr Freiheit bekommt, entbrennt ein Kampf zwischen ihr und der Regierung, den nicht alle gewinnen können.
Dabei immer wieder diese eine Frage: „Was würden wir tun?“ Sie drängt sich in beinahe jeder Zeile auf und auch einige Zeit nach der Lektüre der knapp 400 Seiten bleibt ‚VOX‘ noch in Erinnerung. Denn Christina Dalcher skizziert eine Dystopie, die alles andere als unrealistisch ist, und zeigt den Leser*innen bekannte Alltagssituationen unter dem Gewand der ultimativen Fremdbestimmung.
Gelungenes Debüt
‚VOX‘ zeigt eine Welt, in der keine Frau gern leben möchte und eröffnet uns einen Blick auf das „Was wäre wenn…“. Denn immer wieder beschreibt Dalcher auch die Wendepunkte in der Geschichte, die zu dem jetzigen Zustand geführt haben. Und trotz der bedrohlichen Rollenverhältnisse und dem Grauen, das auf Jean und ihre Familie wartet, ist eben auch in dieser gesellschaftlichen Ordnung nicht alles schwarz oder weiß. Nicht alle Frauen beugen sich und nicht alle Männer stehen hinter dem System. ‚VOX‘ ist mit der immer wieder aufkommenden Ähnlichkeit zu Klassikern wie ‚The Handmaids Tale‘ keine flüchtige Sommerlektüre, sondern eine wertvolle Ergänzung der hauseigenen Bibliothek, die uns vor dem Schlafengehen Gänsehaut, eine gehörige Portion Spannung und viel Stoff zum Nachdenken beschert.
Wer mehr über die Welt von ‚VOX‘ erfahren möchte, sollte das Buch einfach selbst lesen. Hier könnt ihr es bestellen.
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