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Frust statt Lernlust: Warum ich an dieser Berliner Schule keine Lehrerin mehr sein wollte

Warum ich in Berlin den Schuldienst aufgegeben habe? Weil der Dienst nach Vorschrift meine Schüler_innen nachweislich demütigte und frustrierte. Ich fand einen Weg, ihre Potentiale zu entfalten. Potentiale, die in jedem Menschen stecken.

Das Schulsystem muss die Schüler als Individuen anerkennen

Menschen, denen man keinen Eigensinn zugesteht, sind in der Regel nicht besonders begeistert, wenn sie mit dem Eigensinn anderer konfrontiert werden. Das ist nicht weiter verwunderlich: Der Frust darüber, dass man selbst NICHT das machen durfte, was man selbst wollte, führt dazu, dass man es anderen auch nicht gönnt.

Ich halte es aber für wichtig, dem Eigensinn unserer Schüler_innen nachzugehen und diesen zu bestärken. Das war der rettende „Turning Point“, als ich vor zehn Jahren an einer Neuköllner Schule zu scheitern drohte: Ich bestärkte meine Schüler_innen in dem, was sie selber wollten und konnten. Daraufhin liefen sie zur Hochform auf und WOLLTEN sich (von ihrer besseren Seite) zeigen.

Dami leistete ich mir auch selbst ein Stück weit Eigensinnigkeit – eine eigene, quasi „selbst ausgedachte“ Form von Unterricht – und brachte auf diese Weise den Eigensinn meiner Schüler_innen hervor. Und damit ihre vielfältigen Potentiale. Das konnte ich tun, weil ich als Lehrerin in Schleswig Holstein an sehr guten Schulen in meinem Eigensinn bestärkt worden war, und deshalb nur zu gerne bereit war, meinen Schüler_innen in ihrem Eigensinn zu folgen.

Warum Eigensinn etwas sehr Positives ist und die Schulstrukturreform die Kinder frustrierte

Wie an dieser Stelle spätestens klar sein sollte, verstehe ich Eigensinn als etwas sehr Positives. Eigensinn ist die Basis für die Entdeckung und Entwicklung des eigenen Potentials. Im Eigensinn entspringt Kreativität und der Glaube an die eigenen Fähigkeiten – die sich in der Folge dann tatsächlich realisieren lassen.

Wenn ich in einem Satz zusammenfassen sollte, warum ich 2013 in Berlin den Schuldienst aufgegeben habe, dann würde ich sagen: Weil ich – nach der Schulstrukturreform – plötzlich Dienst nach Vorschrift machen sollte. Obwohl dieser meine Schüler_innen nachweislich demütigte und frustrierte. Wohingegen der partizipativ gestaltete Theaterunterricht sie auf verschiedensten Feldern zur Hochform auflaufen ließ.

In den Jahren als Lehrerin in Schleswig Holstein hatte ich dagegen mehr Flexibilität in Bezug auf kreative Unterrichtsformen erlebt. Zwar fing es in meinem Referendariat in Kiel augenscheinlich sehr normiert an. Konfrontiert mit ermüdenden Regularien und engen Vorschriften, wie beispielsweise eine Stunde auszusehen hatte, und mit einer widersinnigen Fokussierung auf Fehler, verlor ich zunächst die Lust auf meinen Beruf und vertraute mich meiner damaligen Mentorin an.

Was würden Sie tun, wenn Sie die Möglichkeit dazu hätten?

Sie fragte mich daraufhin ganz offen: „Wozu hätten Sie denn Lust – wenn Sie es sich aussuchen könnten?“ Meine Antwort im Jahr 1997 lautete: Ich würde gerne mit allen Schüler_innen und allen Lehrer_innen der Schule ein Theaterstück realisieren.

Meine Mentorin fand das überraschenderweise gut. Ebenso der Schulleiter, der sofort einen pragmatischen Vorschlag machte: „Was Sie da vorschlagen, klingt – ehrlich gesagt – etwas unrealistisch, Frau Plath. Aber Sie bekommen von mir eine Chance: Nächsten Freitag lasse ich die ersten zwei Unterrichtsstunden ausfallen und bitte alle Schüler_innen und alle Kollegen_innen, sich in der Aula zu versammeln. Da haben Sie dann zwei Stunden Zeit, alle von Ihrer Projekt-Idee zu überzeugen. Wenn im Anschluss  an diese zwei Stunden alle Schüler_innen und alle Lehrer_innen der Schule sich in entsprechende Teilnehmer-Listen eingetragen haben, bekommen Sie von mir das Go.“

Mit Musik, Fotos und einer „flammenden Rede“ gelang es mir an jenem Freitag, die Schule zu überzeugen: Alle Kollegen_innen und alle Schüler_innen trugen sich in die von mir vorbereiteten Listen ein. Jede Liste stand für einen Arbeitsbereich innerhalb des Projektes: Theater, Texte schreiben, Tanz, Musik, Kostüme, Bühnenbild, Gelder-Akquise, und so weiter, und so fort.

