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Berufsberaterin Ragnhild Struss: „Es kostet Zeit und Kraft, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen“

Ragnhild Struss und Jalée Gheiby unterstützen andere dabei, einen Beruf zu finden, der zu ihnen passt. Doch um Interessen und Wissen geht es dabei nicht an erster Stelle.

Welcher Beruf passt zu mir?

Erinnerst du dich daran, wie du zu dem Entschluss gekommen bist, was du studieren wolltest oder welche Ausbildung die richtige für dich war? Wer hat dich beraten? Was hat dich beeinflusst oder inspiriert? Bist du aktuell glücklich?

Ragnhild Struss und Jalée Gheiby sind Expertinnen für berufliche Orientierung und verfolgen dabei einen besonderen Beratungsansatz: bei der Karriereberatung von Struss + Partner steht die Persönlichkeit des Menschen im Vordergrund, Interessen, so die Beraterinnen, sind nachrangig. Ragnhild Struss, Gründerin der Beratung, sagt: „Man hat keine Eingebungen. Wenn du dein inneres Betriebssystem kennenlernen möchtest, mach dich auf den Weg. Es ist harte Arbeit, den passenden Beruf zu finden.“ Doch was die eigene Persönlichkeit ausmacht und was davon ausgehend zu einer Person auch beruflich oder als Studium und Ausbildung passen könnte, wissen nur die wenigsten.

Ragnhild Struss, die die Karriereberatung 2003 im Hamburg gegründet hat und Jalée Gheiby, seit 2015 als Beraterin für Schüler, Studierende und Absolventen mit dabei, haben im Interview erzählt, wie berufliche Orientierung heute bei Jugendlichen abläuft, was sie in der Beratung von Eltern und Teenagern erleben und wie sie mit ihren Klienten arbeiten. Sie geben außerdem Tipps, wie man den ganz eigenen Charakter in Bewerbungssituationen authentisch präsentiert und haben Anregungen, wie man die eigene Persönlichkeit besser kennenlernen kann.

Bildquelle: Struss und Partner/Tristan Vostry

Wie finden junge Menschen heute ihre berufliche Orientierung? Haben die Eltern oder Vorbilder darauf Einfluss?

Ragnhild: „Eltern haben heute wieder eine prominentere Rolle, wie zum Beispiel die Shell-Studie zeigt. Eltern und Kinder sind sich wieder näher und Jugendliche besprechen persönliche Dinge mit ihnen und fragen sie auch gern um Rat. Dennoch gibt es zwei verschiedenen Ebenen: Wenn Eltern zu viel Verantwortung übernehmen, haben wir das Helicopter-Parenting-Problem, das ruft meistens Protest und Widerstand hervor. Das heißt, die Eltern müssen einen schmalen Pfad zwischen Berater*in und Begleiter*in beschreiten.“

Wie sieht es an den Schulen aus?

Ragnhild: „Es gibt Schulen, die tolle Initiativen starten. Aber generell ist Bedarf da, mehr zu machen. Denn den Jugendlichen geht es ja nicht nur um berufliche Orientierung, sondern auch darum etwas zu finden, was ihrer Persönlichkeit entspricht. Ich finde auch nicht, dass die Schule die Karriereberatung ganz übernehmen sollte. Was ich wichtig finde, ist, dass die Schule ihre gesellschaftliche Verantwortung übernimmt und den Jugendlichen bei der Persönlichkeitsentwicklung hilft.“

Tut sie das ausreichend?

Ragnhild: „Nein, ganz klar nicht. Einzelne Schulen machen ganz tolle Arbeit, aber flächendeckend ist das nicht verbreitet. Die laufende Berufsorientierung, ist ganz klar auf Interessen ausgerichtet und da ist unsere Meinung, dass diese Herangehensweise nicht effektiv ist um wirklich bei der Orientierung zu helfen, da der Blick auf die ganze Persönlichkeit fehlt.“

„Es kostet Zeit und Kraft, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen.“

Ihr haltet auch Vorträge an Schulen. Sucht ihr dort auch den Dialog um zu sagen, dass es eigentlich anders laufen sollte?

