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Über das Leben mit einem psychisch-kranken Kind: Das einzige, das hilft, ist Liebe

Ich habe zwei wundervolle Söhne. Ich wünschte beide könnten wahrnehmen, was für tolle kleine Menschen sie sind. Aber einer von ihnen kann das leider nicht. Dieser Text ist für ihn.

„Du bist ein tolles Kind!“

Ein Psychotherapeut für Kinder und Jugendliche sagte mir einmal: „Es gibt Kinder, die lernen durch beobachten und Kinder, die lernen durch ausprobieren, einige sind stabil und zuversichtlich, andere labiler, sie brauchen Unterstützung.“ Diese Worte haben sich fest eingebrannt, weil ich es besser nicht auf den Punkt bringen könnte. Mein Spagat zwischen zwei Welten, zwischen Feuer und Wasser, der mir oft, mal mehr, mal weniger gelingt. Der einer olympischen Disziplin gleicht, die ich nur überstehe, weil ich eine bedingungslose, tiefe Liebe zu meinen Kindern empfinde und in mir trage.

Ich bringe meinen kleinen Sohn ins Bett. Wie jeden Abend singe ich ihm liebevoll „Oh Tannenbaum“ vor. Im Frühling, im Sommer, im Herbst und im Winter. Ich mache ein kleines Nachtlicht an, weil er so geborgen und mit weniger Angst einschläft. Ich streichle seinen Rücken, küsse ihn auf die Stirn und sage ihm: „Du bist ein tolles Kind!“ „Ich weiß!“, entgegnet er mir mit einem zufriedenen Lächeln und wird mit diesem Gefühl wenige Minuten später in einen erholsamen Schlaf fallen.

Später am Abend bringe ich meinen großen Sohn ins Bett. Ein Lied möchte er nicht mehr hören und mittlerweile braucht er auch kein Nachtlicht mehr. Aber das Rollo seines Fensters darf nicht verschlossen sein. Auch ihm streichle ich über seinen Rücken und sage ihm, was für ein wundervolles Kind er ist. Er schweigt. Und ich wünsche mir von Herzen, dass er es erkennen würde, genau wie sein kleiner Bruder.

Die Autorin und ihr Sohn kämpfen jeden Tag für ein besseres Morgen. (Quelle: privat)

Widersprüche, die täglich aufeinander treffen

Zurückhaltung gegen Offenheit, Angst gegen Mut, Zweifel gegen Selbstsicherheit, Wahnsinn gegen Gelassenheit, Katastrophisieren gegen das Hier und Jetzt. Diagnose Trennungsangst, depressive Episode gegen Gesundheit. Stark abgegrenzt voneinander und doch so eng miteinander verworren. Zwei Kinder, wie sie unterschiedlich nicht sein könnten. Zwei Kinderzimmer, nur wenige Meter voneinander entfernt.

Mein kleiner Sohn schleicht sich in seiner hellgrünen Jacke an einen Schwan heran, in der festen Überzeugung, dass er unentdeckt bleibt. Er schenkt einem Bettler 50 Cent, ohne den Cent Beachtung zu schenken, im Glauben, mit der „großen Zahl 50” fängt für ihn ein besseres Leben an. Er isst immer noch am Liebsten „Salagne” und „Parziman”. Wenn es ihn einmal umhaut, ist er der tapferste König, den ich kenne. Ich liebe unsere Mutproben im dunklen Keller. Sein Plappermaul steht fast nie still, das ist wahnsinnig anstrengend, aber es ist gut so! Es kostest viel Kraft, wenn sich seine Äuglein morgens öffnen und er voller Elan und mit tausenden Ideen in seinem Kopf, schon fast vor dem ersten Vogel, Tischkärtchen für das Sonntagsfrühstück bastelt. Er probiert aus, alles was er kann und ich betreibe oft einfach nur liebevolle Schadenbegrenzung.

Jeder Tag ein Kraftakt

Doch es gibt eine Welt, die noch viel mehr Kraft kostet. Äußere Krisen bedeuten eine große Chance, sich zu besinnen. Doch was kann man als Mutter tun, wenn es ganz tief drinnen geschieht? Wenn dem eigenen Kind die Trennung als das Schlimmste erscheint, durch all die Erinnerung an unvergessliche Stunden, Freundschaft, Zusammenhalt und unvergleichbare Liebe. Wenn der Abschied in den kleinsten Alltagsmomenten jegliches Wiedersehen, jedes Sein, jedes Glück überschattet. Dann gleicht das Besinnen einer Reise ins Nichts. Heute weiß ich, dass Furcht ihren besonderen Sinn hat. Sie fordert das innere Wachsen heraus. Mein großer Sohn ist gewachsen, viele Wochen und Monate, über sich selbst hinaus und ich hoffe von Herzen, dass er daran fest hält. Ich begleite ihn, unterstütze ihn, liebe und vertraue ihm. Nun muss er in sich selbst vertrauen und in das Leben. Wie sein kleiner Bruder. Ohne Eile leben, seine Bestimmung finden. Kreativ und mutig sein, denn Mut erobert das Leben. Lernen die Perfektion und mich loszulassen. Ich war sprachlos über das, was geschehen ist, nun möchte ich so viel sagen.

