Foto: A. Doğan

Gabriele Gün Tank: „Die Quote ist ein Werkzeug, um die existierende Ungerechtigkeit gerechter zu gestalten“

Gabriele Gün Tank war zwei Jahre lang Geschäftsleiterin der „neuen deutschen organisationen“ und hat zuvor neun Jahre lang als Integrationsbeauftragte gearbeitet. Wir haben uns mit ihr unterhalten.

„Inklusion ist sicherlich nicht einfach, aber es lohnt sich”

Gabriele Gün Tank setzt sich seit Jahren unermüdlich für mehr Sichtbarkeit, Teilhabe und Chancengerechtigkeit für marginalisierte Gruppen in Deutschland ein. Nach einem Abschluss in Journalistik in der Türkei, absolvierte sie zuerst ihren Master in Berlin an der Hertie School of Governance und arbeitete anschließend neun Jahre lang als Integrationsbeauftragte im Bezirk Tempelhof-Schöneberg. Noch während dieser Zeit wurde sie von den „neuen deutschen organisatione“ abgeworben, für die sie zwei Jahre lang als Geschäftsleiterin tätig war.

Am 17. Mai 2019 wurde Gabriele Gün Tank zusammen mit anderen inspirierenden Frauen, in Berlin für ihr Engagement mit dem 25 Frauen Award von EDITION F ausgezeichnet. Sie ist eine der Frauen, die mit ihrer Stimme unsere Gesellschaft bewegen.

Im Gespräch erzählt die ehemalige Integrationsbeauftragte, was es mit den „neuen deutschen organisationen“ auf sich hat, wofür sie stehen, wofür sie kämpfen. Außerdem erklärt sie, warum sie für die Einführung einer Quote ist, um mehr Sichtbarkeit für Schwarze, indigene Menschen und Menschen of Color zu schaffen und, wie sie die Zukunft Deutschlands einschätzt.

Was genau sind die „neuen deutschen organisationen“?

„Die ,neuen deutschen organisationen’ ist ein bundesweites Projekt, bestehend aus mehr als 100 verschiedenen Organisationen, welches Menschen, die Rassismus erleben, vernetzt. Wir haben Organisationen wie die neuen deutschen Medienmacher*innen dabei, Each One Teach One oder auch die PoC Hochschulgruppe Hildesheim, Elternvereine, sowie Queer People of Color in Hamburg und RomaTrial und noch viele mehr. Verschiedene Gruppen, die für eine inklusivere deutsche Gesellschaft stehen, eine Gesellschaft ohne Rassismus, in der allen Menschen Teilhabe ermöglicht wird.“

Was für Arbeit leistet ihr konkret?

„Wir haben in den letzten zwei Jahren eine gut funktionierende Geschäftsstelle aufgebaut. Als Geschäftsleiterin zu dieser Zeit hatte ich das Glück viele verschiedene Gruppen zu gewinnen und kennenzulernen. Den Bedarf der Organisation erfahren wir vor Ort und tragen es dann in den Bund. Wir vernetzen also Menschen und Organisationen, die sich gegen Rassismus engagieren und wissen, wovon sie sprechen. Dafür stellen wir fünf zentrale Forderungen: ein inklusives Verständnis von Zugehörigkeit, keine Integrations- , sondern eine Gesellschaftspolitik für alle, mehr Teilhabe und Präsenz für Menschen of Color und Schwarze Menschen, eine radikale Reform des Bildungssystems und eine bessere Förderpolitik für Migrant*innenselbstorganisationen und Neue Deutsche Organisationen. Ausgehend davon veröffentlichen wir Publikationen und mischen auf Veranstaltungen mit. Um unsere Forderungen umsetzen zu können, brauche wir Gleichstellung- und Anti-Diskriminierungsdaten. Um Teilhabe zu garantieren, müssen wir erst einmal den Ist-Zustand festhalten. Wie schaut es denn überhaupt aus? Welche Daten und Fakten haben wir? Anhand der Daten können wir sehen, wie es wirklich um die chancengerechte Teilhabe in Deutschland steht.“

Ist die Forderung nach mehr Teilhabe ein neues Phänomen?