Jalée: „Wir sehen das ein bisschen als unseren Auftrag, es zumindest so weit wie wir können voranzutreiben. Wir machen zum Beispiel auch Workshops und sehen schon nach zwei Schulstunden, wie angeregt die Jugendlichen sind, sich gegenseitig über ihre Persönlichkeit auszutauschen und mal zu reflektieren, wie Selbst- und Fremdbild auseinander klaffen. Das sind Schüler*innen, die kurz vorm Abitur stehen und sich noch nie systematisch damit beschäftigt haben.“

Ragnhild: „Um die eigene Bestimmung zu finden, muss man sich Zeit nehmen. Und beruflich wird diese Generation den Anspruch an den Job haben, sich darin entwickeln und sehen zu können. Es kostet Zeit und Kraft, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Und man muss es strukturiert angehen. Das machen die meisten nicht, denn die meisten Jugendlichen denken: ,Ich bekomme irgendwann eine Eingebung.’“

Jalée: „Und die Eingebung kommt meistens von außen: Wenn ich in einem Umfeld groß werde, in dem alle Eltern Ärzt*in, Anwält*in oder Lehrer*in sind, dann ist mein Sichtfeld ziemlich eingeschränkt und ich komme auf bestimmte Berufe oder Ausbildungswege nicht, weil ich sie gar nicht kenne.“

Wie können Schüler*innen denn vorgehen?

Ragnhild: „Jugendliche betrachten meistens den Markt und fällen ihre Entscheidung von außen nach innen, welches Studium sie beginnen möchten. Sprich: Leute kommen zu uns in die Beratung und sagen: ,Sie können mir alles empfehlen außer Medizin, Medienwissenschaften, Psychologie’ … und zählen wirr irgendetwas auf. Und dann fragen wir: ,Warum?‘ – ,Ja das ist ein NC, den ich sowieso nicht erreiche.‘ Das nächste Kriterium sind Statistiken, die veröffentlicht werden über Jobaussichten und Arbeitslosigkeit oder die Jugendlichen orientieren sich eben an ihrem Umfeld. Und das ist schade. Denn so entscheiden sich Leute Jura zu studieren, die sich vielleicht gar nicht für Jura eignen. Und natürlich haben die dann später Schwierigkeiten einen Job zu finden. Wenn du dich wirklich systematisch mit dir auseinandersetzt und dir vielleicht auch Hilfe dabei holst, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass du später einen Job findest, viel größer, denn wenn du aufgehst in dem, was du tust und gut da drin bist, dann wirst du auch einen Job finden.“

„Es gibt die braven Kinder, die den ganzen Ansprüchen immer wieder gerecht werden wollen, und nicht mehr wissen, was sie selbst eigentlich wollen.“

Ihr integriert die Eltern in den Beratungsprozess. Erlebt ihr manchmal, dass da Welten aufeinanderprallen und die Eltern ein Bild von ihrem Kind haben, das Kind aber etwas ganz anderes machen möchte?

Ragnhild: „Emotional ist es manchmal krass aufgeladen, plötzlich reden nur noch die Eltern und das Kind gar nicht mehr. Dann muss man sagen: ,Stop! Nehmen wir doch alle mal ne Meta-Perspektive ein. Sie beschweren sich darüber, dass ihr Kind so faul ist … und was passiert hier gerade?‘ Ich nenne das immer Energie-Ausgleichsprinzip: Also da ist eine Familie, in der die Helikopter-Eltern sagen: ,Und dann besorgen wir noch dieses Praktikum!‘ Und dann sage ich immer: ,Ach WIR machen das? Sie machen auch noch mal Abitur?‘ So kann ich das spiegeln. Die Eltern sind zwar offen, aber das ist auch eine gewachsene Struktur. Wenn die Eltern viel helfen, wird das Kind zur Lethargie erzogen. Warum sollen die sich dann anstrengen? Oder es passiert so eine Art innere Kündigung. Je nach Charakter kann es aber auch zu totaler Aggression führen. Oder es gibt die braven Kinder, die den ganzen Ansprüchen immer wieder gerecht werden wollen, und nicht mehr wissen, was sie selbst eigentlich wollen und keine eigene Identität entwickeln. Die sind dann gefangen in den eigenen Leistungsansprüchen und wollen nur gefallen.“

