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Anschlag in Hanau: Und morgen ist alles wieder normal?

In Hanau ermordet ein Rechtsterrorist zehn Menschen. Ein paar Tage davor flog eine rechtsextreme Terrorzelle, die Anschläge auf Muslim*innen, Asylsuchende und Politiker*innen geplant hat, auf. Die Reaktionen: Relativierungen, Fokus auf den Täter, teilweise gleichgültiges Schweigen. Ist das die Gesellschaft, die wir sein wollen?, fragt sich unsere Autorin Helen Hahne heute in ihrer Politik-Kolumne „Ist das euer Ernst?“

Ein rechtsterroristischer Anschlag, bei dem neun Menschen ermordet werden

Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov. Das sind die mittlerweile bekannten Namen der durch einen Rechtsterroristen Ermordeten von Hanau. Lernt ihre Namen.

Neun Menschen starben, weitere wurden verletzt. Danach erschoss der Täter wahrscheinlich seine Mutter und sich selbst. Unter den Reaktionen: Relativierungen, Fokus auf die psychische Verfassung des Täters, überhaupt ging es wieder einmal mehr um den Täter als die Opfer. Der Focus war sich nicht zu schade, in alter NSU-Manier von „Shisha-Morden“ (statt damals „Dönermorde) zu schreiben. Sigmar Gabriel konnte in seiner Reaktion nicht auf die Quatsch-Theorie des Hufeisens verzichten und musste deshalb auch die schlimme Gewalt von „Linken Chaoten“ gegenüber Autos und Mülltonnen erwähnen.

Und die Tagesschau (und viele andere Medien) sprachen einmal mehr von „fremdenfeindlichen“ Motiven, anstatt die grausame Ermordung dieser Menschen als das zu betiteln, was sie war: ein rassistisch motiviertes Hassverbrechen eines weißen Deutschen. In der Tagesschau wird Alexander Gauland zu dem Terroranschlag interviewt. Es gab auch klare Worte von Politiker*innen. Bundeskanzlerin Merkel sagte: „Rassismus ist ein Gift, Hass ist ein Gift.“ Aber warum musste erst dieser rechtsterroristische Anschlag passieren, damit so klare Worte gefunden werden?

Hanau hat eine Vorgeschichte

Fast eine Woche ist es nun her, dass die Polizei zwölf potenzielle Rechtsterroristen festgenommen hat, die Anschläge auf betende Muslim*innen, Asylsuchende und Politiker*innen verüben und damit „bürgerkriegsähnliche Zustände“ auslösen wollten. Dann ist erst einmal kaum etwas passiert: kein Brennpunkt, keine Titelseiten, keine politischen Sondersitzungen. Stattdessen viel Schweigen, „Ist ja nichts passiert“, Schulterzucken.

Als die rechtsterroristische Zelle vergangene Woche aufflog, stand schnell fest: Sie war gut vernetzt und schwer bewaffnet. Vier der zwölf Festgenommenen gelten als Kern der Terrorzelle, acht als Unterstützer. Einer von ihnen ist Verwaltungsmitarbeiter bei der nordrhein-westfälischen Polizei.  Und die Täter haben ihre Ansichten teilweise nicht versteckt. Sie hatten offene Profile bei Facebook. Einer rief dort zur Gründung einer Bürgerwehr auf, ein anderer, der mutmaßliche Kopf der rechtsterroristischen Vereinigung, fiel mit einigen vermutlich justiziablen Äußerungen auf, wie es die Rechtsextremismusexpertin Karolin Schwarz bei Zeit Online beschreibt.

Schon ziemlich beunruhigend, eigentlich. Die Reaktionen glichen allerdings eher einem „gesamtgesellschaftlichen müden Schulterzucken“, wie es in einer Pressemitteilung der Beratungsstelle response in der Bildungsstätte Anne Frank heißt. Die Journalistin Ferda Ataman fragte auf Twitter, an dem Tag, an dem öffentlich wurde, was die Terrorzelle geplant hatte, wieso das nirgendwo Aufmacher sei und wo die Pushmeldungen dazu blieben, dass ein Christchurch 2 geplant worden sei. Und bei Zeit Online Campus fragt der Rassismus- und Antisemitismusforscher und Vorsitzende der Neuen Deutschen Organisationen Ozan Zakariya Keskinkılıç: „Muss ich erst getötet werden, damit ihr empört seid?“. Und dann kam Hanau und zeigte, wie dringend diese Fragen ernsthaft beantwortet werden müssen.

Deutschland, 365 Tage Einzelfälle

In Anbetracht des Schweigens der letzten Tage und des rechtsterroristischen Terrors von Hanau müssen wir uns auch fragen: Was für eine Gesellschaft ist das eigentlich, die nicht auf solche geplanten Taten reagiert und sich so schwer damit tut, Rechtsterrorismus zu benennen?

