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Mut

Gegruselt hat sich wohl jeder schon im Dunkeln. Aber warum tun das vor allem Frauen*? Eine Spurensuche durch die Dunkelheit. 

Darmstadt ist in tiefes Schwarz gehüllt. Nur hier und da erleuchten warme Lichtkegel die geschwungenen Wege durch den Herrngarten. Schnellen Schrittes läuft eine junge Frau* zwischen den Bäumen. Der schnellste Weg zu ihr nach Hause führt direkt durch den Stadtpark hindurch. Immer wieder sieht sie sich um. Woher kam gerade dieses Geräusch? Ist da etwa jemand im Gebüsch? Und dieser Schatten bei der Laterne, bewegt der sich nicht? Bloß nicht umschauen und gelassen weiterlaufen, keine Verunsicherung zeigen. Der Ausgang ist schon zu sehen…

Diese Frau* könnten fast alle meine Freundinnen* sein. Klar, zahllose Filme machen vor, was geschieht, wenn Frauen* und Mädchen* dunkle Zonen der Stadt passieren: Fremde Männer rauben sie aus, vergewaltigen oder entführen sie. Das suggeriert dem Zuschauer, Frauen* wären selbst schuld, wenn sie allein durch die Dunkelheit gehen. Meiden Frauen* und Mädchen* jedoch diese sogenannten Angsträume, dann geht das auf Kosten der eigenen räumlichen und mobilen Souveränität. Denn die Folge ist, dass vor allem Frauen* oftmals versuchen, längere Wege allein und bei Dunkelheit gänzlich zu vermeiden – was sich mit einem selbstbestimmten Frauenbild selbstverständlich nur schwer vereinbaren lässt.

Zwar fühlen sich auch Männer* nicht immer wohl dabei, aber sie trauen sich kaum, ihre Ängste offen zu äußern. Immerhin schreiben ihnen traditionelle Geschlechterrollen vor, dass sie Frauen* durch die besagten Räume begleiten – und nach erfüllter Mission alleine zurückgehen müssen. Nicht selten lautet dabei das biologistische Argument: „Ich als Mann kann mich schon besser verteidigen als meine Freundin.“ Die Frau* durch die Dunkelheit zu begleiten, ist also auch eine hervorragende Chance, Männlichkeit zu inszenieren und sich als Gentleman* auszugeben.

Die Angst ist unnötig

Der springende Punkt ist nur: Diese Räume sind sicher. Ja, tatsächlich ist es so, dass es an diesen Orten, die typischerweise dunkel und menschenleer sind, nicht zu mehr Straftaten kommt als woanders. Sowohl Männer* als auch Frauen* brauchen sich also gar nicht gut verteidigen können, wenn sie Parks, Wälder, U‑Bahnstationen oder Tiefgaragen passieren. Zumindest nicht mehr als an anderen Orten oder zu anderen Tageszeiten auch.

Generell ist in Deutschland die Wahrscheinlichkeit, an einem Unfall oder dessen Spätfolgen zu sterben, deutlich größer als durch einen tätlichen Angriff. Die meisten Unfälle geschehen im Haushalt, gefolgt von Verkehrsunfällen. Auch sterben Frauen* wesentlich öfter im Haushalt als Männer*. Die sterben dafür insgesamt häufiger durch Unfälle als Frauen* und eher draußen, also bei der Arbeit, in der Schule, beim Sport und vor allem im Straßenverkehr.

In Bezug auf vorsätzliche Angriffe zeichnet sich ein ähnliches Bild ab. Zwar erfassst die Kriminalstatistik nicht, an welchem Ort Straftaten stattfinden, jedoch welche Beziehung das Opfer zur Täterin* zum Tatzeitpunkt hatte. In der Mehrzahl der Fälle sind es Familienmitglieder und Bekannte*, die Frauen* töten, vergewaltigen, verletzen oder sie in ihrer persönlichen Freiheit einschränken (wozu Menschenhandel und Geiselnahme ebenso wie Stalking gehören). Daraus lässt sich ziemlich sicher schließen, dass es dazu vor allem in privaten Räumen kommt. Auf Männer* trifft indes das Gegenteil zu: Hier sind es vor allem Bekannte und Fremde, die sie zu Opfern machen (von Vergewaltigungen von Männern abgesehen), was folglich vor allem im öffentlichen Raum passiert.

