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Erziehungsratgeber: Über die Sehnsucht nach Anleitung – und die Angst, etwas falsch zu machen

Als die Kinder kamen, wurde unsere Communityautorin Barbara süchtig nach Ratgebern – schließlich wollte sie unbedingt alles richtig machen. Bis sie irgendwann merkte: Sie war nicht mehr in der Lage, dem zu folgen, was ihr Herz ihr sagte.

Wir wollen immer alles richtig machen

Für alles gibt es heute Anleitungen. Auf der Rolltreppe sollen wir rechts stehen, im Bus zügig durchgehen, im Flugzeug die Sauerstoffmaske zuerst uns selbst überziehen. Wir werden angeleitet, keinen Müll auf die Straße zu werfen, beim Autofahren Abstand zu halten und in Geschäften erst ab einem bestimmten Betrag mit EC-Karte zu zahlen. In einer bestimmten Zeit in meinem Leben hatte ich das dringende Bedürfnis, angeleitet zu werden: Als meine Kinder kamen, wollte ich unbedingt immer alles richtig machen.

Die Formeln der Ratgeber

Es fing schon mit der Frage an: Bin ich schon zu alt, oder vielleicht noch zu jung für ein Kind? Also kaufte ich mir einen Ratgeber über den richtigen Zeitpunkt, Kinder zu bekommen. Ich lernte, wie ich die fruchtbaren Tage von den unfruchtbaren unterscheiden konnte. Eigentlich war mir das leichte Ziehen im Bauch schon lange vertraut, und es stimmte auch, dass ich an diesen Tagen mehr Lust auf Sex hatte, nur benennen konnte ich es nicht. Der Ratgeber gab mir die Formel der Fruchtbarkeit.

Als ich aber trotz meiner fruchtbaren Tage nicht zum richtigen Zeitpunkt schwanger wurde, musste wieder ein Ratgeber her. Ich erfuhr, dass es verstopfte Eileiter gab, dass bei Endometriose die Gebärmutterschleimhaut erkrankt ist, dass Progesteron hilft, den Zyklus zu regulieren und schneller schwanger zu werden. Ich wusste jetzt viel mehr, nur nicht, was genau auf mich zutraf. Glücklicherweise brauchte ich das auch nicht, denn dann war ich plötzlich doch schwanger geworden. Der richtige Zeitpunkt hatte einfach Zeit und keine Formeln gebraucht.

Jede Frage wird beantwortet, selbst die, die wir uns nicht gestellt haben.

Doch mit der Schwangerschaft fing meine Sehnsucht nach Anleitung erst richtig an. Ich musste mich darüber informieren, was ich essen durfte und was nicht. Wie viele Tassen Kaffee am Tag schaden einem Ungeborenen wirklich? Ich lernte neue Begriffe wie Toxoplasmose, und aß deswegen kein Fleisch mehr, nahm vor Katzen reißaus. Als sich das Ende der Schwangerschaft näherte, wurde die Geburt zum Thema. Dabei war die Frage nach der Periduralanästhesie noch die geringste. Unglaublich viele Details gab es zu regeln und vor allem: Alles sollte unbedingt richtig laufen. Selbst beim dritten Kind kaufte ich mir noch Ratgeber, eben einen für Mütter ab 35.

Postnatal ging es um die richtige Kinderernährung, die beste Betreuung, die ausreichende Förderung. Einfach alles ließ und lässt sich über Ratgeber regeln. Jede Frage wird beantwortet, selbst die, die wir uns nicht gestellt haben. Und genau das ist vielleicht das Problem.

Es ist nicht so, dass mir die Ratgeber nicht halfen, im Gegenteil. Sie waren eine große Unterstützung. Denn Ratgeber, das ist ihre Natur, haben auf jede Frage die richtige Antwort, passend für jede Lebenslage. Die Wahl des Kindergartens, der Kinderkleidung, das richtige Vorgehen im Fall einer Scheidung. Ratgeber waren und sind immer für mich und meine Kinder da.

„Das kannst du nachlesen“, argumentierte mein Mann oft, wenn er das Gefühl hatte, dass ich ihm nicht glauben wollte. Und auch er fühlte sich beruhigt, wenn ich ihm Quelle und Autor nennen konnte, von dem dieser oder jener Ratschlag kam.

