Obdachlose
Foto: Nathan Griffith / Getty Images

Die Matratze im Hinterhof. Wie nah darf uns Elend kommen?

In Deutschland leben 262.600 wohnungslose Menschen. Für unsere Autorin Fiona Rohde hat diese Zahl plötzlich ein Gesicht, als eine Frau in ihrem Hinterhof auftaucht – und bleibt. Fiona stellt sich und uns die Frage: Wie nah darf uns Elend kommen?

Irgendwann war da diese Matratze. Tagsüber lag sie auf dem Gehweg vor meiner Wohnungstür. Nachts hatte man sie in den Hinterhof geschleift. In den folgenden Tagen sah ich dann die alte Frau. Zumindest sah sie alt aus. Sie schien leicht verwirrt, beschimpfte tagsüber die Menschen auf der Straße vor meinem Haus, um dann nachts auf der Matratze zu schlafen.

Am nächsten Tag sah ich sie ihre Notdurft im Hinterhof verrichten. Wie ein kleines Kind hockte sie da. Sicher, dass niemand sie beobachten würde. Und ich stand am Fenster, sah hinaus und fühlte mich falsch. 

Wäre mir die Frau woanders begegnet, wäre es vielleicht nicht so gewesen, dieses Gefühl. Längst haben wir uns daran gewöhnt, Tag für Tag Menschen zu sehen, die auf der Straße leben. Die keine vier Wände haben, mit einer Tür, die man von innen hinter sich schließen kann. Sie gehören zu jeder U-Bahn-Fahrt, wie die mechanisch klingende Stimme vom Band. „Nächster Halt Dom, Hauptbahnhof.“ „Hast du mal einen Euro?“ „Bitte machen Sie die Türen frei“. Das Grundrauschen der Großstadt.  

Und auch wenn das Tier Gewohnheit uns abzustumpfen versucht: Mein Herz schlägt für diese strauchelnden Menschen. Es trifft, berührt und irritiert zugleich zutiefst zu sehen, wie Menschen aus der Gesellschaft herausfallen, aus den unterschiedlichsten Gründen. Wie sie schutzlos in der Öffentlichkeit leben. Wie sie die abweisenden Blicke der Menschen treffen. Oder die totale Ignoranz.  

In Deutschland leben (Wohnungslosenbericht 2022 des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales*) 262.600 wohnungslose Menschen. Das sind die offiziellen Zahlen. Hier ist die eine von den 262.600, die plötzlich ein Gesicht hat. Länger als dieser Sekundenmoment in der U-Bahn. Sie geht nicht schnell weiter. Sie bleibt. 

Plötzlich steht das Elend in meiner Wohnung. An meinem Küchentisch und brüllt mir ins Gesicht: „Na, du Wohlstands-Arsch. Damit kommst du nicht klar, was?!“ 

Ich teile mit ihr einen intimen Moment, der mich peinlich berührt, weil es nicht normal sein sollte, dass ein Mensch in der Öffentlichkeit urinieren, schlafen und sich waschen muss. Dass er in den Resten rumwühlt, die ich am Vortag in den Müll geworfen habe. Dass er von mir weggeworfene Blätter und Notizen aus der Papiertonne nimmt, und sie im Hinterhof in einer eigenartigen Symmetrie verteilt, sie betrachtet und sich daran wie ein Kind erfreut.  

Und so ergeht es mir anders als sonst, in diesem Moment, als ich in den Hinterhof schaue. Und das Gefühl verstärkt sich noch in den folgenden Tagen, in denen die Matratze zwischen Bürgersteig und Hinterhof hin- und hergetragen wird. Tagsüber vor dem Haus. Nachts im Hof. 

Ich möchte helfen, Geld, ein warmes Getränk, etwas zu essen. Und gleichzeitig merke ich hier, dass ich an meine Grenzen komme. Denn jetzt kann ich Not und Elend nicht weglächeln, ihm eine Münze in die Hand drücken und schon ist dieser Mensch wieder in seinem Leben und ich in meinem. Hier ist jemand, der plötzlich in meinem Alltag auftaucht und bleibt und nicht an der nächsten Haltestelle aussteigt. Egal, wann ich aus dem Fenster schaue: Sie ist da.  

Ich habe darüber mit Freund*innen gesprochen, wie verlogen ich mir vorkomme. Wie hin- und hergerissen ich bin. Ich will helfen. Und gleichzeitig will ich, dass diese Frau, die dort hinten zwischen den Mülltonnen lebt, nicht mehr Tag für Tag 24 Stunden dort unten vor meinem Fenster ist.  

Plötzlich steht das Elend in meiner Wohnung. An meinem Küchentisch und brüllt mir ins Gesicht: „Na, du Wohlstands-Arsch. Damit kommst du nicht klar, was?!“ Dort lebt ein Mensch in erbärmlichen Umständen auf einer dreckigen Matratze, während hier oben gerade die Heizung vor sich hin bollert, der Teebeutel vor sich hinzieht. Nette Musik im Radio. Wie nah darf uns das Elend auf die Pelle rücken? Wie sehr darf es in unseren Alltag eindringen? 

Ich kann nicht sagen, wie beschämend sich das anfühlt, diese Gedanken zu haben. Ich fühle mich unwohl. Habe ich einen Grund? Nein. Dieser Mensch dort unten aber sehr wohl. Fakt ist: Es mangelt Obdachlosen an einem sicheren Raum, der Schutz bietet. Sie leiden mehrheitlich unter gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Das Leben auf der Straße nimmt sich viel. Zehrt an Körper und Seele. 

Zudem werden sie häufig Opfer von Gewalt in den verschiedensten Formen, sei es physisch, psychisch oder in Form von Eigentumsdelikten. Die mit Abstand häufigste Form von Gewalt ist jedoch die verbale Gewalt. Beleidigungen, Beschimpfungen und Drohungen. Über 70 Prozent aller wohnungslosen Menschen, die Gewalterfahrungen machen mussten, sagen, dass sie verbaler Gewalt ausgesetzt seien.  

Seien wir ehrlich: Das Elend der anderen muss eine zeitliche und räumliche Begrenzung haben, damit wir uns in der Lage sehen, es zu ertragen. Wir müssen es ausschalten können, so wie wir die Tagesnachrichten irgendwann abschalten können nach 30 Minuten.  

Warum fühle ich mich unwohl wegen einer Matratze im Hinterhof? Ein Stück Stoff, das jemandem einen Ort bietet, der keinen Ort besitzt?  

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