Für die meisten Kinder geht es in dieser Woche wieder mit reduzierten Stunden oder Tagen in die Schule. Aber ist das eigentlich sinnvoll? Und ginge es nicht auch ganz anders?
Die Schule geht wieder los! Doch so einfach ist es nicht. Viele Eltern müssen nun ihre schulpflichtigen Kinder an unterschiedlichen Tagen, zu unterschiedlichen Zeiten, für wenige Stunden in die Schule bringen und wieder abholen – wenn möglich, sollen öffentliche Verkehrsmittel dabei vermieden werden.
Gleichzeitig müssen auch immer mehr Eltern wieder ihrer Lohnarbeit nachgehen, da Gastronomie, Kosmetikstudios, Geschäfte und Fitnesscenter wieder öffnen. Die nicht-systemrelevanten Arbeitnehmer*innen müssen das auch ohne Anspruch auf Notbetreuung schaffen.
Mütter ohne Jobs
Diese Art der Schulöffnungen in Kombination mit den wirtschaftlichen Lockerungen, wie sie gerade geplant und durchgeführt werden, werden vermutlich dazu führen, dass immer mehr Eltern und in der Hauptsache Mütter ihre Arbeitszeit reduzieren, Jobs kündigen müssen oder gekündigt werden. Und dazu, dass Einzelunternehmerinnen, die nicht das Haupteinkommen für die Familie erwirtschaften, ihre Unternehmen aufgeben müssen.
Zynischerweise steht denen, die wegen fehlender Kinderbetreuung arbeitslos werden, noch nicht einmal Arbeitslosengeld zu, da sie ja dem Arbeitsmarkt – wegen der Kinder – gerade nicht zur Verfügung stehen; beziehungsweise steht ihnen erst dann Arbeitslosengeld zu, wenn die Betreuung der Kinder anderweitig wieder gesichert ist. Denn nur wer dem Arbeitsmarkt mehr als 15 Stunden/Woche zur Verfügung steht, hat Anspruch auf Arbeitslosengeld. Wer früher voll gearbeitet hat, aber jetzt die Kinder beispielsweise über Notbetreuung oder Nachbarschaftshilfe nur 20 Stunden betreut weiß, hat zwar Anspruch auf Arbeitslosengeld, aber nur in der einer halben Stelle angepassten Höhe.
Verschlechterung der Situation
Das ist eindeutig nicht das, was sich viele Eltern mit den angekündigten Schulöffnungen für ihr Arbeitsleben erhofft hatten. Eltern, die oft bereits seit fast zwei Monaten versuchen, irgendwie mit der plötzlichen Doppelbelastung fertig zu werden. Die Situation hat sich jetzt für viele Familien sogar noch verschlechtert – vom zusätzlichen Infektionsrisiko ganz zu schweigen. Wenn die Schulen wieder öffnen würden, um die Eltern zu entlasten, hätte das zu anderen Konzepten geführt.
Da Bildung Ländersache ist, haben jeweils die einzelnen Bundesländer entschieden, welche Klassen ab wann wieder Präsenzunterricht bekommen sollen. Die Schulen mussten auf Basis der vorgegebenen Hygienepläne jeweils ihre eigenen Konzepte erarbeiten: Alternierend, rollierend, in Blöcken, in Tagen, in Wochen …
Das Resultat: Die meisten Kinder gehen bis zu den Sommerferien nur für zwei bis drei Schulstunden am Stück in die Schule – und das häufig nicht jeden Tag und nur bis zu den Sommerferien.
Komplexe Familienlogistik
Insbesondere in Familien mit mehreren Kindern kann das die Familienlogistik so komplex machen, dass ein Elternteil fortan nur noch damit beschäftigt sein wird, sicherzustellen, dass jedes Kind zur richtigen Zeit mit den richtigen Utensilien (Masken waschen nicht vergessen!) an der richtigen Schultür steht und auch wieder nach Hause kommt. Wie eine Userin auf Twitter schreibt: „Währenddessen bastle ich eine Excel-Datei, um nicht zu vergessen, wann ich welches Kind in die Schule zum Unterricht schicke, wann zur Betreuung, wann beide daheim sind und wie ich wann arbeiten kann. Alles super easy.“
All diejenigen, die sich nun in den vergangenen acht Wochen im Homeoffice mit Homeschooling unter widrigen Umständen einigermaßen organisiert hatten, stehen jetzt vor noch größeren Schwierigkeiten: Videocalls kollidieren mit dem Schulweg des Kindes, die bisherigen Arbeitszeiten sind oft nicht mehr planbar, weil sich die Schulzeiten kurzfristig und von Woche zu Woche ändern.
