Foto: Leah Kunz

Wann hören wir endlich auf, Frauen in der Medizin zu vergessen?

In ihrer Kolumne schreibt Camille Haldner über alles, was ihr auf den Keks geht. Dieses Mal: Die Tatsache, dass in der Medizin noch immer nicht alle Menschen gleichermaßen berücksichtigt werden.

In den vergangenen Monaten konnten mehr und mehr Menschen aufatmen, weil sie gegen Covid-19 geimpft wurden. Mit der steigenden Anzahl Geimpfter häuften sich im Netz auch die Erfahrungsberichte von Frauen und Menschen mit Uterus, die von Veränderungen ihres Zyklus‘ nach der Impfung berichteten. Inzwischen widmeten sich auch zahlreiche deutschsprachige Medien diesem Phänomen. Der derzeitige Wissensstand: Ein kausaler Zusammenhang zwischen der Impfung und Zyklusveränderungen konnte bisher nicht nachgewiesen werden, soll nun aber wissenschaftlich untersucht werden. Mediziner*innen weisen daraufhin, dass mögliche Zyklusveränderungen, die bisher beobachtet werden konnten, kurzfristiger Natur waren und kein Grund zur Sorge sein sollten.

Mögliche Erklärungen für das Phänomen: Stress, den die Impfung in unserem Körper verursachen kann oder auch die Tatsache, dass Menschen nach der Impfung bewusster auf Signale ihres Körpers achten. Christian Thaler, der Leiter des Hormon- und Kinderwunschzentrums der Ludwig-Maximilians-Universität, sagte im Gespräch mit „Spiegel Online“, dass er eine weitere mögliche Erklärung für die Zyklusschwankungen in der Gebärmutterschleimhaut sehe, in der sich viele Immunzellen befinden. Er betont, dass bei allem, was bisher bekannt sei, die generelle „Frauengesundheit“ unbeeinträchtigt sei.

Zeit, die Forschung endlich an alle Geschlechter anzupassen

Die medizinische Anthropologin Dr. Kate Clancy hatte bereits Anfang des Jahres bei Twitter berichtet, dass sie nach der Impfung eine Zyklusveränderung bei sich beobachtet habe. Daraufhin erhielt sie hunderte Reaktionen von anderen User*innen, die von ähnlichen Erfahrungen berichteten. Diese Erfahrungsberichte sammelt die an der University of Illinois angestellte Professorin nun, gemeinsam mit ihrer ehemaligen Kollegin Dr. Katharine Lee, in einer Umfrage.

Laut Clancy und Lee haben inzwischen 80.000 Menschen ihre Erfahrungen zu dem Thema in der Umfrage dokumentiert. Lee, die an der Washington University School of Medicine forscht, erklärte gegenüber „Good Morning America“, die Tatsache, dass sich die Forschung bisher offenbar so wenig für die Auswirkungen einer Impfung auf den weiblichen Zyklus interessiert habe, sei ein Zeichen dafür, was passiert, wenn Frauen in medizinischen Studien vernachlässigt werden – wie es historisch gesehen viel zu lange der Fall war und teilweise auch heute noch sei. Es sei Zeit, die Forschung endlich auch an den weiblichen Körper anzupassen, so Lee.

„Frauenleiden“, ein Sonderfall

Die öffentliche Debatte rund um die aufgetretenen Zyklusveränderungen zeigt ein Problem, das bis heute zu wenig Aufmerksamkeit bekommt: Manche „Frauenleiden“ werden in der medizinischen Forschung weiterhin als Sonderfall behandelt – statt als Belange, die mehr als die Hälfte der Menschheit betreffen.

„In der medizinischen Forschung hat man lange mit einem Ein-Mensch-Modell gearbeitet, einem männlichen. Die Frau war, wenn, dann die Abweichung davon.“

Elisabeth Zemp, Schweizer Pionierin der Gendermedizin

Die Gendermedizinerin Elisabeth Zemp erklärte bereits 2017 im Interview mit der „Zeit“: „In der medizinischen Forschung hat man lange mit einem Ein-Mensch-Modell gearbeitet, einem männlichen. Die Frau war, wenn, dann die Abweichung davon.“ Ganz im Gegensatz zu Männern, die in der Medizin eben als der Standard galten – und das bis vor nicht allzu langer Zeit. „Ergebnisse klinischer Studien wurden selbst dann als für Männer und Frauen gültig präsentiert, wenn Frauen gar nicht an den Studien teilgenommen hatten“, zitiert die Journalistin Caroline Criado-Perez eine von vielen erschreckenden Studien zum Gender Data Gap in ihrem Buch „Unsichtbare Frauen“.

