Die Journalistin Shila Behjat hat ein Buch mit dem Titel „Söhne großziehen als Feministin” geschrieben. Wir sprachen mit ihr über das Bedürfnis, den Anspruch und die Herausforderungen, die mit ihrer (Lebens-)Aufgabe einhergehen.
Shila Behjat ist Mutter, Publizistin und Feministin. In ihrem Anfang 2024 erschienenen Buch thematisiert sie den Spagat zwischen feministischem Aktivismus und der Aufgabe, ihre Söhne vor der eigenen Vorverurteilung zu bewahren. Behjat erkennt in ihrem Alltag, dass Geschlechterungerechtigkeiten und Gewalt auch nicht vor Jungen und Männern halt machen und sieht eine Zukunft des Feminismus nur in einer Allianz zwischen den Geschlechtern, die wir auch damit erreichen, wenn sich Männer in feministischen Zielen – wie der Abschaffung des Patriarchats – wiederfinden.
Was genau hat dich zum Schreiben bewegt? Was hat dir den Anlass gegeben, zu sagen: Jetzt ist genau die richtige Zeit dafür!
„Je mehr Zeit seit Erscheinen meines Buchs vergeht, desto wichtiger empfinde ich es, dass wir über Männlichkeit nachdenken. Und eben auch darüber nachdenken, was eigentlich der Platz von Männern in unserer Gesellschaft sein soll, wenn wir von einer gerechteren und freien Welt für alle sprechen. Für mich wurde diese Frage bisher noch nicht beantwortet, deshalb versuche ich das tagtäglich als Mutter zweier Söhne und mit dem Buch, das ja auch ein Streitgespräch mit mir selbst ist. Als Feministinnen wissen wir, was wir nicht mehr wollen und was Männer nicht sein sollen. Das lässt sich recht einfach benennen. Wir sind aber meiner Meinung nach an einem Punkt, an dem wir vor allem definieren müssen, wie wir uns feministische Männer vorstellen.“
Kannst du diesen Gedanken etwas näher erläutern?
„Wir drehen uns berechtigterweise um die großen Begriffe wie Gleichberechtigung und Gerechtigkeit. Für die Umsetzung von Feminismus im Alltag sollten wir uns fragen, was genau das ,Endziel‘ unserer Bewegung sein soll. Wir wollen die männliche Vorherrschaft und das Patriarchat abschaffen, klar. Ich meine jedoch, dass es für eine gemeinsame Umsetzung dieses Ziels, an der Männer, non-binäre Personen und Frauen beteiligt sind, eine positive Formulierung des Ganzen geben müsste. Unsere Vision ist eine gerechte Welt, eine gleichgestellte Welt, eine freie Welt. Und natürlich müssen in dieser Welt auch Männer einen Platz haben. Und diesen (neu) zu definieren, das scheint für uns alle noch schwer zu sein.“
Laut einer Erhebung aus dem Jahr 2023 sagten nur 15 Prozent der Deutschen, dass sie sich als Feminist*innen bezeichnen. Gleichzeitig gaben aber 83 Prozent der Befragten an, dass Frauen und Männer die gleichen Rechte und den gleichen Status haben sollten. Wie erklärst du dir diese Dissonanz? Liegt es vielleicht am Begriff „Feminismus“?
„Feminismus ist zu einem Kampfbegriff geworden, mit dem viele hadern. Ihm wird unterstellt zu spalten, Menschen kleinzumachen, auch Menschen auszuschließen. Aber, ehrlich gesagt, ist mir die Bezeichnung egal. Ich halte diese 83 Prozent derer, die für gleiche Rechte sind, erst mal für die positive Nachricht, bevor ich mich auf die restlichen 15 Prozent konzentriere. Gleiche Rechte für alle zu wollen, ist ein von Grund auf feministischer Gedanke. Leider wird Feminismus in der Mehrheitsgesellschaft als eine Form von Nebeninteresse dargestellt. Ganz so, als würde ich sagen, dass zu meinen Interessen Lesen, Schwimmen und der Kampf für Gleichberechtigung von Männern und Frauen gehört.“
Feminismus ist also kein Hobby …
„Definitiv nicht. Denn Feminismus möchte eine grundlegende Gleichstellung der Menschen erreichen und ist ein fundamentales Prinzip. Interessant ist zum Beispiel, wie der israelische Historiker Yuval Harari in seinem neuen Buch ,Nexus’ darüber schreibt. Er verwendet die Begriffe Frauenrechte und Menschenrechte. Und er sagt ganz klar, dass wir uns dazu bekennen müssen, dass das die Facetten und Wesensmerkmale einer Demokratie sind. Demokratie bedeutet nicht nur, dass wir frei wählen können, sondern dass es universelle Menschenrechte gibt. Und diese gelten natürlich auch für Frauen. Wenn 83 Prozent einer befragten Menschenmenge für Gleichberechtigung sind, dann lese ich daraus, dass sie verstanden haben, worum es geht. Jetzt liegt das Problem nur noch in der Umsetzung.“
Mangelt es vielleicht an einer erfolgreichen Übertragung von feministischen Zielen in den Alltag?
