Obwohl der Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz für unter Dreijährige seit nunmehr über fünf Jahren existiert, bedeutet das für Eltern nicht automatisch, auch einen zu bekommen. Das Recht kann mancherorts nicht zuverlässig umgesetzt werden. Eltern müssen sich selbst helfen.
Finderlohn für fehlende Kita-Plätze
Ein Inserat auf einer Online-Handelsplattform. Es trägt die Nummer 905504739. Das Foto zeigt eine junge Frau im Spiegel, in einer Hand hält sie das Smartphone, die andere ruht sanft auf dem unteren Ansatz ihrer gewölbten Bauchdecke.
Maria S. ist hochschwanger, Mitte September soll sie ihr erstes Kind bekommen. Andernorts könnte sie sie sich in Ruhe und vollends auf die letzten Tage vor der Entbindung konzentrieren. Aber Maria S. lebt in Berlin. Und damit mit einer Sorge: für ihr Neugeborenes keinen Kita-Platz zu bekommen. Die Suche kann in der Hauptstadt ein langer und zehrender Kampf werden. Absagen, Vertröstungen, Wartelisten. Deshalb sucht die 26-Jährige bereits vor der Entbindung einen Kita-Platz. „Leider erfolglos“, konstatiert sie in ihrem Inserat: „:-(“. Nun ruht ihre Hoffnung auf Ebay, und man könnte meinen, es sei ihre letzte.
Immer mehr verzweifelte Eltern, vor allem junge Mütter, inserieren Hilfeschreie online. Gerahmt mit Ausrufezeichen und in Versalien zeigen sie: Es ist gibt ein Problem — und es ist dringend. Sie wollen einen der wenigen freien Kita-Plätze. Deutschlandweit fehlen davon 300.000. Das hat das das Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln (IW) in diesem Jahr berechnet. Allein in Berlin fehlen 3.000 Plätze und 10.000 weitere können wegen Sanierung der Kita oder wegen Personalmangel nicht besetzt werden.
Oftmals gilt das Recht des Finanzstärkeren
Maria S. leidet unter der prekären Situation. Die bittere Ironie dabei: Sie arbeitet beim Berliner Jugendamt, das eigentlich helfen dabei soll, einen geeigneten Kita-Platz zu finden. Doch Eltern helfen sich zunehmend selbst. Maria versucht es ohne Geld; sie hofft. Andere versprechen 100, 200 und bis zu 1.000 Euro für einen Platz für ihren Sprössling. „Finderlohn“, heißt es teils in den Anzeigen, als handle es sich bei um etwas, das verloren gegangen, geklaut worden oder zu unrecht abhanden gekommen ist. Womit die Eltern Recht haben.
Obwohl der Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz für unter Dreijährige seit nunmehr über fünf Jahren existiert, bedeutet dies für Eltern nicht automatisch, einen zu bekommen. Das Recht kann mancherorts nicht zuverlässig umgesetzt werden, wenn es einerseits an Betreuer*innen und Einrichtungen fehlt, andererseits die Geburtenrate und das Interesse der Eltern steigen. Die Differenz zwischen Angebot und Nachfrage ist seit 2013 in manchen Städten und Regionen sogar noch größer geworden.
Dass Eltern oder werdende Eltern mitunter bis zu vierstellige Beträge für die Vermittlung eines Kita-Platzes bieten, zeigt, wie verzweifelt sie zum Teil sind. Und es zeigt auch, wie hoch der Konkurrenzkampf geworden ist. Aus diesem Angebot-Nachfrage-Dilemma wachsen Geschäftsideen und Unternehmen wie Maternita Kita. Die Berliner Agentur will bei der „Suche nach der passenden Kinderbetreuung helfen“. Gegen Bezahlung.
Dass es Menschen gibt, die nun auch noch Kapital aus der prekären Situation schlagen, macht manche verzweifelte Eltern, die nicht kurzerhand einige hundert Euro in die Hand nehmen können oder wollen, erst recht wütend.