„Es gab in der Bundesrepublik schon immer marginalisierte Menschen, die für ihre Rechte eingetreten sind und für mehr Teilhabe gekämpft haben. Dafür standen und stehen die Migrant*innenselbstorganisationen oder auch die Bewegung Schwarzer Frauen und Frauen of Color. Meist wurden sie von der Mehrheitsgesellschaft nicht wahrgenommen. Zu wenig werden diese wichtigen Geschichten erzählt. Beispielsweise der Streik eingewanderter Frauen in einer bekannten Keksfabrik im Jahr 1967. Arbeiterinnen, hauptsächlich Migrantinnen der ersten Generation, haben sich damals zusammengeschlossen und dagegen protestiert, dass sie in verkürzter Arbeitszeit auf einmal mehr produzieren sollten. 300 Frauen wurden entlassen. Der Betriebsrat war männlich und weiß. Die Forderung nach Teilhabe ist also nicht neu. In meiner Jugend hieß es interkulturelle Öffnung, irgendwann wurde es in Diversity umbenannt. Eigentlich ist Inklusion gemeint. Das ist auch das Ziel, das die neuen deutschen Organisationen heute verfolgen.“

Du hast neun Jahre lang als Integrationsbeauftragte in Tempelhof-Schöneberg in Berlin gearbeitet. Was ist dir aus dieser Zeit besonders in Erinnerung geblieben?

„Ich habe ziemlich schnell festgestellt, dass ich in dieser Position, zumindest für mich sichtbar, weit und breit die einzige Person of Color war. Schwarze Menschen und People of Color waren meist als Reinigungskräfte beschäftigt. In diesem Betrieb, wie in vielen anderen Betrieben auch, ist eine auf Herkunft bezogene Klassengesellschaft abgebildet worden. Das war und ist keine Besonderheit, sondern exemplarisch, nicht nur für den öffentlichen Dienst.

Der Bevölkerungsstruktur in Tempelhof-Schöneberg selbst sieht natürlich ganz anders aus. Es gibt viel mehr Menschen of Color. Das müsste doch eigentlich auffallen. Wie kann man einen Bezirk repräsentieren oder für die Gesamtbevölkerung da sein, wenn eine entsprechende personelle Abbildung nicht vorhanden ist?“

Warum ist es wichtig, dass Stellen, wie die*der Integrationsbeauftragte*n von Schwarzen, indigenen Menschen und People of Color besetzt werden?

„Eine Person, die Diskriminierungserfahrungen gemacht hat, kann ihren Erfahrungswert in die Arbeit miteinfließen lassen. Das bedeutet nicht, dass die Person den Job automatisch besser macht, als eine weiße Fachkraft, aber diese Erfahrung ist sehr sehr wertvoll. Wir sind nicht immer sensibel genug die verschiedenen Diskriminierungsformen wahrzunehmen. Wie ich, wenn es um das Thema Behinderung geht, manche Probleme nicht sehen werde, weil ich nicht betroffen bin, gibt es Ausgrenzungsmechanismen, die Menschen ohne rassistische Diskriminierungserfahrungen nicht wahrnehmen.

Natürlich müssen wir alle versuchen so offen wie möglich zu sein und uns mit anderen identifizieren und solidarisieren, aber Betroffene selbst können ihre Erfahrungen am besten formulieren.“

Du hast dich in einem Gastbeitrag in der „Zeit“ 2017 für eine Quote für marginalisierte Gruppen ausgesprochen. Wie könnte man so eine Quote strukturieren?

„Richtig, da ging es um den Bundestag. Vor ein paar Jahrzehnten war das Parlament männlich weiß. Heute ist es männlich und weiblich weiß. Das bedeutet für mich, Veränderung ist möglich und daher stehe ich für die Quote als ein wichtiges Instrument. Bei den Frauen haben wir das, zumindest bei den im öffentlichen Dienst Beschäftigten, schon formuliert. Das Bundesgleichstellungsgesetz sagt, dass Frauen bei der Vergabe von Dienststellen des Bundes bevorzugt berücksichtigt werden sollten. Ähnliche Verfahren kann man auch bei Menschen mit rassistischen Diskriminierungserfahrungen machen. Bei gleicher Qualifizierung sollten sie, in Dienststellen, in denen sie unterrepräsentiert sind, eine bevorzugte Berücksichtigung gegenüber anderen Mitbewerber*innen erfahren.“

Was entgegnest du Kritiker*innen, die behaupten eine Quote würde zu „Quotenpersonen“ führen?

„Diesen Vorwurf höre ich oft. Ich denke mir da immer: Entschuldigung, ich weiß, wer ich bin, ich weiß, was ich kann. Wenn mich irgendjemand wie auch immer benennt, dann ist das nicht mein Problem. Ich würde einen Posten nicht ablehnen, weil ich ihn mit der Unterstützung eines Gesetzes bekommen habe. Dadurch fühle ich mich nicht weniger Wert. Die Quote ist nur ein Werkzeug mit dem ich die Ungerechtigkeit, die existiert, gerechter gestalten kann.“

In einem Interview bei der Konferenz des Bündnisses für Solidarität mit den Sinti und Roma Europas 2017 hast du gesagt: „Ich glaube, dass wir uns in diesem Land sehr warm anziehen müssen.” Wie schätzt du die Entwicklung der AfD seitdem ein?

