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Gedenken in Krisenzeiten: Hanau ist erst sechs Wochen her

Die Corona-Krise ist das alles bestimmende Thema dieser Tage. Aber Rechtsterrorismus bleibt Rechtsterrorismus und muss als dieser benannt werden – auch in der aktuellen Situation, fordert unsere Autorin Helen Hahne heute in ihrer Politik-Kolumne „Ist das euer Ernst“.

Eine rechtsterroristische Tat ohne rechtsterroristischen Täter?

Sechs Wochen ist es her, dass ein rechtsextremer Terrorist in Hanau neun Menschen ermordete und anschließend erst seine Mutter und dann sich selbst erschoss. Fünfeinhalb Wochen lang hat es die deutsche Öffentlichkeit – oder zumindest große Teile davon – geschafft, den Attentäter rechtsextrem zu nennen. Nach den gemeinsamen Recherchen von WDR, NDR und Süddeutscher Zeitung kommt das Bundeskriminalamt nun in seinem Abschlussbericht zur Tat in Hanau, an dem es gerade arbeitet, zu dem Fazit, dass der Täter Tobias R. zwar eine rassistische Tat verübt habe, aber kein Anhänger einer rechtsextremistischen Ideologie gewesen sei. Viel mehr hätte er einem Verschwörungsmythos angehangen und seine Opfer ausgewählt, um die größtmögliche Aufmerksamkeit zu erlangen.

In seinem „Manifest“, das der Täter vor dem rechtsextremistischen Terroranschlag ins Netz stellte, sprach er aber auch davon, dass gewisse „Volksgruppen, Rassen und Kulturen in jeglicher Hinsicht destruktiv“ seien und daher „komplett vernichtet“ werden müssten.

Die Recherche wurde am vergangenen Wochenende veröffentlicht. Und danach blieb es erstaunlich ruhig. Dabei ist es – auch in Zeiten von Corona – politische und gesellschaftliche Verantwortung zu benennen, was die Tat von Hanau war: ein rechtsextremistischer Terroranschlag. Das darf nicht in Frage gestellt werden.

Benennen, was nicht verschoben werden darf

Der Bericht des BKA ist noch nicht abgeschlossen und das Amt dementiert die Berichterstattung des Rechercheverbundes über einen Abschlussbericht. Aber schon jetzt verschiebt diese Diskussion die Debatte weg von der Frage, was getan werden muss, um rechtsextreme Strukturen zu zerschlagen, strukturellen Rassismus in der Gesellschaft zu erkennen und aufzubrechen und dafür zu sorgen, dass auch der Teil unserer Gesellschaft, der in Hanau angegriffen wurde, sich wieder – oder zum ersten Mal – sicher in diesem Land fühlen kann. Stattdessen verschiebt sich die Debatte hin zu der Frage, ob der Täter nun ein überzeugter rechtsextremer Terrorist war oder nur zufällig oder für die größere Aufmerksamkeit – vielleicht hätte man da eher ein Lied über alte Umweltsäue ins Netz stellen oder einen wichtigen Fußballfunktionär beleidigen sollen – rassifizierte Menschen ermordet hat.

Bei dem Anschlag von Hanau, aber auch in Halle und bei den NSU-Morden in Mölln, Solingen und Rostock-Lichtenhagen gehören die Betroffenen in den Mittelpunkt. Der Rechtsextremismusforscher Matthias Quent formuliert es auf Twitter so: „Bei der Bewertung von solchen Anschlägen – dies war u.a. eine Schlußfolgerung aus dem #NSU-Komplex, muss die Betroffenenperspektive über dem Fokus auf den oder die Täter/n liegen. Für die Bewertung der Gesamtumstände von #Hanau ist die Biographie des Täters nicht ausschlaggebend.“