Berliner Agentur vermittelt Kita-Plätze
Inga Sarrazin von Maternita Kita, selbst Mutter von Zwillingen, kann das nachvollziehen. „Wir würden uns im Sinne der Kinder und Eltern wünschen, dass unser Angebot schnellstmöglich überflüssig wird“, sagt die Co-Geschäftsführerin. Die Kita-Vermittlung — nur ein Angebot der Schwangerschafts- und Baby-Planner-Agentur — entstand im Oktober 2017, als Maternita in den Monaten zuvor zunehmend Anfragen für Kita-Plätze erreichten.
Seither bekomme die Agentur im Schnitt 25 Anfragen pro Woche, sagt Sarrazin. „Vorrangig sind es Eltern oder werdende Eltern, die in Berlin wohnen oder nach Berlin ziehen.“ Besonders viele Anfragen bekomme die Agentur aus den Bezirken Prenzlauer Berg und Mitte. Aber auch von Personen aus dem Ausland, die sich erst gar nicht mit der Kita-Suche vor Ort abmühen wollen. Die Vermittlungsquote liege derzeit bei 79 Prozent, heißt: Vier von fünf Anfragen führen zu einem Kita-Platz.
Das Erstgespräch ist bei Maternita kostenlos. Dabei werden die Eckpunkte wie Bezirk oder Öffnungszeiten abgesteckt. Die anschließende Suche kostet 259 Euro — auch, wenn sie erfolglos bleiben sollte. Wird ein Kita-Platz vermittelt, fallen pro Kind 175 Euro zusätzlich als „Erfolgsprämie“ an. Die Gesamtkosten betragen dann rund 430 Euro.
Man könnte davon ausgehen, dass überwiegend Eltern mit exklusiven Wünschen eine Agentur einschalten, um einen Kita-Platz zu finden. Eltern, die konkrete Vorstellungen einer Wunsch-Kita haben und sich deshalb an Profis wenden. Oder Eltern, für die 430 Euro ohnehin nicht schmerzen, sofern ihnen dadurch die Suche erspart wird.
Die meisten Anfragen erhält Maternita Kita laut Sarrazin allerdings von verzweifelten Eltern, die einfach keinen Platz bekommen und mit ihrer Suche und oftmals auch mit den Nerven am Ende sind. „Es wird immer wahlloser“, sagt Sarrazin. „Meist sind es Eltern ohne Zugang zu Wartelisten.“ Faktoren wie der Betreuungschlüssel oder die Gruppengröße würden kaum abgefragt. Erreichbarkeit spiele eine Rolle, der Außenbereich für die Kinder auch, aber spezielle Wünsche wie konkrete pädagogische Angebote oder mehrsprachige Betreuer kämen, wenn überhaupt, eher von Expats.
Über 100 Kommunen vermitteln via Online-Portal
Ein weiteres Angebot ist das Online-Portal Little Bird, das seit 2009 besteht. Wie auch Maternita Kita entstand Little Bird aus den eigenen Erfahrungen bei der Kita-Suche. „Als junge Mutter habe ich selbst erfahren, wie schwierig es sein kann, einen Betreuungsplatz zu ergattern — unglaublich zeit- und nervenaufreibend“, sagt Geschäftsführerin Anke Odrig. Auf dem Portal präsentieren Betreuungsanbieter*innen mit einem Online-Profil ihr Angebot — Eltern können sich daraus ein passendes auswählen. Sowohl öffentliche als auch freie Träger sind in dem System organisiert.
Da das Portal von Jugendämtern gekauft wird und als kommunaler Dienst zwischen staatlichen Institutionen und Bürgern organisiert ist, kann es allerdings nicht von jeder beliebigen Person an jedem Ort genutzt werden. Wo es eingesetzt wird, müssen es Eltern jedoch nutzen, da es quasi die Vermittlungsfunktion des Jugendamtes ersetzt.
Mittlerweile wird Little Bird von 105 Kommunen in Deutschland eingesetzt, 25 weitere sind in der Vorbereitung, sagt eine Sprecherin. „Inzwischen sind rund 400.000 Eltern registriert, die Zugriffszahlen liegen bei rund 90 Prozent.“ Im ersten Jahr nach der Registrierung seien die Zugriffszahlen jedoch noch niedriger, etwa bei 50 Prozent, da sich einige Eltern aufgrund von Sprachbarrieren oder technischen Problemen direkt an die Jugendämter wenden; im zweiten und dritten Jahr steigen sie dann an.
