Unsere digitalisierte Welt ist weder gut noch schlecht. Wir müssen sie als Gesellschaft gemeinsam gestalten, das ist der Ansatz der Philosophin Lisa Herzog. Ein Interview.
Unsere Zukunft gestalten wir gemeinsam
Ob es um den Messenger auf dem Handy geht oder das neue Kommunikationstool im Büro: Die Digitalisierung durchdringt unser Privatleben genauso wie unseren Alltag. Viele Arbeitsplätze könnten in den nächsten Jahren wegfallen oder Menschen durch Maschinen ersetzt werden. Aber muss das bedrohlich sein – oder kann das nicht vor allem viel Gutes für uns als Gesellschaft bringen? Die Philosophin Lisa Herzog plädiert dafür, nicht so skeptisch in die Zukunft zu blicken.
In ihrem neuen Buch „Die Rettung der Arbeit: Ein politischer Aufruf“ spricht sie sich dafür aus, die Digitalisierung als gesellschaftliche Aufgabe zu verstehen und den sozialen Aspekt an der Arbeit wieder in den Mittelpunkt zu rücken. Im Gespräch erzählt sie, wieso man nicht bei jedem technischen Trend mitmachen sollte, aber wir alle für die Gestaltung der Zukunft der Arbeit verantwortlich sind und das auch nutzen sollten.
Frau Herzog, ein Zukunftsszenario könnte sein, dass Roboter im Robbenfell sich bald um alte Menschen kümmern und den Pflegekräften die Jobs „wegnehmen“. Diese Vorstellung kann Angst machen. Sie machen sich dagegen über solche möglichen Entwicklungen durch die Digitalisierung nicht ernsthaft Sorgen. Warum?
„Diese Prozesse sind keine Naturereignisse, die über uns hinwegrollen – wir können sie durchaus gestalten, wenn wir das wollen. Und das bedeutet: Wir müssen als Gesellschaft darüber nachdenken, wie wir technologische Fortschritte einsetzen wollen. Die Arbeit einer Pflegekraft ist ein gutes Beispiel dafür: Bis jetzt gehörte zum Pflegeberuf einerseits der menschliche Kontakt, andererseits aber auch weniger tolle Routineaufgaben. In Zukunft lässt sich beides möglicherweise trennen. Deshalb müssen wir entscheiden, worum es uns in der Pflege geht: Wären wir zum Beispiel bereit, Menschen dafür zu bezahlen, dass sie Zeit mit anderen verbringen? Für die weniger spannenden Routineaufgaben könnten wir durchaus technische Lösungen einsetzen. Mitgefühl und soziales Miteinander werden Roboter und Algorithmen aber nie ersetzen.“
Grundsätzlich wollen Sie Arbeit künftig mehr als soziales Phänomen verstehen. Was soll das bedeuten?
„Arbeit ist sozial, weil wir sie als Gesellschaft miteinander teilen. Wir arbeiten für andere, sie arbeiten für uns. In den letzten Jahren lag der Fokus stark darauf, dass jeder sich für den Arbeitsmarkt fitmachen soll und in Konkurrenz zu den anderen steht. Aber wir versorgen uns ja nicht selbst, sondern ergänzen uns mit unserer Arbeit gegenseitig. Aus dieser sozialen Perspektive heraus sollten wir entscheiden, wie wir die Arbeitswelt gemeinsam gestalten. Eine offene Frage ist beispielsweise, wieso bestimmte Berufe so viel höher bezahlt werden als andere. Spiegelt das den Beitrag zum Gemeinwesen wieder? Oder müssen wir gegensteuern?“
Was nicht unbedingt nur von unserer Entscheidung abhängig ist, sondern von verschiedenen Akteur*innen, oder?
„Auf jeden Fall. Politiker*innen sind für diesen Prozess wichtige Player*innen, denn sie schaffen den gesetzlichen Rahmen für den Arbeitsmarkt und gestalten die Regeln der Sozialversicherungssysteme. In Betrieben müssen sich Führungskräfte überlegen, welche digitalen Ergänzungen nützlich sind und wer darüber entscheiden darf. Sind das die, die diese Arbeit machen, oder ist es die IT- oder Finanzabteilung? Das heißt aber für alle Beteiligten auch, dass man gegenüber den Aposteln neuer Technologien selbstbewusst auftreten muss und vieles von dem, was angepriesen wird, durchaus auch kritisch in Frage stellen darf.“
Lange hieß es, Hierarchien seien gut, weil man dadurch Zeit und Geld spare. Sie sagen, man könnte diesem Ansatz mit digitalen Lösungen entgegenkommen.
„Viele Menschen kommunizieren in der Arbeitswelt über Messenger-Dienste und können sich extrem schnell in Gruppen abstimmen. Wenn man so in kürzester Zeit Feedback einholen oder Meinungen austauschen kann, stellt sich die Frage, ob wirklich noch jede Abteilung feste Chef*innen braucht. Es gibt zwar weiterhin gute Gründe dafür, dass man Führungspersonen braucht, zum Beispiel zum Schlichten von Konflikten. Aber könnten die nicht auch gewählt werden? Müssen die Rollen fix vergeben werden, oder könnte sich von Projekt zu Projekt ändern, wer zu Chef*innen gewählt wird?“
Zu guter Letzt nehmen sie auch Arbeitnehmer*innen in die Verantwortung. Aber gibt es da nicht Unterschiede zwischen denen, die schon von Technologien profitieren, und anderen, denen es nicht so geht?