Der Schulleiter blätterte anschließend die Listen durch, lächelte amüsiert und sagte: Gut, Frau Plath. Wir machen das.

Mit mehr Vertrauen ineinander kann man auch das Unmögliche schaffen

So. Und jetzt mal ganz kurz inne halten. Was für ein Wahnsinn! Was für ein Vertrauensvorschuss! Ich war damals 27, hatte keine Ahnung von Theaterpädagogik, keine Ahnung, was die Umsetzung eines solchen Mammutprojektes im Einzelnen bedeutete. Ich war völlig naiv – und das wird dem Schulleiter klar gewesen sein…

Aber ich wollte es ja auch nicht alleine machen. Sondern mit allen zusammen. Und ich war absolut überzeugt von der Idee, die man im Kulturbetrieb Kollaboration nennt, und hatte alles genau vor Augen – ohne aber zu wissen, was diese Idee im Einzelnen an Struktur und Organisation erfordern würde. Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich wahrscheinlich gar nicht den Mut aufgebracht, es tatsächlich zu tun.

Aber trotz aller Naivität habe ich schon damals dasselbe geglaubt, wie jetzt immer noch: Dass jeder etwas kann – und wenn alle das machen dürfen, was sie können und ermutigt werden, sich genau damit einzubringen, kann man etwas scheinbar Unmögliches möglich machen.

Wie wir zum Erfolg gelangen? Durch gemeinsames Arbeiten

Natürlich gab es Kollegen_innen, die im folgenden, mehrmonatigen Prozess schlecht über mich redeten und „diesen ganzen Quatsch einer durchgeknallten Referendarin“ anzweifelten. Aber die Mehrheit, und vor allem die 200 Schüler_innen, zogen mit. Der ganze Ort (Schönberg bei Kiel) zog mit. Die Eltern zogen mit. Die Geschäfte und Firmen vor Ort sponserten Geld oder stifteten Ausstattungs-Material wie Ton- und Lichttechnik.

Jede_r einzelne brachte sich mit dem ein, was er oder sie konnte und wollte. Mehrere Monate lang summte die Realschule Schönberg wie ein Bienenkorb und alle arbeiteten weit über das normale Maß hinaus. Die reguläre Stundentafel wurde zugunsten der Projektarbeit „stark modifiziert“, am Ende für zwei Wochen vollständig aufgegeben.

Zwischendurch gab es Konflikte, Streit, Zweifel, Krisen, Tränen. Aber am Ende stand eine „Theaterproduktion“, eher wohl ein theatrales Event, das in der Mehrzweckhalle des Ortes vor ausverkauftem Saal aufgeführt wurde und Begeisterung auslöste.

Anschließend lagen sich alle Beteiligten in den Armen. Konflikte, die seit Jahrzehnten im Kollegium gegärt hatten, wurden nach der gelungenen Premiere bei Sekt und erstmals offenen, persönlichen Gesprächen geklärt. Der gemeinsame Erfolg löste lang verschwiegene Frustrationen und Verletzungen auf.

Innovative Problemlösung ist der Schlüssel

Ich habe schließlich über dieses „Projekt“ meine Examensarbeit geschrieben. Im „Handbuch Öffentlichkeitsarbeit“, Herder Verlag, 1997,  beschreibt Armin Krenz diese Arbeit der Realschule Schönberg als außenstehender Beobachter folgendermaßen:

„Vielleicht ist es mir gelungen, ein wenig von der Atmosphäre dieser Aufführung herüberzubringen. Hier wurde ‚nicht gekleckert, sondern geklotzt’. Hier wurden ‚Bordmittel genutzt und mit professioneller Hilfe ergänzt’. Hier stimmte das Innenambiente der Schule mit dem Außenambiente (Presse, Funk, Einladungsplakate) überein. Hier gab es eine hohe Stimmigkeit zwischen der hohen Motivation der Schülerinnen und Schüler sowie der Lehrerinnen und Lehrer, die zu jedem Zeitpunkt zu spüren war. (…) Professionalität und Stimmigkeit von Inhalten und gelebten Beziehungen, Motivation und Aktivität, Zielsetzungen und eingeschlagene Wege, Bestandsaufnahmen und innovative Problemlösungen führten unweigerlich zum Erfolg.“

Wenig später trat ich meinen Dienst an der IGS Bad Oldesloe an. Ich absolvierte die Weiterbildung zur DS-Lehrerin (Darstellendes Spiel). Schon während dieser Ausbildung begann ich dann im Angesicht all der Dinge, die ich dort lernte, mich für meine Naivität im Referendariat zu schämen. Mir fiel auf, was ich alles nach den Kriterien des Faches Darstellendes Spiel „falsch“ gemacht hatte. Es war mir so peinlich, dass ich zehn Jahre lang nicht darüber redete. Ich stellte mir mit innerem Gruseln vor, wie meine DS-Kollegen_innen über meine autodidaktische Arbeit in Schönberg gelacht und gelästert hätten. Bin ich damals doch über das Ziel hinausgeschossen?