Vor Hanau war die Antwort auf antimuslimischen Rassismus tatsächlich gefühlt nicht mehr als ein müdes Schulterzucken. Ist das nach Hanau so viel anders? Betroffene bezweifeln das – und sie sprechen aus Erfahrung. Sie haben die NSU-Morde lange vor der Selbstenttarnung als rechtsextreme Taten erkannt und benannt. Nach der Selbstenttarnung sahen sie sich einer Relativierung der Gefahr von Rechtsextremismus und einer viel zu oberflächlichen Aufklärung der Taten (der NSU war nicht zu dritt) gegenüber. Aus der Arbeit von Beratungsstellen von Opfern rechtsextremer Gewalt ist aber zum Beispiel bekannt, dass eine ausbleibende oder verharmlosende Reaktion auf rassistische Gewalt die Betroffenen zusätzlich traumatisiert. Die Gesellschaft hat sich also ein zweites Mal schuldig gemacht.

Vor etwas mehr als zwei Wochen ließ sich in Thüringen ein sogenannter Liberaler mit den Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten wählen. Am Tag, an dem die Anschlagspläne der „Gruppe S“ bekannt wurden, ging Björn Höcke – der Vorsitzende eben dieser Thüringer AfD und zertifizierter Faschist  –  zur Jubiläumsveranstaltung der islamfeindlichen Pegida-Bewegung. Am Mittwoch kam heraus, dass ein Berliner Polizist, der 2019 aus Hessen kam, Wortführer in einem rechtsextremen Chat gewesen sein soll.

Diese Woche wurde auch bekannt, dass der Verein Uniter nun auch offiziell unter Rechtsextremismusverdacht steht und vom Verfassungsschutz als Beobachtungsfall behandelt wird. Bundesweit sucht die Polizei nach 482 untergetauchten Neonazis. Im Oktober gab es den Anschlag in Halle, der Mord an Walter Lübcke ist noch kein Jahr her. Und diese Woche tötete ein Rechtsterrorist zehn Menschen. Es gibt genügend Beispiele dafür, dass Menschen rechtsterroristische Pläne in Taten umsetzen.

Was für eine Gesellschaft wollen wir sein?

Und trotzdem wird immer wieder von Einzelfällen gesprochen. Der Duden definiert „Einzelfall“ als „konkreter, einzelner Fall (der jeweils individuell zu beurteilen oder zu behandeln ist)“ oder „etwas, was eine Ausnahme darstellt, was nicht die Regel ist“. Gerade scheint die Ausnahme zur Regel zu werden. Der Bundesvorsitzende der Kurdischen Gemeinde in Deutschland, Ali Ertan Toprak, sagte im ZDF: „Diese Tat von Hanau hat letztendlich dazu geführt, dass die Menschen sich gar nicht mehr sicher fühlen.“

Zurück also zu der Frage, was für eine Gesellschaft das eigentlich ist. Die Antwort nach Hanau scheint lauten zu müssen: Es ist eine rassistisch, weiß dominierte Gesellschaft, die offenbar bereit ist, einen Teil von ihr in andauernden Angst vor dem nächsten rassistisch oder antisemitisch motivierten Attentat leben zu lassen. Wenn es eine andere Antwort geben soll, muss die Solidarität mit Betroffenen und von rassistischer Gewalt Bedrohten deutlich werden. Es darf nicht bei den einzelnen Sondersendungen bleiben. Antimuslimischer Rassismus muss als Problem in Deutschland anerkannt werden. Nach Hanau müssen die Namen und Geschichten der Opfer und ihrer Angehörigen erzählt werden.

Keine Angst haben: ein Privileg

Dieser Anschlag galt nicht uns allen. Genauso wenig wie der Anschlag von Halle oder die NSU-Morde. Keine Angst zu haben, einfach Karneval zu feiern, zu den nächsten Nachrichten überzugehen, ist ein Privileg. Es ist ein Privileg, heute weiterzumachen wie gehabt. Nicht von Rassismus betroffene Deutsche haben deshalb nun vor allem die Aufgabe zuzuhören, nicht anzuzweifeln, Ängste ernst zu nehmen und sich vor allem verdammt nochmal mit allem, was sie haben, Nazis in den Weg zu stellen.

Antifaschismus muss Alltag werden. Ganz konkret muss es, wie es zum Beispiel die Neuen Deutschen Organisationen fordern, endlich einen unabhängigen Expert*innenkreis Antimuslimischer Rassismus geben, der vom Bundestag unter Einbeziehung von Betroffenen und ihren Erfahrungen einberufen wird, einen Beauftragten gegen antimuslimischen Rassismus. Und es muss Förderprogramme zur Aufklärung gegen antimuslimischen Rassismus und zur Stärkung muslimischer Selbstorganisationen geben. Was ein gesamtgesellschaftliches Schulterzucken in der letzten Konsequenz bedeuten kann, hat Hanau gezeigt.

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