Was sagt das über die Elterngeneration? Warum stecken Eltern so viel Selbstverwirklichung in die Kinder?

Ragnhild: „Jung hat mal gesagt: Die schlimmsten Traumata einer Familie sind die nicht erfüllten Träume der Eltern. Die Sehnsüchte der Eltern. Es ist schwer, das pauschal zu beantworten, denn es ist sehr facettenreich. Es gibt auch Eltern, die sind so großartig. Die kommen zu uns in die Beratung, weil sie sagen: ,Vielleicht sehen wir ja auch irgendwas nicht, wir wollten mal unseren Horizont erweitern.’ Es gibt Eltern, von denen ich sage: Können Sie mich bitte adoptieren! Aber es kommt auch vor, dass die Beratung Themen zum Vorschein bringt, die eigentlich nicht direkt bei den Klient*innen, sondern in der Familie liegen. Das können unerfüllte Wünsche der Eltern oder Familienaufträge sein, also Erwartungen und Hoffnungen, die Eltern ihren Kindern mit auf den beruflichen Weg geben.“

Was sind das für Themen?

Jalée: „Das sind oft die Frauen, die für sich später feststellen, dass sie gern mehr gearbeitet hätten, anstatt sich um die Familie zu kümmern. Die Mutter möchte dann unbedingt, dass das Mädchen unabhängig ist. Wenn wir zum Beispiel eine 15-Jährige da sitzen haben, die sehr beziehungsmotiviert ist, auf Nähe geht, auf die Bedürfnisse von anderen Menschen ausgerichtet ist und dann so Sätze sagt wie: ,Als Frau muss man auf jeden Fall Karriere machen‘, fragen wir nach. Denn sie sagt also etwas, das nicht kongruent mit ihrer Persönlichkeit ist. Wir schauen dann, ob das unerfüllte Wünsche der Eltern sind, oder Abgrenzungsthemen, oder Leben-über-die Kinder-leben-Themen.“

Das klingt danach, als gäbe es ein geballtes psychologisches Wissen bei euch …

Ragnhild: „Wir haben alle psychologische Zusatzausbildungen, aber nicht alle müssen Psychologie studiert haben. Denn das ist auch Teil unseres Beratungsverständnisses: Wenn du eine Fähigkeit als Stärke ausgebildet hast, dann muss das nicht sein, weil du es studiert hast. Sondern das Leben hat dich auch Dinge gelehrt, du hast ein Talent als Grundlage, aus der du ganz viele Stärken ausbauen kannst. Wenn mein Talent ist, dass ich Visionen haben kann, dann kann ich entweder unternehmensstrategisch arbeiten oder auch therapeutisch arbeiten. Die Frage ist immer: Wohin bilde ich mein Potential aus?“

Sagt ihr auch: „Studieren ist nicht das Richtige für dich“?