Inhaltlicher Anspruch ist genauso wichtig, wie der Mut sich auszuprobieren

Jetzt ist das alles fast 20 Jahre her. Jahre voller Theaterarbeit mit Jugendlichen, Austausch bundesweit mit der „DS-Lehrer-Szene“, Theaterpädagogen_innen und Künstler_innen, im Vorstand des Bundesverbandes Theater in Schulen und in der Jury für das Theatertreffen der Jugend. Jahre voller Veranstaltungen und Seminare zum Darstellenden Spiel, das jetzt „Theater“ heißt. Jahre voller praktischer Erfahrungen und unzähligen Aufführungen.

Und jetzt denke ich: Beides war richtig. Der inhaltliche Anspruch (hier z.B. des Faches Theater) und der Gedanke, dass man mit allen gemeinsam weit über das normale Maß hinauswachsen kann.

Nach allem, was ich erlebt habe, bin ich davon überzeugt, dass an allen Schulen riesiges Potential brach liegt. Weil die Lehrer_innen so viel „Dienst nach Vorschrift“ machen müssen und sie niemand fragt: Wozu hätten Sie denn Lust – wenn Sie es sich aussuchen könnten?

Man muss nicht alles können. Man muss auch nicht grundsätzlich entlang vorgegebener Normen agieren. Durch die eigene Arbeit können neue Gesetzmäßigkeiten entstehen, die später wiederum erneut verworfen werden können. Bildung ist ein Prozess. Es gibt kein Richtig und kein Falsch.

Man muss auch nicht ein Theaterstück mit allen Beteiligten der Schule realisieren – man kann das Prinzip auch in anderen Kontexten und im Kleinen anwenden: Was wir brauchen, um dem fragwürdigen „Dienst nach Vorschrift“ zu entkommen und wirklich nachhaltige Bildungsprozesse zu ermöglichen, sind folgende Punkte:

6 Punkte, die uns in Sachen Bildung nach vorne bringen

1. Eine motivierende und nach allen Seiten hin offene Idee, mit der sich alle identifizieren können: Ein gemeinsames Ziel.

2. Ermutigung zum Eigensinn aller Beteiligten.

3. Vertrauen in die verschiedensten Fähigkeiten aller Beteiligten.

4. Mut und Gelassenheit, um den Widerstand der Zweifler_innen zu überwinden.

5. Die Erkenntnis, dass es kein „Richtig“ und kein „Falsch“ gibt.

6. Neugier und Vorfreude auf die Perspektiven der anderen und das Wissen um das unendliche Potential in jedem Menschen.

Warum ich mich den Schuldienst dennoch aufgegeben habe: Das System blockiert Vielfalt

Jahre später wurde mir in der Arbeit mit sogenannten bildungsbenachteiligten Jugendlichen bewusst, dass unser Schulsystem zwar theoretisch Vielfalt begrüßt, praktisch aber an Grundbedingungen festhält, die Vielfalt blockieren. Dies führt immer wieder zu gescheiterten Bildungsbiografien zu unnötiger Demütigung und Scham und produziert viel zu viele unglückliche Menschen, die sich selbst – unberechtigterweise – als Verlierer_innen ansehen.  Deswegen habe ich den Schuldienst aufgegeben.

Inzwischen arbeite ich im Vorstand von ACT e.V., um dort die Ermutigung zum Eigensinn in unseren Schulen weiter voran zu bringen. ACT will das Prinzip des Eigensinns überall dort verbreiten, wo Menschen sind, die sich trauen, ihre Ideen tatsächlich zu äußern und zu realisieren. Und die – wie wir – daran glauben, dass im Feld Bildung viel mehr möglich ist.

Für mich ist es der Ansatz des partizipativen Theaterunterrichts (ausgehend vom Theatralen Mischpult und einer bewussten Kommunikation der Begegnung), der beispielhaft und ganz konkret diese Form von eigensinnigen und damit inklusiven Bildungsprozessen ermöglicht.

Partizipativer Theaterunterricht lässt sich auch auf andere Fächer anwenden

Das Konzept des partizipativen Theaterunterrichts basiert auf einem konstruktivistischen und konnektivistischen didaktischen Prinzip, das sich – einmal verstanden – auf fast alle Fächer übertragen lässt, und vielleicht dazu führt, dass wir irgendwann auch über die Fächergrenzen hinaus denken – und dabei an Anspruch gewinnen, nicht verlieren.

Ich hatte immer das Glück, Menschen zu begegnen, die mich in meinem Eigensinn ermutigt haben. Dieses Glück möchte ich weiter geben.

An dieser Stelle möchte ich meiner damaligen Mentorin Katrin Bleidiessel und meinem Schulleiter Wolfgang Wittmaack aus ganzem Herzen für die Ermöglichung meines eigensinnigen Weges danken. Ich sehe meine Aufgabe bis heute darin, weiterhin eigensinnige Wege zu ermöglichen.

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