„Durchaus. Viele Männer, aber auch Frauen, haben ja Hemmungen, sich überhaupt Feminist*in zu nennen, weil sie denken, dass sie dann automatisch Teil einer Aktivist*innengruppe wären. Sie fragen sich: Ab wann bin ich eigentlich Feminst*in? Das ist vielen gar nicht klar. Dabei fängt es doch damit an, dass sich Männer in ihrer Rolle als Väter, Brüder, Onkel und Freunde ihrer Privilegien gegenüber Frauen bewusst sind. Privilegien aus dem Alltag, zum Beispiel nachts sicher nach Hause zu kommen. So kann ich meinen Söhnen Feminismus auch viel näherbringen.“
Deine Söhne sind „Feministen in Ausbildung“. Wann würdest du als ihre Mutter diese Ausbildung für erfolgreich abgeschlossen halten?
„Bevor ich Mutter wurde, hätte ich wahrscheinlich gesagt, dass meine Söhne Feministen sind, wenn sie das von sich selbst behaupten. Das ist natürlich nicht so, das weiß ich heute. Für mich ist das Ziel erreicht, wenn meine Kinder verinnerlicht haben, was Gerechtigkeit bedeutet. Wenn sie verinnerlicht haben, dass man immer wieder zur Aktion gerufen wird gegen Ungerechtigkeit und dass es Handlungsbedarf gibt und sie sich mit ihrer Rolle in verschiedenen Situationen auseinandersetzen. Sie sollen sich fragen: Wo muss ich ausgleichen? Wo muss ich auch für meine Rechte eintreten? Dieser ganze Strauß an Wahrnehmung und Verinnerlichung dessen, was wirklich Gerechtigkeit und Gleichheit bedeutet, macht sie zu Feministen.“
Feministische Erziehung ist ein schmaler Grat zwischen alltäglichen Herausforderungen und komplexer Politik. Wie verbindest du beide Elemente?
„Interessanterweise führen uns die Feinde der Demokratie am besten vor Augen, wie nah Frauenrechte und eine funktionierende demokratische Werteordnung beieinanderliegen. Sie beschneiden als allererstes immer die Rechte der Frauen. Weil sie verstehen, dass freie Frauen das größte Übel für ihre patriarchale Weltanschauung sind. Je bewusster mir das wurde, desto ,einfacher’ fiel mir die Entscheidung, meine Söhne bewusst feministisch erziehen zu wollen.“
Wenn du eine nicht diverse Gesellschaft haben willst, fang bei den Frauen an…
„Richtig! Gott sei Dank gibt es jetzt immer mehr Erhebungen, die herausarbeiten, dass das Frauenwahlrecht nicht nur eine wichtige Etappe in der Geschichte war. Frauen wählen zu lassen, hat einen Grundstein für die Entwicklung moderner Staaten und moderner Gesellschaften gelegt. Es ging also nie um die Hälfte der Menschen, sondern um uns alle. Und, das sollten wir nicht vergessen, Frauen waren immer für Demokratie und Gerechtigkeit im Einsatz, auch dann, als sie noch von der Demokratie ausgeschlossen waren. Es ist unwahrscheinlich wichtig, dass wir diese Entwicklung aufarbeiten und verinnerlichen.“
Auf einer kürzlich stattgefundenen Pressekonferenz von Hawar.help und dem Centre for Feminist Foreign Policy (CFFP), einer Beratungsorganisation zu „Feministischer Außenpolitik“, hast du auf einem aus Frauen und non-binären Personen bestehenden Podium gesessen und sehr polarisierend in die Runde gefragt, wo denn die Männer seien. Wie bekommen wir sie auf unsere Seite, beziehungsweise auf das sinnbildliche Podium?