„Eine wünschenswerte Arbeitswelt ist meiner Meinung nach eine, in der Menschen an unterschiedlichen Stellen Verantwortung übernehmen für das, was sie tun und ihr Wissen einbringen können. Da geht es nicht nur um akademische, sondern auch praktische Erfahrungen, die oft unterbewertet werden, aber unglaublich wichtig sind. Deswegen plädiere ich dafür, Menschen am Arbeitsplatz grundsätzlich mehr Mitsprache zu geben, weil sie oft ,on the ground’ sinnvolle Entscheidungen treffen und am besten wissen, was gebraucht wird.“
Um mich einbringen zu wollen, muss ich erst mal daran interessiert sein, dass sich mein Unternehmen weiterentwickelt. Ist das nicht eine Mehrarbeit auf meine Kosten, von der hauptsächlich Arbeitgeber*innen profitieren?
„Natürlich setzt das voraus, dass man sich zumindest in der Zeit, die man im Unternehmen verbringt, einigermaßen verantwortlich fühlt. Ich sehe das aber nicht nur als Zusatzbelastung, denn Menschen profitieren ja auch davon, wenn auf ihre Positionen Rücksicht genommen wird. Problematisch ist, wenn man befürchten muss, durch das kritische Feedback arbeitslos zu werden; das verhindert in Deutschland zum Glück meistens der Kündigungsschutz. Aber um den Stimmen von Arbeitnehmer*innen Gehör zu verschaffen, muss auch nicht an allen Stellen direkte Demokratie herrschen. Es kann auch repräsentative Demokratie geben – und der Aufwand, an Wahlen teilzunehmen, sollte überschaubar sein.“
Sie reden von einem gut funktionierendem Unternehmen, dabei sind es vor allem Einzelpersonen, die sichtbar sind: Mark Zuckerberg, Elon Musk oder Steve Jobs werden für ihre Ideen gefeiert. Müssen wir uns vom Geniekult verabschieden, damit es in der Arbeitswelt künftig gerechter zugeht?
„Genies können nur so erfolgreich sein, weil sie von vielen Sachen profitieren, die andere Menschen schon im Vorfeld erreicht haben. Dazu gehört Wissen, das jemand vorher erarbeitet hat, oder eine bestehende Infrastruktur. Viele Technologien wurden historisch parallel von mehreren Individuen erfunden, weil Wissensinhalte auf andere Bereiche übertragen wurden und so Neues entstand. Und wenn Person A es nicht gemacht hätte, hätte es Person B irgendwann gemacht. Da sind Zufall und Glück im Spiel. Besondere Leistungen sollte man also nicht nur Einzelpersonen zuschreiben, sondern sich ihre soziale Einbettung klarmachen.“
Wenn es Held*innen unserer Zeit gibt, schreiben Sie, sind das Whistleblower*innen. Wieso?
„Weil die Arbeitswelt so komplex ist, kann auch viel schiefgehen. Die Schädigungen können dann viele Menschen betreffen, egal, ob sie absichtlich oder unabsichtlich verursacht wurden. Das haben wir zuletzt beim Dieselskandal gesehen. Whistleblower*innen machen solche Missstände unter Inkaufnahme persönlicher Opfer öffentlich. Dafür können wir als Gesellschaft dankbar sein.“
Eine Sache, über die momentan viel gesprochen wird, ist, weniger zu arbeiten und dafür mehr Freizeit zu haben. Glauben Sie, dass weniger Arbeitszeit künftig das Ideal sein wird?
„Viele Menschen sind bereit, mehr Zeit gegen weniger Geld einzutauschen, und auch die Gewerkschaften haben in den Tarifverhandlungen das Thema Arbeitszeit wieder auf die Agenda gesetzt. Das zeigt, dass großes öffentliches Interesse besteht. Aber gleichzeitig stellen sich dabei massiv Fragen nach sozialer Gerechtigkeit: Wer kann überhaupt über seine Zeit frei entscheiden und flexibel Stunden reduzieren – und wer nicht? Kommt weniger Arbeitszeit allen zugute oder nur einer kleinen privilegierten Gruppe? Es gibt viel politischen Handlungsbedarf, damit weniger Arbeitszeit für alle realistisch werden kann.“
Und wie optimistisch sind Sie für die Rettung der Arbeit?
„Ich sehe durchaus die Bereitschaft, die Digitalisierung aktiv zu gestalten und nicht einfach geschehen zu lassen. In Deutschland setzen wir uns ja schon länger und auch auf politischer Ebene damit auseinander. Das ist nicht überall so. Trotzdem wird es Machtkämpfe geben, vor allem, wenn es um die Rolle großer transnationaler Unternehmen geht. Mein Eindruck ist, dass das Bewusstsein für diese Probleme in den letzten Monaten ziemlich gestiegen ist. Das stimmt mich optimistisch, dass wir als Gesellschaft diesen Wandel bewältigen können.“
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