Ragnhild: „Ja, klar. Es gibt so viele Möglichkeiten. Wenn wir zum Beispiel eine*n Klient*in vor uns haben, der*die noch nicht gefestigt in seiner Persönlichkeit ist – also noch etwas unsicher und  wenig selbständig ist – könnte man eine Ausbildung oder ein soziales Jahr empfehlen. In vorgegebenen Strukturen zu arbeiten oder sich um andere zu kümmern, macht erfahrungsgemäß mutiger und aufgeschlossener.“

Jalée: „Wir nehmen keine Rücksicht darauf, ob jemand aus einer Akademiker*innen-Familie kommt oder nicht. Denn wir wollen nicht über das Außen entscheiden. Niemand kann etwas dafür, wo er reingeboren wird. Wenn jemand eher ein praktischer Typ ist, der umsetzt und ein Ergebnis sehen möchte, der ist in der Uni nicht zufrieden. Das ist kein authentischer Ort für ihn.“

Wie kommt das in Akademiker*innen-Familien an?

Jalée: „Wir machen unterschiedliche Erfahrung. Aber: Wenn Eltern die Herleitung aus der Persönlichkeit nachvollziehen können, stehen sie auch den Empfehlungen wohlwollend gegenüber. Schließlich wollen sie, dass ihr Kind zufrieden ist.“

Ragnhild: „In der Beratung sparen wir aus, was sich der Jugendliche oder die Eltern als mögliche Berufe überlegt haben. Wir konzentrieren uns auf die Persönlichkeit. Wir schauen uns den Menschen als solchen an und nehmen die Wertung raus. Wenn du dein Potenzial entfaltest, dann bist du glücklich. Das ist nicht gut oder schlecht, ob du das eine oder das andere machst.“

Jalée: „Ich habe schon eine Beratung erlebt, in der den Eltern die Schuppen von den Augen gefallen sind und sie waren so dankbar, als wir gesagt haben, das Kind solle eine landwirtschaftliche Ausbildung machen. Denn in den Sphären haben sie gar nicht denken können und sich nur gefragt: ,Warum ist er denn so unglücklich?‘ Das war eine unheimliche Erleichterung für die Eltern. Das sind Magic Moments in der Beratung!“

„Wenn du dein Potenzial entfaltest, dann bist du glücklich.“

Wie gut ist das Informationsangebot für Teenager und Abiturienten?

Jalée: „Das erste Problem ist, dass man keinen Überblick bekommen kann, wenn man nur über die Interessen geht. Wenn ich meine Persönlichkeit kenne, kann ich gezielter recherchieren. Die Informationen sind zwar besser aufbereitet und es ist viel besser als vor zehn Jahren, was man online zur Berufsberatung findet, es sind aber eher zu viele Informationen und sie sind zu komplex. Es fehlt die systematische Herangehensweise, das auch bewerten zu können.“

Warum wissen das so wenige, dass die Interessen bei der Studienwahl nicht der erste Ansatz sein sollten?

„Gute Frage … wir sehen jedenfalls, 30 Prozent der Studierenden brechen ab. Wenn der Staat nur 1.000 Euro pro Person ausgeben würde, damit sie gut beraten werden, könnte man die Abbrecher*innenquote enorm senken. Abbrechen ist ja nicht schlimm, aber volkswirtschaftlich verursacht es Kosten. Die Frage ist ja auch: Was machen wir mit dem ganzen Potenzial, was die Leute haben, aber nicht entfalten können?“

Hat das nur mit falscher und fehlender Beratung zu tun?

„Ein zusätzliches Problem ist, dass wir heute schon stark in Selbstdarstellung leben. Man muss sehr stark sein und sehr bewusst, um zu sagen: Wer bin ich, wenn keiner zuguckt? Wenn ich kein Foto poste? Wir gehen an die Schulen, um den Jugendlichen zu sagen: Trau dich individuell zu sein. Denn sie sind stark aufgespalten zwischen Gruppendruck und Zugehörigkeit und der Suche nach individueller Lebensgestaltung. In der Lücke versuchen wir sie zu motivieren: Setz dich mit dir auseinander. Es kommt nicht einfach so. Du musst dafür arbeiten um zu wissen, was dich motiviert und antreibt. Und wir fragen: Was willst du für einen Fußabdruck auf dieser Welt hinterlassen? Wenn du 90 bist, was willst du gesehen haben? Weil das gibt dir einen ganz großen Hinweis darauf, wie du authentisch leben kannst.“

Wie läuft denn ein Persönlichkeitstest bei euch ab?