Diese Partei zeigt eindeutig wofür sie steht, da weiß ich woran ich bin. Sie werden zu Recht als demokratiefeindlich rassistisch und faschistoid eingeschätzt. Viel mehr Angst machen mir die demokratischen Volksparteien, die sich durch die AfD unter Handlungsdruck sehen und deshalb Gesetze beschließen und verschärfen. Ein Beispiel dafür ist das Staatsbürgerschaftsgesetz, das jetzt im Sommer verschärft worden ist oder die Tatsache, dass in der Flüchtlingspolitik die Ankerzentren beschlossen wurden.

Das ist geschehen, weil die Volksparteien glauben, sie müssten auf die sogenannten besorgten Bürger und diese Partei reagieren. Anstatt auf die ca. 80 Prozent zu schauen, die sich mehr Demokratie wünschen, wird eine Gruppe in den Mittelpunkt gestellt, von der wir schon immer wussten, dass sie in diesem Land existiert. Sie war bisher parteipolitisch bloß nicht zur Genüge organisiert.

In den 90er Jahren beispielsweise, haben in Rostock-Lichtenhagen Passant*innen Beifall geklatscht, als Neonazis das Sonnenblumenhaus angezündet haben und ‚Ausländer raus‘ gebrüllt. Heute rufen sie ‚Absaufen, Absaufen‘, wenn Boote im Mittelmeer drohen zu versinken. Das ist eine Entmenschlichung. Das ist blinder Hass. Das ist etwas, was damals wie heute vorhanden ist. Die demokratischen Parteien dürfen sich nicht am Nasenring durch die Manege ziehen lassen. Wer auf völkisch-national und Rassismus steht, wählt das Original und nicht den Abklatsch.”

Im selben Zug sagst du auch: „Ich glaube, aber auch, dass das eine Chance ist. Das Land braucht uns, um die eigene Demokratie zu schützen, sie lebendig zu halten.” Wie können die neuen deutschen organisationen dazu beitragen die Demokratie zu schützen?

„Wir erinnern daran, wie schnell eine Demokratie zerstört werden kann. Wir fordern die Stärkung von Rechten marginalisierter Gruppen. Wir müssen Menschen mit Ausgrenzungserfahrungen zuhören und schauen, wo es in diesem Land an strukturellen Veränderungen fehlt. Wir müssen herausfinden, was wir wirklich brauchen. Darauf machen die „neuen deutschen organisationen“ aufmerksam. Nur so sorgen wir dafür, dass demokratische Strukturen beibehalten werden. Wenn sich nicht alle in diesem Land gleichermaßen an der Politik beteiligen- und sie auch aktiv gestalten können, können wir nicht von einer Demokratie im Ganzen sprechen.“

Bei der Verleihung des deutschen Integrationspreises hast du gesagt: „Wir sagen wir sind vielfältig, wir sagen wir wollen, dass alle Menschen wirklich teilhaben können. Das bedeutet wir müssen sie auch sichtbar machen.” Warum ist es wichtig, dass wir mehr Sichtbarkeit für marginalisierte Gruppen schaffen?

„Menschen of Color, indigene Menschen, Schwarze Menschen, Menschen mit Behinderung LGBTQI Person sind Teil unserer Gesellschaft und müssen so auch wahrgenommen werden. Nur dann entsteht eine Form von Normalität. Wenn ich Menschen und Gruppen nicht sehe, weil ich nie mit ihnen in Kontakt komme, dann ist die Wahrscheinlichkeit viel größer, dass ich Vorurteilen und populistischen Geschichten über sie Glauben schenke. Es ist aber auch einfach demokratischer, sobald alle Menschen sichtbar werden. Wir bekommen einen ganz anderen Zugang zu vielen Themen.

In den letzten Jahren ist in Deutschland eine Politik mit Schwerpunkt auf Sicherheit und Finanzierbarkeit gefahren worden. Im Bereich Migration wurde vermehrt über Zwangsverheiratung, über Terror, über Islamismus gesprochen. Mit dieser Angst ist eine Politik legitimiert worden, die den Sozialstaat finanziell abgebaut – und gleichzeitig die Sicherheitsarchitektur weiter ausgebaut hat. Dabei wurde vieles vermischt und bestimmte rassistische Bilder, insbesondere antimuslimische, in den Köpfen der Mehrheitsgesellschaft kreiert. Solche Geschichten könnten verhindert werden, wenn wirklich inklusiv agiert wird.