„Das ist eine Frage, die mich täglich umtreibt. Wir müssen feststellen, dass Frauen und non-binäre Menschen einen enormen inhaltlichen Vorsprung im Vergleich zu (weißen) Männern haben. Wir kennen und erleben Diskriminierung und sind es gewohnt, gegen Ungleichheit laut zu werden. Wir sind empathischer für die Ungerechtigkeiten anderer marginalisierter Gruppen, weil wir selbst betroffen sind. Für Männer heißt es, dass sie sich einerseits über diesen Vorsprung bewusstwerden und dann versuchen müssen, diesen einzuholen. Es müssen also gleich zwei Dinge passieren. Das ist nicht einfach. Ich glaube, dass wir für die Sensibilisierung schon viel getan haben, jetzt geht es darum, dieses Narrativ in Taten zu übersetzen.“
Laut einer Studie des Marktforschungsunternehmens Ipsos aus diesem Jahr bejahen 60 Prozent der befragten Männer in Deutschland, dass „hinsichtlich der Gleichstellung in Deutschland schon genug getan wurde“. Auch 38 Prozent der Frauen stimmen dieser Aussage zu. Spricht das für ausreichend Sensibilisierung?
„Überzeugung gelingt oft durch Identifikation. Also, die Männer dort zu erreichen, wo sie in ihrem Alltag stehen. Das geht am besten mit direkten Vergleichen: Schau dir die Frauen und non-binären Menschen in deinem Leben an. Willst du nicht dafür kämpfen, dass eine Frau angstfrei joggen gehen kann? Dass sie in einer Bar sitzen kann, ohne auf ihren Drink aufzupassen? Oder über ihren Körper bestimmen kann? Das lässt sich jetzt ewig so durchdeklinieren … ich glaube, dass diese Art der Sensibilisierung fruchtet, weil sie dazu führt, dass Feminismus aus Empathie heraus unterstützt wird.
Außerdem müssen wir uns als Gesellschaft viel mehr damit beschäftigen, was es für Gewalt in unserer Mitte gibt, weil da auch männliche Erfahrung drinsteckt. Frauen werden öfter Opfer häuslicher Gewalt. (Anm. d. Red.: 70,5 Prozent), aber Männer sind mehrheitlich Opfer von Körperverletzung. (Anm. d. Red.: 60 Prozent). Als Feminist*innen kämpfen wir für ein Ende von Gewalt gegen Frauen. Wir müssen aber verstehen, dass beide Arten von Gewalt aus patriarchalen Strukturen entstehen. In beiden Fällen sind Männer die Täter. Die Bedrohung durch männliche Gewalt kennen Frauen und Männer daher gleichermaßen, auch wenn die Motivationen dahinter verschiedenen sind.“
Kritiker*innen könnten jetzt behaupten, dass man Feminismus auf diese Weise verwässert. Was würdest du darauf antworten?
„Es ist wichtig, dass wir die von Männern ausgehende Gewalt hervorheben, um Allianzen zu bilden. Dazu möchte ich vor allem eins sagen, was ich als Mutter von Söhnen beobachte: Ich musste lernen, Männer auch als Opfer des Patriarchats zu sehen und ihnen ein gewisses Maß an Mitgefühl entgegenzubringen. Männer wiederum müssen lernen, sich selbst einzugestehen, dass auch sie Opfer sind. Das machen die meisten nur selten. Wenn wir immer den Vergleich bei häuslicher Gewalt machen, kommen Männer natürlich wesentlich besser davon. Aber das kann nicht der Punkt sein, wenn wir sie für unsere Sache sensibilisieren wollen.
