Marie fühlt sich wie ein normales Mädchen – bis eine Ärztin feststellt, dass sie keine Gebärmutter hat. Nach der Diagnose muss sie ihre Weiblichkeit neu definieren.
Keine Periode, keine Schwangerschaft, keine Kinder
Als ihr gesagt wird, dass sie keine Kinder bekommen kann, ist Marie* sprachlos. Die Oberärztin hatte sich an ihr Krankenbett gesetzt und eine Zeichnung gemacht: hier der Uterus, da die Eierstöcke. Auf einmal hatte sie den Uterus durchgestrichen. Und dann den Scheideneingang. Das gibt es bei Ihnen nicht, hatte sie gesagt.
Maries Gedanken rasen. „Ich war erstmal ’ne halbe Stunde wie in Trance. Da ging gar nichts mehr“, sagt sie. Sie versucht zu verstehen. Als sie ihre Worte wiederfindet, fragt sie: „Ich bekomme niemals meine Periode?“ Nein. „Ich kann nicht schwanger werden?“ Nein. „Also keine Kinder?“ Zumindest keine eigenen. Dann erst beginnt sie, heftig zu weinen. Vor ihrem inneren Auge spielen sich Szenen ab, die sie meint, nie zu erleben. Sie als Mama mit ihren Kindern.
Mayer-Rokitansky-Küster-Hauser-Syndrom
Seit einem halben Jahr hatte sie geahnt, dass etwas nicht stimmt. Mit ihrem ersten Freund hatte sie ihre Sexualität und ihren Körper erkundet, aber mit dem Sex wollte es nicht recht funktionieren. Beide glaubten an ein zu festes Jungfernhäutchen. Als sie auch mit 15 ihre Tage nicht bekommt, geht Marie zum Frauenarzt. Ein halbes Jahr wird sie untersucht, Bluttests, Hormonspritzen, Bauchspiegelung, Ultraschall. Dann die Diagnose: Mayer-Rokitansky-Küster-Hauser-Syndrom (MRKH). Laut der Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendgynäkologie erkrankt eine von 5.000 Frauen daran. Betroffene kommen ohne Gebärmutter zur Welt. Auch die Vagina ist nicht vollkommen ausgebildet, sondern gleicht eher einer kleinen Mulde. Von außen ist meist nichts zu erahnen, denn Schamlippen und Klitoris sehen normal aus. Die vorhandenen Eierstöcke produzieren zwar Eier, diese werden aber vom eigenen Körper abgebaut. Auch bei Marie war es so.
Noch nicht ganz Frau
Als Marie die Diagnose bekommt, ist sie 16 Jahre alt. Mitten in der Pubertät, mitten in ihrer ersten Beziehung. Schon als Kind hatte sie sich vorgestellt, wie sie als Mama wäre, was sie ihren Kinder anziehen würde und wie sie heißen würden. Sie hatte einen genauen Plan: Sie wollte Design studieren, mit 25 heiraten und mit Ende 20 eine Familie gründen. Mit ihrem Traum verschwindet auch plötzlich ihre Weiblichkeit. „Ich konnte ja nichts dafür, aber ich war noch in dieser Selbstfindungsphase. Ich hab mich mit anderen Mädchen verglichen und mich als nicht weiblich genug gefühlt. Nicht würdig genug.“ Ihrem Freund gegenüber fühlt sie sich schuldig, weil sie der Grund ist, warum sie keinen Sex haben können.
Sie entscheidet sich für eine Operation. Auch wenn sie keine Gebärmutter hat, will sie eine Vagina bekommen. Denn sie will Sex erleben. Die Operation ist schmerzhaft. Ein etwa zwanzig mal fünfzehn Zentimeter großes Stück Haut wird von ihrem Oberschenkel entfernt und zu einem Trichter zusammengelegt. Das vermeintliche Jungfernhäutchen wird aufgeschnitten und der Trichter von innen festgenäht. Marie muss ein Glasphantom tragen, das sie wie einen „Dildo mit Henkeln“ beschreibt, damit die Haut die Form einer Vagina annimmt.
Ihre letzten Sommerferien verbringt sie im Krankenhaus. Psychisch leidet Marie aber noch länger. Ihre Schulnoten verschlechtern sich, es gibt Streit mit dem Freund und den Eltern. Sie verletzt sich selbst, weil sie sich nicht als Frau fühlt. „Ich wollte einfach nicht mehr da sein“, sagt sie. Ihre Eltern sind überfordert und reden nur selten mit ihrer Tochter über die Krankheit. Ihre Mutter plagt sich mit Schuldgefühlen, weil sie in der Schwangerschaft geraucht hat.
Der lange Weg der Heilung
Nach einem halben Jahr ist Marie schmerzfrei und zurück in ihrem Alltag. Weil sie in der Heilungsphase humpelt, gewöhnt sie sich an, offen über ihre Erkrankung zu sprechen. Sie nähert sich Männern wieder an, doch ihr erstes Mal ist „grausam“. „Er hat sich kaum bewegt und alles, was ich in meiner ersten Beziehung gelernt hatte, hat nicht funktioniert.“ Sie stellt die schwere Operation in Frage. „Das ist Sex? Dafür habe ich mich so gequält?“
Es fällt ihr schwer, ihr Schicksal zu akzeptieren.