Jalée: „Immer im 1-1-Prinzip. Man bekommt den Berater für einen ganzen Tag plus ein ganzes Jahr für die nachträglichen Fragen. Und der Tag ist sehr intensiv und straff strukturiert. Zuerst macht man viele personaldiagnostische Testverfahren, das sind teilweise Tests die wir entwickelt haben, oder die wir eingekauft haben. So, dass wir am Ende des Tages ein gutes Bild von der Persönlichkeit haben.“

Wie geht es dann weiter?

„Zusätzlich machen wir ein langes Tiefeninterview, und beschäftigen uns ganz intensiv mit der Person und was sie bewegt, um die Ergebnisse der Testverfahren zu bestätigen. Manchmal wirft es auch neue Fragen auf. Das besprechen wir dann im 4-Augen-Prinzip. Nie wird ein*e Berater*in allein eine Empfehlung aussprechen, weil man immer beeinflusst ist, wenn man jemanden mag oder von ihm an etwas erinnert wird. Subjektivität hindert immer. Dann würde ich als zu Ragnhild gehen und ihr die Ergebnisse vorlegen und dann gleichen wir die Empfehlungen ab, Also: Aha: Zahnmedizin, vielleicht ne Ausbildung als Goldschmied vorher, noch mal ein Sozialprojekt im Ausland und für den Stressabbau zum Beispiel mit Yoga anfangen. Es ist also sehr umfangreich und geht über die Ausbildung hinaus.“

Ragnhild: „Wir haben einen sehr holistischen Ansatz und da ist es egal, ob jemand 15 oder 40 ist, du kannst im Grunde genommen nur dann erfolgreich und glücklich sein, wenn du in Kongruenz mit deiner Persönlichkeit arbeitest, weil du in keinem anderen Setting effizienter wärest. Es ist ein selbst-anregendes System, wenn du etwas tust, was dich beflügelt und du dich zusätzlich weiterentwickeln kannst. Dann wirst du intrinsisch motiviert und das ist ja, was man will.“

Bekommen eure Klient*innen verschiedene Wege aufgezeigt?

Ragnhild: „Sie bekommen schon sehr konkrete Berufsbilder, aber dass man nur einen bekommt, das ist selten. Ich hatte neulich eine Kundin, der habe ich Steuerberatung, Controlling und Wirtschaftsprüfung empfohlen, da war ich 100-Prozent sicher. Aber das ist sehr selten. Wir verstehen uns auch nicht als Beratung, die die nächsten 20 Jahre für dich plant. Wir verstehen uns als Beratung, die im Sinne deiner übergeordneten Lebensvision einen Weg aufzeigen will. Auf diesem Weg, können wir ganz klar deine nächsten Schritte definieren.“

Jalée: „Wir können zum Beispiel schon sagen: ,Studier etwas Geisteswissenschaftliches, am besten Geschichte an der und der Uni mit diesem Nebenfach. Dann mach ein Auslandssemester und ein Praktikum bei EDITION F, weil du die Startup-Atmosphäre brauchst, geh nicht in einen großen Verlag’.“

Ragnhild: „Wir geben auch Persönlichkeitsentwicklungstipps, wenn man zum Beispiel in Interviews unterschätzt wird. Denn man muss den Leuten ja auch vermitteln: ,So wirkst du und das ist das System, auf das du treffen wirst. Und das ziehen andere aus deinem Eindruck’.“

„Hübsche, zurückhaltende Mädchen werden oft krass unterschätzt.“

Wie werden Persönlichkeiten denn wahrgenommen?