Wir brauchen mehr Transparenz über das Patriarchat in unserer Mitte, nicht nur das, was viele im Islam und anderen Kulturen vermuten und sich damit nicht identifizieren können. Das Patriarchat findet auch in Deutschland statt und ist unter anderem mit dafür verantwortlich, dass so wenige Väter Elternzeit nehmen und dass Jungs immer noch beigebracht wird, nicht zu weinen und keine Gefühle zu zeigen.“
Wie gehst du damit um, wenn deine Söhne in der Schule, beim Sport oder in der Theater AG Narrative aufnehmen, die mit deiner feministischen Erziehung nicht einhergehen? Wie schaffst du es, eine Balance aus äußeren Einflüssen und innerer Sozialisierung zu wahren?
„Diese Frage stelle ich mir permanent. Je älter meine Kinder werden, desto geringer wird mein Einfluss. Die Grundlagen unserer Erziehung bilden wir im Kleinkindalter, ab dem Kindergarten wird es schon schwierig. Sie kommen nach Hause und finden plötzlich, dass Jungs so und Mädchen so sein müssen. Wenn ich in meiner Familie schon früh diese vermeintlichen Unterschiede nicht thematisiere, dann haben meine Jungs zumindest zu Hause nicht diese permanenten Berührungspunkte mit von unserer Gesellschaft konstruierten Rollen. Außerdem glaube ich, dass wir unseren Kindern beibringen können, eigene Muster zu überdenken. Diese Übung ist für mich als Mutter immer noch schwer. Vor allem, wenn sowieso nur 30 Prozent von dem hängenbleibt, was wir ihnen erzählen. Woran sie sich dann wirklich orientieren, ist natürlich das, was sie bei uns sehen. Kinder beobachten alles, was wir tun. Das fängt mit dem Handykonsum an und geht damit weiter, wie wir Frauen, Männer und non-binäre Menschen behandeln. Jeder Moment wird so zum Erziehungsmoment.“
Lässt sich Feminismus mit der Erziehung von Söhnen überhaupt vereinen?
„Es ist eine riesengroße Anstrengung. Gerade, wenn man sich vergegenwärtigt, wie groß die Verantwortung ist, Söhne in der heutigen Zeit zu erziehen. Es gibt so viele Momente, in denen ich mir selbst mit Sanftheit begegnen muss, wenn ich mal wieder etwas getan habe, das nicht meinem eigenen Standard entspricht. Eine Mutter hat mir mal von einem Moment mit ihrem kleinen Sohn erzählt, in dem er einen doofen Machospruch aufgegriffen hatte. Das hat sie so getriggert, dass sie zu ihm sagte, dass er nicht so ein ,Scheißkerl’ sein soll. Womit ich sagen will: Diese Momente gibt es und diese Erziehung ist total anstrengend und schwierig.“
Dein Buch ist laut deiner Aussage auch ein Streitgespräch mit dir selbst. Worüber streitest du dich?
„Mein Hauptstreitpunkt ist, dass ich mich einerseits diesem Fortschritt verschrieben habe, dass Frauen und Mädchen die größtmöglichen Chancen, die größtmögliche Sicherheit und die größtmögliche Freiheit haben können. Das steht oft im Widerspruch dazu, dass ich mich frage, was eigentlich mit meinen Söhnen ist. Es ist gar nicht so einfach, zu sagen: na ja, dann einfach Freiheit für alle. Weil diese Chancen für Männer und männlich gelesene Personen einfach einen ganz anderen Startpunkt haben.“
Du bist nicht nur Frau, Mutter und Deutsche – dein Vater ist Iraner. Was können wir in deinen Augen in Mitteleuropa von den Frauen des Irans lernen?
„Dieser Kampf liegt mir sehr am Herzen, weil wir so viel von ihm lernen können. Wir können uns anhand des Irans vor Augen führen, dass es ihnen, den Frauen, gelungen ist, unter dem Slogan ,Frau, Leben, Freiheit’ auch Männer hinter sich zu versammeln. Wann gab es das eigentlich in Deutschland? Wir können und müssen uns fragen, wie sie das geschafft haben. Denn eigentlich ist diese Allianz beinahe irrsinnig, weil sie die Männer gar nicht explizit angesprochen haben. Sie haben unter dieser Bewegung auch Themen gelöst, mit denen wir in Deutschland hadern. Wie zum Beispiel dem Umgang mit Minderheiten, die plötzlich mit ihnen im Zentrum des Kampfes stehen und nicht am Rand, wie wir in unserem Land noch mit ihnen umgehen. Das alles finde ich enorm beeindruckend.“