Unsere Gesellschaft braucht marginalisierte Gruppen auch, um bestimmte Themen verantwortungsvoll bearbeiten zu können. Eine alleinerziehende Frau hat einen anderen Blick auf gesellschaftliche Prozesse als ein Ehepaar, bei dem der Mann arbeitet und die Frau Zuhause bleibt. Solange die Frau damit einverstanden ist, ist diese traditionelle Arbeitsverteilung natürlich vollkommen legitim. Alle unterschiedlichen Lebensmodelle haben ihre Existenzberechtigung. Wofür wir sorgen müssen, ist, dass jeder Form Gehör verschafft wird.“

Eine der Forderungen der „neuen deutschen organisationen“ ist, dass ihr keine Integrationspolitik, sondern eine Gesellschaftspolitik für alle möchtet. Kannst du das näher erklären?

„Der Begriff Integration kam ursprünglich aus der Politik für Menschen mit Behinderung. Heute spricht man von Inklusion und meint damit, das die Strukturen sich ändern müssen, nicht die Menschen sich anpassen. Wenn wir von einer inklusiven Gesellschaft sprechen, ist das eine Gesellschaft, in der wir versuchen, jedem Menschen die größtmögliche Teilhabe zu garantieren. In einer demokratischen und auf Menschenrechten beruhenden Gesellschaft muss jede*r Mensch die gleichen Chancen haben und das sollte sich in jeglichen Gesetzesformen und Organisationsstrukturen widerspiegeln. Ich darf nirgendwo aufgrund meiner race, meines sexuellen Hintergrundes, meines Geschlechtes oder meiner Behinderung ausgeschlossen werden. Ich möchte so weit wie möglich teilhaben. Inklusion ist sicherlich nicht einfach, aber es lohnt sich.“

Du arbeitest schon seit Jahren im Anti-Rassismus-Bereich. Der Kampf gegen Rassismus ist keine leichte oder angenehme Aufgabe. Wirst du manchmal auch müde?

„Ich würde lügen, wenn ich sage, es ist nicht anstrengend. Wie bei jeder anderen Tätigkeit gibt es schöne und weniger schöne Seiten. Wenn ich mir heute Deutschland anschaue, meinen Ängsten und Hoffnungen nachfühle und sehe wie salonfähig bestimmte Argumente sind, dann frage ich mich schon manchmal, was ich da überhaupt mache.

Und dann gibt es wiederum Schlüsselmomente, in denen doch alles Sinn ergibt. Wenn ich das Gefühl habe, dass ich gute Empowerment-Arbeit geleistet habe, bei den Gruppen mit denen ich zusammenarbeite beispielsweise. Dann denke ich, dass ich auf dem richtigen Weg bin, dass ich den kleinen Raum, der mir zur Verfügung steht, auch wirklich gestalte.

Natürlich ist es belastend, nicht nur während der Arbeit, sondern auch im normalen Leben. Ich komme da ja nicht raus. Ich kann nicht am Abend den Mantel ausziehen und wegpacken und sagen: ‚Das war’s. Ich habe meinen Job getan.‘ Wenn ich mich draußen bewege, bleibe ich eine Frau of Color. Und ich vermute, wenn meine Kinder sich zukünftig draußen bewegen, werden sie genauso mit rassistischer Diskriminierung konfrontiert werden. Sie werden lernen müssen, damit umzugehen. Sich wehren und gleichzeitig ihre Wärme, ihre Liebe im Herzen stärken. Wenn es mir gelingt, sie dabei zu begleiten, bin ich zufrieden.“

Mit was für einem Gefühl blickst du auf die nächsten Jahre in Deutschland?

„Das Deutschland von gestern und das Deutschland von heute sind mir beide in gewisser Weise fremd. Und zwar, wenn ich diesen Menschenhass spüre und diese menschenverachtenden Aussagen höre. Ehrlicherweise muss ich sagen, dass ich schon immer an einen Ort dachte, an den ich zur Not ziehen kann, wenn es hier nicht mehr geht. Ob es dieser Ort sein kann, weiß ich heute nicht, aber das Gefühl ihn vielleicht zu brauchen, hat sich mit den Jahren verstärkt. Die Überlegung, wo könnte man hin, ist da. Das höre ich von sehr vielen Freund*innen of Color und Schwarzen Freund*innen.

Wir reden in Deutschland nicht mehr nur von Stammtischparolen, das Unsagbare wird wieder sagbar gemacht. Die Worte werden entmenschlicht, die Verrohung der Sprache ist besonders in der Flüchtlingspolitik hörbar.

Hinzu kommen die Strukturen. Wenn wir uns beispielsweise die Bundeswehr und den gesamten Sicherheitsapparat anschauen, in dem Menschen toleriert werden, die rechtsextrem sind. Es ist nicht mehr nur eine unbegründete Vorsicht, das Bild einst in der Ferne, erscheint nah und real.“

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