Über Fehlgeburten redet kaum jemand. Die wenigen Frauen, die mir doch davon erzählten, konnten über das erhoffte Ende mit Wunschkind berichten. Bei mir war das anders. Nach sechs gescheiterten Schwangerschaften wurde mir eines klar: Für mich lohnte es sich nicht mehr, zu kämpfen.
Und plötzlich brach die Welt zusammen
Als mir meine Ärztin während der ersten Schwangerschaft erklärte, dass sie keinen Herzschlag mehr auf dem Ultraschall erkennen konnte, war der Schock unbeschreiblich. Als wäre etwas von mir selbst gestorben. Was ja auch stimmte. Ich war Mitte 30 und hatte mich noch nie mit der Möglichkeit einer Fehlgeburt befasst. Die Sprechstundenhilfen reagierten mitfühlend. Und routiniert. Ich bekam eine Überweisung ins Krankenhaus. Dort war ich erneut fassungslos: Muss man Fehlgeburten-Patientinnen im gleichen Wartezimmer warten lassen, wie die Frauen, die mit ihren Neugeborenen zur Nachuntersuchung kommen? Die Oberärztin der Klinik kommentierte meinen Weinkrampf mit den Worten: „Sie wissen aber schon, dass eine Fehlgeburt sehr häufig passiert?!“ Wusste ich nicht.
Ich erzählte anfangs nur meinen engsten Freundinnen von meinem Verlust. Viele hatten bereits Kinder. Einige rückten nun mit der Sprache raus und berichteten zum ersten Mal von einzelnen Fehlgeburten, die sie vor oder zwischen den Geburten ihrer gesunden Kinder erlitten hatten. Ich war erstaunt über die gut gehüteten Geheimnisse, fasste aber gleichzeitig neuen Mut. Fehlgeburten schienen tatsächlich häufig vorzukommen und waren keinesfalls ein Hindernis für eine spätere erfolgreiche Schwangerschaft. Das bestätigte mir auch meine Frauenärztin bei meinem nächsten Termin.
Die Hoffnung war noch da
Während meiner zweiten Schwangerschaft vier Monate später mischte sich zur Freude ein zweites Gefühl, das mich lange Zeit begleiten sollte: Angst. Alle redeten mir gut zu, dass es diesmal sicher klappen würde. Tat es nicht. Aber was solls, aller guten Dinge sind schließlich drei. Oder etwa nicht? Nach meinem dritten Abgang verschwand meine Zuversicht auf ein gesundes Kind. Meine Ärztin baute mich jedoch auf, erzählte von zig weiteren Betroffenen in ihrer Praxis. Sie empfahl mir ein paar weitreichendere Untersuchungen, um dem Grund der Fehlgeburten endlich auf die Spur zu kommen.
Ich wurde von Kopf bis Fuß durchgecheckt, ohne erklärendes Ergebnis. Trotzdem suchten die Ärzte weiter. Hier noch eine Blutentnahme, da noch eine Hormonbestimmung. Mir ging die Vielzahl der Untersuchungen auf die Nerven, aber sie spornten mich irgendwie auch an. Irgendwas musste doch gefunden werden?! Die Vorstellung, dass sogar die Ärzte am Ende ratlos zurückblieben, machte mich nervös.
Es gab noch etwas, dass mich am Ball bleiben ließ: „Seien Sie froh, dass es mit dem Schwangerwerden überhaupt klappt“, bekam ich oft zu hören, „das würden sich andere wünschen“. Eine Ärztin erzählte mir, dass sie eine Patientin mit neun (!) Fehlgeburten in Behandlung hatte, die nun kürzlich eine gesunde Tochter zur Welt brachte. „Geben sie jetzt noch nicht auf!“, riet mir eine weitere. Je mehr Mediziner ich traf, desto größer wurde meine Hoffnung wieder. Ich kämpfte also weiter und fühlte mich wie bei einem Marathon-Lauf, bei dem mir die Ärzte zum Durchhalten applaudierten.
Ein weiterer Schicksalsschlag
Meine vierte Schwangerschaft war kompliziert. Statt in der Gebärmutter hatte sie sich im Gebärmutterhals festgesetzt. Die Chance darauf lag deutschlandweit bei unter 0,1 Prozent. Da meine Diagnose so selten war, überwachte der Professor der Klinik-Gynäkologie meine Behandlung höchstpersönlich. Und auch sonst schien jeder Mediziner an mir interessiert. „Ich werde wahrscheinlich nie wieder die Gelegenheit haben, jemanden mit ihrem Befund zu behandeln”, sagte einmal ein Assistenzarzt zu mir. Er war neu in der Abteilung, vielleicht Anfang 30.