Bei den Kommunen kommt das System gut an. „Früher haben Eltern längere Zeit gebraucht, um Informationen zu erhalten. Der Zeitaufwand wird nun deutlich minimiert”, sagt Kai Lubitz, verantwortlich für Kindertagesstätten bei der Stadtverwaltung Langenhagen. Auch in Weil am Rhein sind die Erfahrungen mit Little Bird „grundsätzliche positiv“. „Das einzige Problem ist, dass wird freie Träger immer wieder dazu ermuntern müssen, das System am Laufenden zu halten“, sagt Remo Schamberger, Sachbearbeiter für Soziales.
Unternehmen kaufen Kita-Platz-Kontingente
Städte wie Langenhagen oder Weil am Rhein haben die Probleme wie Berlin aber ohnehin nicht. Dass es viele Eltern in der Hauptstadt besonders schwer haben, an einen Kita-Platz zu gelangen, liegt aber nicht nur am fehlenden Personal und maroden und sanierungsbedürftigen Einrichtungen. Auch die Privatwirtschaft spielt eine Rolle. Auf der einen Seite bieten vor allem große Unternehmen zunehmend eigene Betriebskitas und setzen private Mittel für die Kinderbetreuung ein. Wo der Staat versagt, springt man eben selbst ein, so das Credo. Damit werben die Konzerne gern, bezeichnen ihre Betriebskitas als „Leuchttürme“, die auch für die öffentliche Hand Maßstäbe setzen und diese entlasten.
Das Engagement der finanzstarken Unternehmen geht aber auch darüber hinaus. Konzerne wie etwa Daimler, Zalando oder Siemens kaufen sich Kontingente in bestehenden Kitas freier Träger. Etwa bei der Fröbel-Gruppe, die deutschlandweit über 170 Einrichtungen betreut und damit der größte überregionale freie Kita-Betreiber ist. Damit verschaffen Unternehmen sich einen Vorteil gegenüber Nicht-Betriebsangehörigen, freie Träger erhalten zusätzliche Finanzspritzen. In Städten wie Berlin, in denen die Kita-Not besonders akut ist, kann die Garantie auf einen Betreuungsplatz im Wettbewerb um Fachkräfte ein entscheidender Faktor sein.
In der Kita „Am Ring“ im Berliner Stadtteil Friedrichshain schloss Fröbel im vergangenen Jahr einen Kooperationsvertrag mit dem Autobauer Daimler und dem Online-Versandhändler Zalando. Die Unternehmen bekamen ein festes Kontingent in den Kitas. Das Verfahren ist mit den jeweiligen Jugendämtern abgesprochen und auch die Berliner Senatsverwaltung hält das Modell grundsätzlich für in Ordnung.
Kooperationen zwischen Fröbel und Unternehmen
Laut Fröbel wurden im vergangenen Jahr vier von 43 freien Kita-Plätzen an Unternehmen vergeben. „In diesem wie auch in anderen Fällen betrifft die Kooperation mit Unternehmen also nur einen geringen Teil der zur Verfügung stehenden Plätze. Wir halten eine Zusammenarbeit mit Unternehmen zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf in diesem Verhältnis für angemessen“, schrieb das Unternehmen, nachdem es für die Vergabepraxis kritisiert wurde. Zuvor war von einem „Zwei-Klassen-System“ und „Verteilungskampf“ die Rede. Diese Vorwürfe wiegelt Fröbel ab und verweist auf das geringe Kontingent für Mitarbeiter*innen-Kinder der Unternehmen im konkreten Fall. Einen Vorteil haben die Angestellten der entsprechenden Unternehmen dennoch.
Zu den Kontingenten von Unternehmen zum Kita-Start in diesem Jahr teilte Fröbel auf Nachfrage keine Zahlen mit. Auch die Gesamtzahl von Kooperationsverträgen zwischen Fröbel und Unternehmen gab das Unternehmen nicht bekannt.
Die Kita „Am Ring“ ist aber kein Einzelfall. Eine Sprecherin teilte Business Insider mit, dass es „nicht wenige“ Kooperationen zwischen den Kitas der Unternehmensgruppe und der Privatwirtschaft gebe. Allein in Berlin habe Fröbel rund sechzig Verträge geschlossen — allerdings nur mit Unternehmen, die ohnehin in der Region ansässig sind, betont die Sprecherin. Zudem sei Fröbel auf die Finanzspritzen von Unternehmen angewiesen. „Neue Einrichtungen mit zusätzlichen Plätzen in Berlin können wir nur eröffnen, wenn wir Unterstützung von Firmen bekommen“, so die Sprecherin.