Oder um es mit der Journalistin Ferda Ataman zu sagen: „Es kann Menschen, die von Rassismus betroffen sind, herzlich egal sein, ob der Täter schon seit Jahren von einer rassistischen Ideologie zerfressen wurde oder ob er People of Color nur aus taktischen Gründen umbringt. Die Angst, die dieser Terrorismus verbreitet, ist in beiden Fällen gleich, und die Bedrohung der Demokratie genauso real.“

Privilegien, die nicht alle haben

Dass die Debatte um die vermeintlichen Zwischenergebnisse des BKA-Berichts an einem vorbeigehen konnte, dass man vergessen konnte, wie lange Hanau eigentlich her ist, dass man der Bundeskanzlerin für ihr Krisenmanagement danken wollte, sind übrigens Privilegien, die viele Menschen in unserer Gesellschaft nicht haben. Natürlich gibt es viele Menschen, die gerade vor allem versuchen, die Kinderbetreuung und den Job, die Ungewissheit und die Existenzsorgen irgendwie zu handeln. Die Verantwortung, Hanau nicht zu vergessen und die Strukturen zu verändern, liegt auch deshalb besonders in der politischen und medialen Öffentlichkeit.

Und es stimmt nicht, dass es erstaunlich ruhig geblieben ist, nach den Enthüllungen von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung. Viele Menschen haben sich geäußert, haben das vermeintliche Zwischenergebnis problematisiert. Aber es waren fast ausschließlich Menschen, die selbst direkt oder indirekt von Hanau betroffen waren. Es waren dieselben Menschen, die in den letzten sechs Wochen dafür gesorgt haben, dass die Opfer von Hanau nicht vergessen werden. Dabei wäre das eine politische und gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Eine politische und gesamtgesellschaftliche Verantwortung, die durch Corona nicht einfach wegfällt.

Die Verantwortung bleibt

Wir müssen rassistische Muster benennen und aufbrechen. Das war vor Corona unsere Verantwortung, das bleibt auch in der Krise unsere Verantwortung. Und es wird auch noch unsere Verantwortung sein, wenn alles wieder „normal“ ist. Und es bedeutet auch, in Krisenzeiten wachsam zu bleiben. Wenn sich der Flügel der AfD beinahe ungestört auflösen kann und so einer Überwachung durch den Verfassungsschutz entgeht, muss die Politik und die Gesellschaft genau hinsehen. Denn nur weil sich die offizielle Struktur auflöst, ist nicht auch das Gedankengut verschwunden. So wie Rechtsextreme nicht verschwinden, wenn sie untertauchen. War da nicht was mit diesem NSU? Die versprochenen Hilfen für die Opfer, Angehörigen und Zeug*innen müssen aufrechterhalten, die politischen Versprechen gehalten werden.

Außerdem gilt das Gleiche, das vor sechs Wochen galt: Hört den Opfern, Angehörigen und Betroffenen zu. Serpil Temiz, die Mutter des Ermordeten Ferhat Unvar hat einen Brief an Angela Merkel geschrieben, in dem es heißt: „Wenn es keine lückenlose Aufklärung gibt, ist es, als würde mein Sohn ein zweites Mal ermordet“. „Analyse und Kritik“ hat einen Schwerpunkt mit dem Titel „Hanau ist überall“ veröffentlicht und lässt dabei viele von Hanau (indirekt) Betroffene zu Wort kommen. In Hanau hat sich direkt nach dem Anschlag die Initiative 19. Februar gegründet. Alice Hasters und Maxi Häcke haben in ihrem Podcast „Feuer und Brot“ mit Şeyda Kurt, Miriam Davoudvandi und Ozan Zakariya Keskinkılıç über ihre „Gedanken zu Hanau“ gesprochen. Die Beratungsstelle Response Hessen bietet immer noch Online- und Telefonberatung für Opfer und Angehörige an.

Die Stimmen sind da. Und sie sind relevant. Relevanter als der Täter. Sie erinnern uns an die, die nicht vergessen werden dürfen: Ferhat Unvar, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Said Nessar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Kaloyan Velkov, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Gabriele Rathjen.

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