Vor lauter Anleitung den Weg nicht mehr sehen

Ohne es zu merken, waren wir von Ratgebern abhängig geworden. Plötzlich waren es nicht mehr wir, die unsere Kinder erzogen, sondern die vielen Ratgeber, die wir konsultierten. Uns wurde empfohlen, wann wir unsere Kinder schreien lassen sollten, wann wie Nein sagen, und wann wir getrost nachgeben konnten. Manchmal aber widersprachen sich die Ratgeber. Und plötzlich mussten wir eine dritte Meinung heranziehen. Einen weiteren Ratgeber erstehen, eine zusätzliche Quelle finden, die uns in die eine oder andere Richtung leitete. Ohne es gemerkt zu haben, waren wir in einen Dschungel aus Ratschlägen geraten. Wir sahen vor lauter guten Hinweisen den Weg nicht mehr. Einfache Fragen, wie, ob die Kinder mit einer Wasserpistole spielen dürften oder nicht, überforderten uns. Denn weder mein Mann noch ich wollten die Kinder mit Gewaltobjekten spielen sehen. Aber wir wollten ihnen auch nicht den Spaß verderben.

„Hast du als Kind mit Wasserpistolen gespielt?“, fragte mich mein Mann. Ich hatte, und er auch. Weder er noch ich schafften es, den Herausforderungen, die Kinder mit sich bringen, immer so entspannt entgegenzusehen, wie es die Spezialisten in Ratgebern schreiben. Und je mehr wir über die richtige Erziehung lasen, umso mehr verzweifelten wir an unserer eigenen Fehlbarkeit.

Mit Kindern lässt sich nicht experimentieren

Mit Erziehungsratgebern ist es wie mit Origamifalten. Das finale Produkt der Beschreibung sieht wunderbar aus, nur erreicht der gewöhnliche Leser solcher Anleitungen diese Perfektion selten. Auch schreiben die Autoren in der Regel nicht, wie viele Versuche und Zeit sie gebraucht haben, um das perfekte Resultat zu erreichen. Mit Kindern lässt sich aber nicht experimentieren. Und Zeit ist überhaupt ein nicht überschaubarer Faktor in der Kindererziehung. Zeit ist etwas, was wir oft meinen, nicht zu haben. Und so wollen wir auch beim Erziehen das richtige Resultat in möglichst kurzer Zeit erzielen. Besser gesagt, sofort.  Zeit ist aber das, was unserer Kinder am meisten haben. Das sollten wir nicht vergessen.

Das ganze Leben Zeit haben

Nachdem wir vor einigen Jahren glaubten, die richtige Schule (den Ratgebern sei Dank) für unsere große Tochter gefunden zu haben, stellte sich die Frage, wie das Kind täglich dorthin kommen sollte. Zwar lebten wir damals noch in einer deutschen Kleinstadt, aber die Schule war doch ein paar Kilometer weit weg. Wir hatten keinen Zweitwagen und das Zeitfenster meines Mannes korrespondierte nicht mit dem der Schule. Ich hatte vor meiner Arbeit das nötige Zeitfenster, aber kein Auto. Das Kind musste mit dem Bus in die Schule und die nächste Frage war, ob es alleine fuhr oder nicht. Andere Eltern ließen ihre Kinder allein fahren. Schließlich sollen Schulkinder Autonomie lernen. Und Ratgeber rieten zu mehr Mut zum Loslassen.

„Sie hat doch noch ihr ganzes Leben, um allein Bus zu fahren“, sagte mein Mann am Abend vor der ersten Busfahrt. Dieser Satz rüttelte an meiner Perspektive. Ich realisierte, selbst der Blick in den Himmel ist eigentlich eine Sicht in die Vergangenheit. Auch das Licht der Sonne braucht acht Minuten, um uns zu erreichen. Mein Kind brauchte nur Zeit, dann würde es alleine Bus fahren. Ich beschloss, das Kind zu begleiten, so lange, bis es selbst nicht mehr wollte, dass ich morgens mit ihm in den Bus stieg. Heute fährt unsere Tochter nicht nur ohne mich Bus, sie steigt auch allein ins Flugzeug oder in den Zug, um allein quer durch Europa zu  reisen. Damals aber, als ich am frühen Morgen müde mit dem Kind im Bus in die Schule fuhr, tröstete ich mich oft mit diesem Gedanken, dass dieser Moment eigentlich nur sehr kurz, und die Zeit, die wir später ohne einander verbringen würden, sehr lang war. Und das hatte ich in keinem Ratgeber gelesen, sondern das hatte mir mein Herz gesagt.

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