Nach ein paar Wochen entließ mich der Professor wieder einmal mit mutmachenden Worten. „Eine solche Schwangerschaft ist eine besondere Laune der Natur, kann genau genommen nicht mal als Fehlgeburt bezeichnet werden. Lassen Sie es noch auf einen weiteren Versuch ankommen.“
Ist es das noch wert? Ja, irgendwie schon
Marathon, Kilometer 40. Meine Kondition ließ nach. Ich wehrte mich gegen das Straucheln, merkte aber, dass ich mehr und mehr schwächelte. Die Fehlversuche der Schwangerschaften hatten seelische Narben hinterlassen. Ich nahm ab, schlief schlecht, fürchtete mich vor neuen Untersuchungen. Die Trauer wurde so groß, dass sie in Wut umschlug. Warum passiert ausgerechnet mir das? Nur die Aussicht auf mein persönliche Erfolgsgeschichte ließ mich weitermachen. Gemessen daran hielt ich die Strapazen für aushaltbar.
Ich ließ es deshalb auf zwei weitere Versuche ankommen. Aber auch diese Schwangerschaften brachten das gleiche Ergebnis: Sie hielten nicht. In meiner Verzweiflung erzählte ich immer mehr Leuten aus meinem Umfeld von meinem schmerzhaften Erfahrungen. Ich war auf der Suche nach Gleichgesinnten und Lösungen für mein Problem. Mittlerweile begleitete mich der Kinderwunsch seit über vier Jahren.
Schlaue Ratschläge von allen Seiten
„Bei einer Freundin von Silke hat es geklappt, als sie aufgegeben hatte.“ Aha. Aufgeben. „Erst als sie sich einen Hund gekauft hat, wurde sie plötzlich schwanger.“ Ich mach mir nichts aus Hunden. Und außerdem wurde ich doch schwanger.
Sätze wie diese hörte ich seither immerzu. Vom Arzt, von der Heilpraktikerin, von der Bekannten und Freundin. Jeder wollte eine immer noch unglaublichere Geschichte vom plötzlichen Wunder der Empfängnis gehört haben. Von der Frau XY, dessen Mann sich eigentlich schon sterilisieren lassen hatte. Der Nachbarin, schon in den Wechseljahren, als der Arzt ein Embryo auf dem Ultraschall entdeckte. Ich wusste, dass jeder es gut meinte. Es sollte mir helfen, an mein eigenes Wunder zu glauben. Aber ich stand nach solchen Geschichten ratloser da, als vorher. Wie soll das gehen? Wie gebe ich mal eben so auf?
„Ich kenne so viele Paare bei denen sich Nachwuchs ankündigte, nachdem sie gar nicht mehr daran gedacht haben.“ Einer der häufigsten Empfehlungen: nicht mehr daran denken. Der Wille dazu mag nach der ersten Fehlgeburt noch in mir gebrannt haben. Aber nach sechs? Wie zur Hölle sollte ich nicht mehr daran denken? Ich schlief mit dem Gedanken ein und wachte mit ihm auf. „Nicht mehr daran denken.“ Das ist so wie: „Denk jetzt nicht an einen rosa Elefanten.“ Und selbst wenn die Gedanken woanders sein könnten: Schützt dieser wundersame Rat auch vor Fehlgeburten?
Die, bei der es nicht geklappt hat …
Bei jedem hat es also doch irgendwann geklappt? Was, wenn es aber bei mir anders ist? Bin ich dann die, von der man später als Ausnahme erzählt? „Also, ich kannte mal eine, die hatte sechs Fehlgeburten und ging am Ende trotzdem leer aus. Ist aber echt die Einzige, die ich kenne. Keine Ahnung, was mit der nicht stimmte. Dabei hatte ich ihr noch geraten, eine Weile an nichts zu denken. Tja, hat sie wohl nicht gemacht …“
Meine sechste Fehlgeburt ist drei Jahre her und seitdem wurde ich nicht mehr schwanger. Auch hierfür fanden die Ärzte keine Erklärung. Die brauchte ich allerdings auch nicht mehr. Mir reichte meine eigene Diagnose: Meine Seele, mein Körper – ICH konnte und wollte nicht mehr. Alle guten Tipps und Durchhalteparolen von Ärzten und Freunden hatten nichts gebracht. So langsam verstand ich, dass mich Ratschläge und Prophezeiungen nicht vor weiteren Fehlversuchen bewahren konnten. Herzlichen Glückwunsch, jetzt steht doch einer amtlichen Psychose, jahrelanger Verzweiflung und Neid auf das Familienglück anderer nichts mehr im Weg. Oder? Es kam tatsächlich anders – und das war wohl für mich selbst die größte und tatsächlich rettende Überraschung! Die kraftraubende Jagd nach dem Nachwuchs wich plötzlich einem alternativen Lebensplan, der mich endlich auch an die Vorteile eines kinderlosen Lebens glauben ließ.