Ragnhild: „In Deutschland ist es zum Beispiel so, dass wenn du begeisterungsfähig und offen bist, denken andere, du bist dumm. Wenn du hingegen kritisch und miesepetrig bist, geben sie dir zehn IQ-Punkte mehr. Das ist doch absurd. Und im Interview kannst du nur mit dem ersten Eindruck überzeugen. Du wirst eingestellt, wenn du kompetent und warm wirkst. Also nahbar. Dann musst du wissen, wie wirke ich als Person. Was sind meine Themen?

In einer Interview-Situation wirken alle Biases, die man beim ersten Treffen hat. Du wirst im Kontext beurteilt, deine Klamotten werden beurteilt, der*die Personaler*in wird dich äußerlich bewerten, da kann man gar nichts machen. Wenn du ein introvertierter Typ bist und du damit rechnen musst, dass der andere ein beziehungsunsicherer Typ ist, wird er weniger dazu geneigt sein, dich einzustellen. Weil er nicht weiß, ob er dir vertrauen kann. Wenn du dann auch noch introvertiert und analytisch bist und dich aber nicht in einer Bank bewirbst, solltest du unbedingt wissen, wie du wirkst.“

Was ist euer Tipp für zurückhaltende Menschen?

Ragnhild: „Ein introvertiert-analytisches Mädchen, das sich nicht für typische Mädchenthemen interessiert, was wissbegierig ist und Dokus guckt, die hat mit 16 nicht die Möglichkeit zu verstehen, wie sie ist, weil sie so anders ist als ihr Umfeld. Die denkt immer: ;Hä, hä?‘ Wenn sie auch noch distanziert ist, wird sie immer versuchen erkenntnisorientiert eine Situation zu analysieren, bevor sie handelt. Das ist im Pubertätskontakt dann so für sie, das ist seltsam für andere ist, denn die sind eher so: ,HI!!’ Und sie denkt sich: ,Was sage ich jetzt?’ Aber sie fühlt ja nicht weniger, aber macht im Inneren erst etwas, bevor sie nach außen geht. In der Beratung zeigen wir ihr dann, wie sie wirkt. Denn jemand, der extrovertiert ist, denkt sich: ,Scheiße, die mag mich nicht.’ Das passiert auch in Vorstellungsgesprächen. Hübsche, ein bisschen zurückhaltende Mädchen werden oft krass unterschätzt, obwohl sie wirklich etwas draufhaben.“

Wie ist da der Beratungsansatz? Sollen die stillen Leute sich verstellen?

Ragnhild: „Nein. Nie! Man sollte sich nie verstellen. Man kann nur überzeugen, wenn man authentisch ist.  Aber du musst es ins Gespräch bringen.“

Was würde eine introvertierte Person jetzt machen?

Ragnhild: „Also, Introvertierte können zum Beispiel oft nicht lange Augenkontakt halten, weil das im Grunde eine Konfrontation ist und sie dann nicht in Ruhe denken können. Was wichtig ist: Das zu sagen. Zum Beispiel: ,Mir wurde schon öfter gesagt, dass ich desinteressiert oder zurückhaltend bin, das ist nicht so, ich bin einfach ein erkenntnisorientierter Mensch, der sich gern über die Dinge Gedanken macht und dafür brauche ich ein bisschen Zeit’. Leider verwechseln Leute in unserer Gesellschaft gern Introversion mit Unnahbarkeit und Lahmarschigkeit. Das ist ein ganz großer Fehler. Sich selbst zu kennen und zu verbalisieren, wie man ist, das ist für ein Vorstellungsgespräch die beste Strategie.“

Jaleé: „In der Beratung üben wir das. Also zum Beispiel zu sagen: ,Wissen Sie was, ich bin gerade richtig aufgeregt.’ Das nimmt sofort den Druck aus der Situation. Oder du sagst: ,Solche Testgespräche sind überhaupt nicht meins aber ich muss da jetzt durch.’ Da denkt mein Gegenüber sofort: ,Man, wie sympathisch.’“