Es bleibt also festzuhalten, dass Frauen* sich vor allem vor dunklen und einsamen öffentlichen Räumen fürchten, auch wenn die Wahrscheinlichkeit, dass ihnen dort etwas passiert, gering ist. Stattdessen fühlen sie sich in privaten Räumen sicher, obwohl es wahrscheinlich ist, dass – wenn ihnen etwas geschieht – es vor allem dort passiert. Männer* hingegen meiden öffentliche Räume nicht, obwohl sie dort öfter als in privaten Räumen Opfer werden. Aber woher kommt diese paradoxe geschlechtsspezifische Wahrnehmung von Unsicherheiten, wenn sie mit der Realität kaum etwas zu tun hat?

Angst als Erbe des Verlangens nach Distinktion

Tatsächlich trifft es mal wieder eine übliche Verdächtige: Die bürgerliche Gesellschaft. Vor der Industrialisierung lebten die meisten Menschen in Dörfern, wo es – wie mancherorts auch heute noch – nahezu unmöglich war, unbemerkt nicht vorgesehene sexuelle Kontakte zu haben. Vor allem da es noch keine Schwellen zwischen Öffentlichkeit, Privatheit und Intimität gab, wie wir sie heute kennen. Dadurch wusste die Familie recht genau, wer als Vater* in Betracht kam, was für den Erhalt des Familiengeschlechts – denn auch Geschlecht hatte noch eine andere Bedeutung als heute – von großer Bedeutung war (und es bis heute noch zu sein scheint, wenn Vaterschaftstests stetig verbessert und genutzt werden).

Mit der Industrialisierung wuchsen die Städte rasch und wurden so anonymer und unübersichtlicher, was ermöglichte, sich freier zu bewegen und unkontrollierter in Kontakt mit Fremden* zu kommen. Da sich zu dieser Zeit auch die soziale Situation von Männern* und Frauen* immer mehr anglich, machten auch Frauen* von diesen neuen Freiheiten Gebrauch. Für das aufkommende Bürgertum war es also nicht so leicht möglich, die sexuellen Kontakte ihres Nachwuchses zu beaufsichtigen und zu verhindern, dass es sich mit unteren Schichten vermischte.

Außerdem waren in der Stadt nur Straßen in Vierteln mit wohlhabenden Bürgern nachts beleuchtet, was eine unkontrollierte Bewegung im städtischen Raum zusätzlich begünstigte und für eine Assoziation von Armut mit Unsicherheit sorgte. Um den Fortbestand des Familiengeschlechts zu sichern, ging die städtische Politik dazu über, Frauen* einer verstärkten Kontrolle zu unterziehen. So war es jungen Frauen verboten, bei Nacht alleine unterwegs zu sein und sie mussten bei Verstoß mit Zwangsuntersuchungen nach Geschlechtskrankheiten rechnen, da sie so in Verdacht der Prostitution gerieten. Zwar führte das auch zu Widerstand von Frauen*, aber der Anspruch an sich selbst, als anständige Frau zu gelten, die sich so von unteren Schichten abgrenzte, führte dazu, dass viele Frauen* den Ausgehverboten nachkamen, wodurch sie im Laufe der Zeit zu Anstandsgeboten wurden.

Darüber hinaus bildete sich zu dieser Zeit das bis heute vorherrschende Geschlechterbild, demzufolge Männer* und Frauen* vollkommen gegensätzliche Eigenschaften zukommen. Frauen* galten nun als schwach und schutzbedürftig und der öffentliche Raum als gefährlich und deswegen nur von Männern* passierbar, was Verbrechen wie die von Jack the Ripper unterstrichen. Zwar waren solche Taten selten, aber wirkmächtig und gelangten so ins kollektive Bewusstsein. Wenn Frauen* solche Angsträume durchqueren und Männer* sie dabei womöglich auch noch anmachen, werden Sie an solche Taten erinnert und fürchten sich vor körperlicher Verletzung. Das zeigt, dass die Angst der Frauen* keineswegs eine neurotische Macke ist.

Auf in die Dunkelheit

Während es heute für Männer* immer noch ganz selbstverständlich ist, in die Welt hinauszugehen und sich öffentlichen Raum anzueignen, gilt das für Frauen* nicht gleichermaßen und das nur weil sie vor zweihundert Jahren als Schlampen gegolten hätten. Doch mal ganz ehrlich, eigentlich ist auch die Vorstellung, dass ein potentieller Vergewaltiger im einsamen Park hinter dem Busch lauert – am besten noch bei Minustemperaturen – doch eher abwegig als realistisch. Und irgendwie auch ein bisschen witzig.

Liebe Leserinnen*, ihr wisst jetzt Bescheid: Geht allein in die Dunkelheit und seid ohne Furcht!

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