Arbeiten gehen, weil die Kinder wieder in der Schule sind?
Die meisten Eltern zeigen durchaus Verständnis für die Schwierigkeiten der Einrichtungen, funktionierende Konzepte über Nacht aus dem Boden zu stampfen, aber das ändert nichts daran, dass Eltern so einfach nicht verlässlich lohnarbeiten können.
Wie kann es also sein, dass jetzt bundesweit der Druck auf die Eltern noch erhöht wird, das Infektionsrisiko gesteigert und damit die schnellere Ausbreitung des Corona-Virus’ in Kauf genommen wird, für eine Handvoll Präsenzunterrichtsstunden pro Schüler*in, bei großem Aufwand für die Schulen? Wie kommt man darauf?
Schulöffnungen der Schulpflicht zuliebe?
Die Antwort ist wohl: Die Schulpflicht ist viel tiefer in unserer Gesellschaft verankert als ein Recht auf staatliche Kinderbetreuung. Die Schulöffnungen wurden also nicht beschlossen, um das Familieneinkommen von zwei Elternteilen zu sichern oder die Mütter zu unterstützen, ihren Beruf weiter ausüben zu können, finanziell unabhängig zu sein und Rentenpunkte zu sammeln oder auch einfach mal durchzuatmen , sondern für die Schulpflicht – weil das historisch und gesetzlich so verankert ist.
Schon im 17. Jahrhundert gab es in einigen deutschen Fürstentümern eine Schulpflicht. Bayern und Preußen folgten im 18. Jahrhundert. Und seit 1919 schrieb die Weimarer Verfassung dann die Schulpflicht für ganz Deutschland fest. Aktuell steht im Artikel 7 des Grundgesetzes: (1) Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates.
Und alles, was damit zu tun hat, wird in den Landesverfassungen und Schulgesetzen der einzelnen Bundesländer geregelt, und zwar über Schulen, staatlich beaufsichtigte Prüfungen und eben die Schulpflicht. Wenn man allerdings die Eltern zu Hause unterrichten lässt, ist es mit der Aufsicht eher schwierig – zumindest so, wie es gerade läuft.
Kinderbetreuung: netter Nebeneffekt
Der Auftrag von Schule an sich ist beispielsweise laut dem Berliner Schulgesetz: „ (…) alle wertvollen Anlagen der Schülerinnen und Schüler zur vollen Entfaltung zu bringen und ihnen ein Höchstmaß an Urteilskraft, gründliches Wissen und Können zu vermitteln.“
Von Kinderbetreuung steht dort nichts. Sie ist ein netter Nebeneffekt, an den wir uns organisatorisch gewöhnt haben. Um den geht es aber eigentlich nicht. Und deswegen wird der Faktor Kinderbetreuung bei der Öffnung der Schulen gerade auch nicht berücksichtigt. Wohlgesonnen könnte man sagen, es geht um die Bildung der Kinder und Bildungsgerechtigkeit. Aber ob diese Art von Präsenzunterricht tatsächlich zielführend ist, wage ich zu bezweifeln.
Wenn man die Schulpflicht also umzusetzen möchte, ohne den Infektionsschutz ganz aus den Augen zu verlieren, kommt man auf die Lösungen, die wir jetzt haben und das erklärt auch, wieso die Kitafrage immer hinten dran ist. Denn Kitas sind tatsächlich nicht nur Bildungseinrichtungen, sondern dienen ganz offiziell der Kinderbetreuung. Und gerade die Krippen und Tagesmütter, die ganz groß gehandelt wurden, als es um das Thema Gleichberechtigung ging, stehen jetzt ganz hinten in den Diskussionen an. Genauso wie Horte und andere Nachmittagsbetreuung, die es bräuchte, damit Eltern wieder ihrer Lohnarbeit nachgehen können.