Ragnhild: „Wir besprechen mit unseren Klient*innen wie sie wahrscheinlich auf die Mehrheit der anderen Leute wirken. Und sehr viele Menschen, die im Personalmanagement arbeiten, sind extrovertiert und beziehungsorientiert, das heißt, sie wollen ständig Bestätigung. Keiner soll sich verstellen. Aber es ist eine gute Übung zu reflektieren, wie man wirkt. Denn es gibt ganz leichte Dinge als Introvertierter Brücken zu bauen für den Gegenüber, der Unsicherheit fühlt. Und wenn der*die extrovertierte Personaler*in bei sich die Unsicherheit dem*der Introvertierten gegenüber spürt, wird er keine positive Einstellungsentscheidung treffen. Also sagen wir Introvertierten einfach: ,Lächle und nicke.‘ Das reicht meistens schon. Das signalisiert: Ich bin bei dir. Ich interessiere mich dafür, was du sagst.“

Das heißt, eure Beratung trainiert auch in der Beziehungsfähigkeit und lehrt die Klient*innen, das es gar nicht nur um sie selbst geht.

Ragnhild: „Wenn man mal überlegt: Was macht eigentlich glücklich? Dann ist in tausenden Untersuchungen herausgekommen, dass es wichtig ist, zu sich selbst und zu anderen ein gutes Verhältnis zu pflegen. Und weil im Job viel in Kontakt und in Kommunikation stattfindet, ist es wichtig, die Aufmerksamkeit dafür zu entwickeln: Wer bin ich und wer ist der andere. Habe ich den Mut, eine Beziehung zu thematisieren? Beziehungsfähigkeit fängt bei dir selbst an.“

Hat sich gewandelt, was Leute von ihrem Job wollen?

Ragnhild: „Das Wichtigste ist, dass die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit sehr fließend sind, und der Blick ist sehr viel selbstkonzentrierter im Sinne von: Ich nehme mich überall mit hin. Es geht den Menschen in einem Entwicklungssinne sehr viel mehr um sie selbst. Es geht nicht ums Unternehmen und um Rentenpläne. Geld ist eher ein hygienischer Faktor. Es ist schon wichtig, aber es ist nicht das, was wirklich stark motivieren kann. Sie wollen erkannt werden, brauchen viel Feedback über ihre persönliche Entwicklung und das Gefühl haben in ihrem eigenen Wertekanon eine sinnstiftende Tätigkeit ausüben.“

„Eine bestimmte Form von Freude empfindet man nur, wenn man tief in die Materie einsteigt und man mal lange bei einer Sache bleibt.“

Was erwarten sie von ihren Chefs?

Ragnhild: „Sie wollen, dass man sich um sie kümmert. Was ich problematisch finde, ist, dass viele eine sehr rezeptive Haltung haben … also, sie wollen bespaßt werden und wenn es Spaß macht, ist es schon okay. Dann muss man den Leuten auch beibringen, dass sie eine bestimmte Form von Freude nur empfinden können, wenn sie tief in die Materie einsteigen und wenn man mal lange bei einer Sache bleibt. Wir bewerten Neues heute höher als Durchhalten, das sehe ich kritisch.“

Erwarten Mitarbeiter*innen denn auch, dass sie ihre Persönlichkeit entwickeln können?

Ragnhild: „Jeder Mensch möchte gesehen werden. Wenn dein Chef oder deine Chefin sich für dich stark macht und du dich selbst sehen darfst, du einen Blick auf dich selbst werfen kannst, der eine charakterliche Standortananlyse ist, dann ist das schon ein Akt der Anerkennung, denn er sagt: ,Ich bin an dir interessiert, ich meine dich.’ Zudem ist es wichtig für die Unternehmen, denn wenn ich es auf die Spitze treibe, werden funktionale Fertigkeiten von Computern ersetzt werden. Was du als allerletztes ersetzen kannst ist das interpersönliche und die Überzeugungskraft, die du hast.“

Wie wie findet man denn etwas, das ihr wirklich Spaß macht?