In Berlin bekommen freie Träger 93 Prozent der ermittelten Kosten vom Land bezahlt, die restlichen sieben Prozent müssen die Träger selbst erwirtschaften. Fröbel hält den Eigenanteil für zu hoch. Die Umsatzzahlen des Unternehmens sind dennoch prächtig. Im vergangenen Jahr betrugen der Erlös 147 Millionen Euro. Seit 2007 konnte Fröbel den Umsatz um über 100 Millionen steigern.
Grünen-Politikerin: Vorteile für beide Seiten
Auch andere freie Träger kooperieren mit Unternehmen, allerdings nicht in dem Umfang wie Fröbel. Der Internationale Bund (IB), einer der größten freien Träger, teilt auf Anfrage mit, in vier der 125 Einrichtungen seien „betriebsnahe Kitas mit entsprechenden Vereinbarungen bezüglich der Betreuungsplätze“.
Von den über 1400 Kindertageseinrichtungen des gemeinnützigen Vereins Deutsches Rotes Kreuz (DRK) wurden im vergangenen Jahr 32 Betriebsangehörige mit Kindern betrieben. Auch der Verband Arbeiterwohlfahrt (Awo) mit 2300 Einrichtungen unterhält solche Kooperationsverträge, die aber „dem jeweiligen lokalen Träger obliegen“. Die Organisation SOS-Kinderdorf unterhält nach eigener Auskunft keine Verträge mit Unternehmen, um den Kindern von Mitarbeiter*innen durch Kontingente Vorrang bei der Platzvergabe zu gewährleisten.
Zudem schließen auch rein kommunale Träger Kooperationsverträge mit Unternehmen. „Solche Kooperationen gibt es meines Wissens seit vielen Jahren, in der Regel ergeben sich dadurch für beide Seiten Vorteile“, sagt Margit Stumpp, bildungspolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag. „Zum einen für die Gemeinden beziehungsweise Träger, weil sie eine verlässliche finanzielle Basis haben, um qualifiziertes Personal vorzuhalten oder in einen Ausbau zu investieren“, so die Politikerin. „Und zum anderen für die Firmen, weil sie familiengerechte Arbeitsbedingungen anbieten können, ohne sich selbst fachfremd mit dem komplexen Thema auseinandersetzen zu müssen.“
Wirtschaft kündigt Unterstützung für Berliner Senat an
Das mag für viele Kommunen stimmen, gerade in strukturstarken Regionen. In Berlin ergeben sich mit der jetzigen Lage hingegen für alle Seiten Nachteile — Eltern und Firmen. Etwa ein Drittel der Unternehmen in der Hauptstadt spüre die direkte Auswirkungen, wie aus einer am Dienstag veröffentlichten Umfrage der Berliner Industrie- und Handelskammer (IHK) hervorgeht. „Mit jedem fehlenden Kitaplatz fehlt eine Fachkraft am Arbeitsplatz. Nicht zuletzt angesichts des sich zuspitzenden Fachkräftemangels stellt das viele Unternehmen vor Probleme“, sagt IHK-Hauptgeschäftsführer Jan Eder.
Bis 2021 will der rot-rot-grüne Senat 23.000 neue Kita-Plätze schaffen. Dafür will ihm die Wirtschaft unter die Arme greifen. Knapp ein Drittel der Unternehmen könne sich vorstellen, dringend benötigte Flächen für den Bau von Kitas auf dem eigenen Betriebsgelände zur Verfügung zu stellen. Auch in diesem Fall dürften die Unternehmen als Gegenleistung Kontingente einfordern, die ausschließlich den Kindern von Angestellten vorbehalten sind. Bei der Pädagogik und beim Personal dürften sie ihr Mitspracherecht ebenso geltend machen. Der Einfluss der Konzerne in den Kitas würde weiter wachsen.
Indes gehen täglich neue verzweifelte Inserate wie das von Maria S. online.
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