Zu wenig Einbezug von Frauen in der medizinischen Forschung

Caroline Criado-Perez schreibt in ihrem Buch auch über die Frage, ob Medikamente überhaupt zu unterschiedlichen Zeitpunkten des weiblichen Zyklus getestet werden. Die Antwort: „Wahrscheinlich nicht – die allermeisten Medikamente werden nicht so getestet. Werden Frauen in klinische Studien aufgenommen, testet man meist in der frühen follikularen Phase des Zyklus, wenn die Hormonspiegel der Probandin am niedrigsten sind – wenn sie also oberflächlich betrachtet den Männern am ähnlichsten sind.“ Ziel sei es, dadurch die möglichen Auswirkungen von Östradiol und Progesteron auf die Studienergebnisse zu minimieren.

Gendermediziner*innen setzen sich seit vielen Jahren dafür ein, dass sich das ändert: „Unsere Forderung nach mehr Frauen in Studien findet sich inzwischen sogar in internationalen Leitlinien”, sagt Vera Regitz-Zagrosek, die an der Charité Berlin das Institut für Geschlechterforschung in der Medizin leitet, im Interview mit der „Zeit“. Die Zahl der Medikamente, die auch an Probandinnen getestet werden, steige jedoch nur langsam: „Die Pharmaindustrie fürchtet, dass die Einbeziehung von Frauen in Studien die Arbeit komplizierter macht.“

Gender Data Gap in der Medizin

Ein weiteres Beispiel aus Criado-Perez‘ Buch: Im Jahr 2013 wurde ein angeblich revolutionäres künstliches Herz entwickelt, das für Frauen aber zu groß war. An einer kleineren Version wird nun offenbar gearbeitet. Criado-Perez schreibt dazu: „Das ist zwar gut, aber es ist doch bezeichnend, dass die weibliche Version erst Jahre nach der männlichen entwickelt wird – wie im Fall anderer künstlichen Herzen.“

Und noch ein erschreckendes – für den medizinischen Gender Data Gap beispielhaftes – Ergebnis aus Criado-Perez‘ Datensammlung: Häufig gegen Bluthochdruck verschriebene Medikamente, die die Sterblichkeit von Männern durch Herzinfarkte senken, erhöhen die mit Herzproblemen verbundene Todesrate bei Frauen.

All diese Beispiele zeigen: In zahlreichen Fällen wurden Frauen und andere Geschlechter und ihre möglicherweise von Männern abweichenden medizinischen Bedürfnisse nicht berücksichtigt. Diese „nicht-männlichen“ Gegebenheiten sollten jedoch keine Abweichung von der Norm bedeuten, sondern als Variablen verstanden werden, die bei der Entwicklung medizinischer Behandlunggen miteinberechnet werden müssen. Der Zyklus oder Krankheiten wie Endometriose und Lipödeme, die erwiesenermaßen mehrheitlich Frauen, trans und nicht-binäre Personen betreffen, sind schließlich existierende Variablen, aus denen sich ihre (medizinische) Realität zusammensetzt.

Über die medizinischen Belange aller Menschen sprechen

Pionier*innen der Gendermedizin wie Vera Regitz-Zagrosek, Elisabeth Zemp und Alexandra Kautzky-Willer arbeiten intensiv daran, aufzuholen, was so lange vergessen ging. Und Autorinnen wie Caroline Criado-Perez oder Rebekka Endler machen mit einer Fülle an Beispielen, Daten und Fakten darauf aufmerksam, dass unser Bild von der (medizinischen) Welt nicht vollständig ist. „Der Großteil der Menschheitsgeschichte ist eine einzige Datenlücke. Über das Leben der anderen Hälfte der Menschheit wurde und wird oft einfach nur geschwiegen“, schreibt Criado-Perez. Die Autorin erklärt in ihrem Buch auch, weshalb dieser Zustand nicht weiter andauern darf: „Wir leben in einer Welt, die immer stärker auf Daten basiert und immer stärker von Daten beherrscht, von Algorithmen gesteuert wird.“ Es ist also höchste Zeit, dass wir die vorhandenen Wissenslücken schließen.

„Nur wenn wir die Belange aller Geschlechter berücksichtigen, ergibt sich ein vollständigeres Bild unserer Welt. Einer Welt, die nicht mehr nur Normen kennt, sondern auch Vielfalt. Einer Welt, in der Menschen nicht automatisch größeren gesundheitlichen Risiken ausgesetzt sind, bloß weil sie kein Mann sind.“

Nur wenn wir bisher ignorierte Variablen mit einrechnen, können wir unterschiedlichen medizinischen Bedürfnissen gerecht werden – und somit mehr Menschen eine gute gesundheitliche Versorgung ermöglichen. Und dazu müssen wir mehr über die Belange aller Geschlechter sprechen. Erst dann ergibt sich ein vollständigeres Bild unserer Welt. Einer Welt, die nicht mehr nur Normen kennt, sondern auch Vielfalt. Einer Welt, in der Menschen nicht automatisch größeren gesundheitlichen Risiken ausgesetzt sind, bloß weil sie kein Mann sind.

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