Doch eine Situation bringt sie zum Umdenken, sagt sie: Eines Tages, im Herbst, verlässt sie ihr Elternhaus und rennt los. Sie rennt bis ihr die Lungen brennen. Dann stürzt sie. Atemlos liegt sie auf der Rasenfläche, will nicht mehr aufstehen. Sie will nicht mehr. Als sie so daliegt, entdeckt sie ein Gänseblümchen im Gras. „Dann ist es mir gedämmert: Wenn ich das Ding jetzt rausreiße, wächst es im nächsten Jahr an der gleichen Stelle wieder weiter. Und ich hab mir gedacht, ich müsste einfach nur so sein wie das Gänseblümchen. Ich bin rausgerissen worden, ich brauch einfach nur Zeit, um wieder nachzuwachsen.“ Danach fängt sie an, sich abzulenken und Spaß zu haben. Sie fängt an zu experimentieren.
Spiel mit der Weiblichkeit
Sie geht aus, hängt viel mit Männern rum. Ihr Selbstbewusstsein wächst und sie fühlt sich bald bereit, Sex zu haben. Und beim nächsten Mann funktioniert’s. Und es ist so gut, dass sie nicht mehr aufhören will. Sie gehen eine sexuelle Beziehung ein, treffen sich regelmäßig und tun kaum etwas anderes, als miteinander zu schlafen. „Ich hab mich so frei gefühlt. Ich hatte das Gefühl, die vergangenen zwei Jahre – meine Jugend – nachzuholen.“
Als sie ihre Sexualität frei ausleben kann, beginnt sie auch, mit dem Konzept der Weiblichkeit zu spielen. Zum achtzehnten Geburtstag rasiert sie sich die Haare ab, auf zwei Millimeter. Zu diesem Zeitpunkt arbeitet sie als Handwerkerin auf dem Bau. Dort wird sie oft gefragt, ob sie ein Mädchen oder ein Junge sei. „Ich hab mir einen Spaß draus gemacht. Ich hab mich da ja als Frau gefühlt“, sagt sie. Auf ein Volksfest geht sie glatzköpfig in Minirock. Sie genießt es, dass viele ihren Haarschnitt als mutig empfinden. Und genau das will sie ausstrahlen: Das ist ’ne starke Frau. Die traut sich was.
Vor acht Jahren lernt Marie ihren heutigen Mann kennen. Von Anfang an erzählt sie von ihrem Schicksal. Er schätzt ihre direkte Art. Nach dem zweiten Date ziehen Marie und er zusammen. Nach sechs Monaten heiraten sie.
Der Kinderwunsch bleibt
Mittlerweile ist Marie 35 und glücklich mit ihrem Mann, mit ihrem Leben und mit sich selbst als Frau. Doch ein wunder Punkt bleibt: der Kinderwunsch. „Wenn ich schwangere Frauen gesehen hab, bin ich früher regelrecht zusammengebrochen.“ Auch als ihre Freundinnen Kinder bekommen, ist es für sie anfangs schwer zu ertragen. Eine Freundin kann sie nicht mehr besuchen, als diese im siebten Monat schwanger ist. „Ihr Geruch hat sich verändert. Der wurde so süßlich. Und damit konnte ich nicht umgehen, ich bin dadurch sehr wehmütig geworden.“
Ihre Freundin versteht und die beiden bleiben bis zu Geburt telefonisch in Kontakt. Als Marie den Jungen das erste Mal im Arm hält, hat sie gemischte Gefühle: „Einerseits dachte ich, es wäre schön, wenn ich mein Eigenes hätte, zum anderen war da natürlich Freude, dass er wohl auf ist und ich mich als Patentante um ihm kümmern darf.“ Im letzten Jahr ist eine weitere Freundin schwanger geworden und Marie hat es sogar geschafft, im neunten Monat ihren Bauch anzufassen.
Alle Optionen ausnutzen
Seit 2016 hat Marie wieder Hoffnung: Ein Ärzteteam aus Tübingen hatte einer 23-Jährigen eine Gebärmutter erfolgreich transplantiert. Marie hatte schon seit Anfang des Jahres von derartigen Operationen gelesen, doch bei vielen Frauen wurde das transplantierte Organ abgestoßen, bevor sich eine befruchtete Eizelle einnisten konnte. Inzwischen sind allerdings so fünf Babys geboren worden. Marie hat sich auf die deutsche Spenderliste setzen lassen. Im Juni 2016 hätte es sogar fast geklappt, doch dann entschied sich die Spenderin um. Aber Marie hat schon eine neue gefunden: ihre Nachbarin. „Sie hat schon zwei Kinder und ist sterilisiert. Sie braucht ihre Gebärmutter schlicht nicht mehr„, sagt sie. Marie hofft, dass es mit der Operation klappt. Wenn es nicht funktioniert, habe sie wenigstens alles versucht, sagt sie.
Sie hat sich entschieden, dass sie glücklich sein will – auch ohne Nachwuchs. Falls sie nie eigene Kinder haben sollte, will sie sich um ihr Patenkind und ihren Neffen kümmern. Sie will mit ihrem Mann reisen, einen Wal sehen, Fallschirm springen.
Bis dahin setzt sie alle Hoffnungen in die Transplantation. „Ich freu mich auf meine erste Periode. Wenn ich sie mit 36 bekommen könnte.“
* Name von der Redaktion geändert
Der Originaltext von Josefine Schummeck ist bei unserem Kooperationspartner ze.tt erschienen. Hier könnt ihr ze.tt auf Facebook folgen.
Artikelbild: Franca Gimenez | flickr | CC by 2.0
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