Arbeiten oder Haushalt führen?
Den bundesweiten Anspruch auf einen Kitaplatz für Kinder ab einem Jahr gibt es erst seit sieben Jahren und nicht bereits seit 400. Und noch bis 1977 stand im BGB § 1356: „Die Frau führt den Haushalt in eigener Verantwortung. Sie ist berechtigt, erwerbstätig zu sein, so weit dies mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar ist. (…)“ Noch bis vor 43 Jahren wäre die heutige Situation zumindest offiziell nie zu einem Problem geworden – zumindest nicht in Westdeutschland.
Heute stehen zum Glück auch erfrischende Sätze in den Gesetzen, zum Beispiel in der Berliner Landesverfassung: Artikel 10: (3) „Frauen und Männer sind gleichberechtigt. Das Land ist verpflichtet, die Gleichstellung und die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern (…) herzustellen und zu sichern. Zum Ausgleich bestehender Ungleichheiten sind Maßnahmen zur Förderung zulässig.“
Verständnislose Expert*innen
Und tatsächlich wurden Frauen in den vergangenen Jahren ermuntert, eine eigene Berufsperspektive zu entwickeln – allein schon um die Altersarmut zu lindern. Und gerade die Eltern, die versucht haben, sich Lohn- und Care-Arbeit möglichst gleichberechtigt zu teilen, werden nun besonders hart abgestraft, während sich bei den Eltern, die noch das „Modell vor 1977“ fahren, gar nicht so viel geändert haben dürfte. Und deswegen verstehen viele der älteren Generation (der auch viele der Expert*innen aus den „Corona-Gremien“ angehören) das Problem auch gar nicht – solange die Mutter zu Hause ist (und der Vater genug verdient) gibt es für sie kein Problem.
Und so fühlen sich die Maßnahmen aus der jüngeren Vergangenheit eher wie Kosmetik an, die die Ungleichheit überdecken sollen. Die Erwartungshaltung von früher wird deutlich sichtbar. Sie scheint immer noch tief verwurzelt zu sein.
Die Frage, die sich uns in diesem Ausnahmezustand jetzt stellt, ist doch aber: In was für einer Gesellschaft wollen wir in Zukunft leben? Wie und mit welchen Vorbildern sollen unsere Kinder aufwachsen?
Was würde denn passieren, wenn wir als Gesellschaft beschließen, dass wir die Schulpflicht bis zum Ende der Pandemie aussetzen und allen Eltern für ihre Kinder im Altern von 1-16 Jahren eine wöchentliche Betreuungszeit von mindestens 20 Stunden zusteht? Etwa in altersgemischten Kleingruppen von fünf Haushalten. Wenn sie die nicht in Anspruch nehmen wollten, hatten sie ein Recht auf ein Corona-Elterngeld.
Was wäre, wenn wir davon ausgingen, dass Kinder vor allem Eltern brauchen, die nicht ausgebrannt sind? Die nicht wegen ihren Kindern ihren Job verlieren? Die nicht ihretwegen große finanzielle Sorgen haben? Eltern, die sich nicht wünschten, gerade keine Kinder zu haben?
Kuscheln und Raufen statt zwei Meter Abstand
Was wäre, wenn wir davon ausgingen, dass es für Kinder wichtiger ist, ein Sozialleben mit einer Handvoll Kinder zu haben, mit denen sie auch kuscheln und raufen dürfen, anstatt Frontalunterricht mit zwei Metern Abstand zu anderen Kindern zu bekommen und diesen Abstand auch in der Hofpause einhalten zu müssen?
Was wäre, wenn Arbeitgeber*innen nicht auf Eltern als Arbeitnehmer*innen verzichten wollen, aber Eltern brauchen, die sich auf ihre Arbeit konzentrieren können und zuverlässige Terminabsprachen machen können? Eltern, die in Schichten eingeplant werden können?
Was wäre, wenn wir das alles anders aufrollen würden? Ausgehend vom Recht auf Kinderbetreuung und nicht ausgehend von der Schulpflicht? Ich bin mir sicher, es gäbe tragfähige Konzepte. Man müsste es aber tatsächlich wollen.