Schulabstinenz, Verlustangst, Trennungsangst, Depression. Von einigen Begriffen hatte ich noch nie zuvor gehört, heute habe ich gefühlt dutzende Fachbücher gelesen. Mich daran festgehalten, um Klarheit zu gewinnen. Tausend Gedanken gingen mir durch den Kopf. Ich wollte sie abstellen, wollte ihn zurück. Ihn, mit seinen positiven Gedanken. Ihn , in den Momenten, in denen es ihm gut ging. Damals sollte ich eine Entscheidung treffen. Was das Beste für ihn ist. Was das Beste für mich ist, oder sagen wir, wozu ich und er die letzte Kraft aufbringen konnten. Ambulante Therapie, stationäre Therapie oder Tagesklinik.

Berg- und Talfahrt

Meine Gefühle, meine Wut, meine Verzweiflung, meine Hoffnung – alles drehte sich Tag für Tag im Kreis. Wie sollte ich eine Entscheidung treffen, ohne zu wissen, ob er das durchhalten wird? Wenn ich, wenn er, wenn wir uns in dem einen Moment so stark fühlten und im nächsten Moment völlig gelähmt? Unsere Berg- und Talbahn, ohne Entrinnen. Höhen und Tiefen, Euphorie und Angst, so wahnsinnig eng bei einander. Und wenn sie anhielt, waren wir zu erschöpft um auszusteigen, bis sie wieder losfuhr.

Ich wollte ihn bei mir haben, ihn nicht allein lassen. Aber es hat mich so unendlich viel Kraft gekostet. Er hat geschrien, geweint, geflucht, jeden beschimpft und all unsere Grenzen überschritten. Tief verletzt und voller Schuld, wusste ich dennoch, dass ich es aushalten muss, weil er so jung ist. All die Erfahrungen, um das zu verstehen, was gerade passiert, konnte er sich nicht aneignen. All die Fachbegriffe, Therapiekonzepte und Hilfestellungen waren eine fremde Welt für ihn. Er hat mich jeden einzelnen Tag angefleht, ich soll machen, dass es aufhört.

Die beiden Söhne der Autorin, die unterschiedlicher nicht sein könnten. (Quelle: privat)

Schokolade macht glücklich

Wie oft saß ich an seinem Bett, wenn er eingeschlafen war. Ich hatte ihm einmal einen kleinen Glückskäfer gekauft – als ich es zu Hause nicht aushielt und
einkaufen gegangen war. Ich stand an der Kasse und war froh, wenn ich in einer
langen Schlange unter all den gestressten Menschen mal durchatmen konnte. Ich hatte den Käfer auf sein Kissen gelegt, mit einer kleinen Karte, auf der stand,
dass er es schaffen kann und alles gut wird. Es war ein Glückskäfer aus Schokolade. Schokolade macht glücklich. Wenigsten für einen kleinen Moment!

Nachts war alles ruhig, wir haben versucht unsere Energie aufzuladen, weil wir nicht wussten, wie es ihm am nächsten Tag gehen würde. Er hatte die Ruhe am allermeisten verdient, ohne seine katastrophalen Grübeleien, ohne dem erdrückenden Konflikt, seinem kleinen Bruder doch eigentlich die Welt zeigen zu wollen, mutig voran zu schreiten und ihm Vorbild zu sein. Wenn es ihm ganz schlecht ging, hat er sich oft auf den Boden gelegt, im Zimmer von seinem kleinen Bruder. Ich habe ihn dort viele Stunden weinen hören. Im Gespräch hat er gesagt, dass er so gern wäre wie er. Ich verfluchte diesen Satz und das, was ihm passierte, weil er so ein wunderbares Kind ist, es aber nicht wahrnehmen konnte. Sein kleiner Bruder steckt voller Vertrauen und Risikobereitschaft, er überdenkt manchmal nicht einen einzigen seiner Schritte. Er würde auf einen Stuhl klettern, ohne sich Sorgen zu machen, dass dieser vielleicht umfallen könnte und weil er stehen bleibt, genießt er eine Aussicht, die sein großer Bruder nie sehen wird, weil er gar nicht erst hinaufsteigt.

Drei so bedeutende Worte

In seinen schlimmsten Phasen hat er sie laut gebrüllt, drei so bedeutende Worte: „Ich hasse dich!“ Manchmal habe ich bitterlich geweint, schmerz- und schulderfüllt. Dann kam sein kleiner Bruder und hat mich in den Arm genommen und gesagt: „Ich hasse dich nicht, ich liebe dich!”

Da war er wieder, mein Spagat zwischen zwei Welten, zwischen Feuer und Wasser, der oft einer olympischen Disziplin glich, die ich nur überstand, weil ich eine bedingungslose, tiefe Liebe zu meinen Kindern empfinde und den Glauben in mir trage, dass sie so, wie sie sind, in Ordnung sind und am Ende alles gut wird. Heute geht es beiden gut, die Anstrengung hat sich gelohnt und in Gedanken trage ich stolz eine Goldmedaille um meinen Hals.

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