Mein Freund und ich freundeten uns Stück für Stück mit dem Gedanken an eine Zukunft ohne Nachwuchs an. Wir begriffen, dass sich der Weg in die immer gleiche Richtung nicht mehr lohnte. Und suchten deshalb nach einem anderen Ausgang. Das fühlte sich anfangs ungewohnt an und versetzte mich zwischendurch in Panik. Echt jetzt? Ein Leben ohne Kind? Kann mich das glücklich machen? Schließlich hatten wir sehr lange für unseren Traum gekämpft. Aber was sollte ich tun? Es hatte nicht funktioniert und nun wehrte sich mein Körper gegen eine weitere Schwangerschaft. Und so blieben wir dabei und konzentrierten uns immer mehr auf die positiven Aussichten, die wir uns von einem kinderlosen Leben versprachen. Und siehe da, es funktionierte: Endlich hatte ich nach langer Zeit wieder ein Erfolgserlebnis. Ich schaffte es, meine Situation zu akzeptieren und fühlte mich das erste Mal wieder frei und selbstbestimmt.
Wir haben unseren Weg gefunden
Ich hatte große Freude daran, Dinge zu tun, die ich mir vorher aus „kinderwunschtechnischen“ Gründen untersagt hatte. Zu viel Sport könnte eine erneute Schwangerschaft verhindern? Auf zum Power-Yoga! Kaffee ist schlecht für die Fruchtbarkeit? Her mit dem täglichen Latte Macchiato! Langestreckenflüge könnten den Zyklus durcheinander bringen? Auf geht’s zum Strandurlaub nach Thailand! Der Spaß am Leben war mir plötzlich wieder wichtiger, als das Streben nach einem unerreichbaren Ziel. Mein Freund und ich reisten in ferne Länder, so wie wir es früher so gerne gemacht hatten. Wir luden Freunde zu langen Partynächten ein, blieben an den Wochenenden besonders lange im Bett. Ich suchte mir eine Arbeit, die mich ausfüllte und mir sinnvoll erschien. Wir machten alles, was uns Spaß machte.
Zu meinem letzten Geburtstag rief mich eine alte Freundin aus Schulzeiten an. Wir brachten uns gegenseitig auf den neuesten Stand. Ihre beiden Töchter machten sich gut in der Schule, die eine war gerade acht Jahre alt geworden, die Große war zehn. Als ich Ihr von unserer nächsten anstehenden Camper-Reise nach Australien – natürlich außerhalb der regulären Ferienzeit – erzählte, überraschte sie mich mit einem „Boa, das würde ich auch so gerne mal wieder tun. So ganz für mich, sorgenfrei und mit vollen Taschen auf große Reise gehen.“ Mir wurde bewusst, dass es durchaus auch Dinge gab, um die mich Paare mit Kindern beneiden konnten. Das selbst gab mir keine Genugtuung, aber es war ein Trost zu wissen, dass man am Ende nicht als jemand dastehen würde, der automatisch weniger vom Leben hatte. „Du hast das Kind, was ich gerne gehabt hätte und du wiederum die Freiheit, nach der ich mich manchmal zurück sehne“, war deshalb ein gemeinsamer Nenner, auf den sich meine kinderreichen Freundinnen und ich verständigen konnten. Das schweißte uns zusammen, anstatt uns voneinander zu entfernen.
Heute freuen mein Freund und ich uns sehr auf eine Zukunft, in der wir unsere zurückgewonnene Unbeschwertheit genießen können. Das Gefühl „Schade, dass es mit dem Kind nicht geklappt hat“, darf uns dabei immer mal wieder begleiten. Aber eben auch die Gewissheit, dass das ewige „Warum passiert ausgerechnet UNS das?“, nichts nützt und den Blick auf die positive Aussicht versperrt. Als mein Freund während unserer letzten Reise und in der tollsten Abendsonne von seinem Buch hochschaute und sagte: „Also, ich vermisse gerade gar nix“, wusste ich das wir es geschafft hatten. Wir konnten die schwere Zeit hinter uns lassen, um nach vorne zu schauen. Darauf war ich unendlich stolz und dankbar. Und so gibt es für uns dann glücklicherweise doch ein Happy End. Nicht das ursprünglich erhoffte, aber muss es deshalb auch schlechter sein? Das kann ich mir nicht vorstellen – und da verlass ich mich diesmal ganz auf MEINE eigene Prophezeiung …
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