Jalée: „Wenn du weißt, was dich motiviert, kannst du überlegen, wo du diese Motivation findest. Man kann dazu auch ein Tagebuch anlegen, zum Beispiel für drei Monate und immer wieder aufschreiben, was dazu geführt hat, dass man motiviert war und gut arbeiten konnte. Da geht es auch nicht um den Job konkret, sondern um das Umfeld. Ergebnisse können sein: Ich brauche Lob, die Arbeit im Team und den Wettbewerb.“

Wenn unsere Leser*innen jetzt feststellen, dass sie viel zu wenig über ihre Persönlichkeit wissen, was können sie tun?

Ragnhild: „Man hat keine Eingebungen. Wenn du dein inneres Betriebssystem kennenlernen möchtest, mach dich auf den Weg. Es ist harte Arbeit“

Jalée: „Man sollte also richtig Zeit einplanen. Sich einen Ordner nehmen, Persönlichkeitsentwicklung draufschreiben und loslegen. Das kann Tagebuch schreiben sein, was kann ich eigentlich gut, was sagen andere Leute, die dann auch gezielt befragen, Selbstbild und Fremdbild abgleichen. Auch Zeit einplanen. Das erreicht man nicht in einer Woche. Vielleicht mal sechs Monate einplanen und sich sagen: ,Dafür nehme ich mir jetzt jeden Sonntag von 15 Uhr bis 16 Uhr Zeit und beschäftige mich mit meiner Persönlichkeit.“ Da kann sehr viel passieren.“

Ragnhild: „Zunächst solltest du bei dir selbst anfangen und eine Art innere Inventur machen, eine komplette Bestandsaufnahme – beruflicher und persönlicher Aspekte. Also frag dich: In welchen beruflichen oder auch privaten Umfeldern ging es mir in der Vergangenheit gut? Wo habe ich mich mit den Aufgaben und Kolleg*innen wohlgefühlt? Was hat mir gutgetan? Welche Themen haben mich interessiert? Welche Stimmung und Atmosphäre? Kreativ, wuselig, wettbewerbsorientiert oder besinnlich? Tätigkeiten, die besonders Kopf , Herz oder Hand ansprechen? Welche Menschen haben mich zuletzt inspiriert und warum?

Daraus ergeben sich schon viele Antworten auf Fragen nach der Umgebung und den Tätigkeiten. Dann geht es natürlich auch um Prioritäten: Welche Rolle spielt das Gehalt für dich? Welche die Vereinbarkeit mit der Familie? Wie wichtig sind dir Aufstieg, Renommee und Image? So kannst du das Cluster um eigene Ansprüche und Werte erweitern. Fehlen noch die persönlichen Benefits: Was bringe ich mit? Was kann ich besser als andere? Gerade dieser Teil fällt vielen erstaunlich schwer. Was sind eigentlich meine Stärken? Wofür bekomme ich Komplimente? Was fällt mir leicht? Meist ist es sinnvoll, zusätzlich auch auf die eigenen Wurzeln zu schauen: Was habe ich von Zuhause mitbekommen? Was prägt mich? Diese Motive ziehen sich häufig durchs Berufsleben.“

Jalée: „Nach der Nabelschau sollte aber unbedingt noch der Blick von außen folgen! Freund*innen fragen, ein Fremdbild erstellen, abgleichen. Was würden mir Freund*innen raten? Wo sehen die meine Stärken und Schwächen? Online gibt es Selbstcoaching-Programme, die super sind zur Objektivierung. Webinare und andere Beratungs- und Weiterbildungsangebote helfen auch beim Orientieren. Wer in eine neue Branche einsteigen will, sollte auf jeden Fall auch Praktiker*innen befragen. Die meisten Menschen fühlen sich geschmeichelt, wenn andere wissen wollen, wie genau ihr Arbeitsleben aussieht. Nachfragen lohnt sich. Und schützt vor falschen Illusionen!“

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