Nur acht Prozent der Menschen in Deutschland, die einen sogenannten bildungsfernen Hintergrund haben, erlangen einen Masterabschluss. Und selbst dann hören die Herausforderungen nicht auf. Was, wenn das Studium alleine nicht ausreicht?
Unter dem Nachwuchs von Akademiker*innen: Bloß nicht auffallen
Nichts Dummes sagen, nicht auffallen, mithalten können. Und bloß nicht allzu verwundert wirken, wenn die Menschen um einen herum von der letzten Buchveröffentlichung ihres Vaters erzählen, so als wäre es das normalste auf der Welt. Oder davon, wie es denn so sei, alle vier Jahre in ein neues Land zu ziehen, weil die Eltern von irgendeiner Behörde nach
Frankreich, China oder in die USA beordert wurden. Wer aus einem sogenannten bildungsfernen Elternhaus stammt, der kann sich an solche oder ähnliche Gedanken und Situationen aus dem ersten, zweiten, dritten oder auch fünfzehnten Semester vermutlich auch Jahre später noch gut erinnern.
Und an den Moment, in dem das erste selbstgehaltene Unireferat tatsächlich überlebt wurde, ohne dass jemand fragte, wie man sich denn eigentlich in diesen Seminarraum verlaufen konnte. Genauso wie an den surrealen Augenblick, in dem das in den eigenen Händen gehaltene Unizeugnis mit Stempel und allem Drum und Dran bezeugte, dass es mit der Bildungsferne nun offiziell vorbei sein würde. Dass man sich ab sofort zu den glücklichen acht Prozent zählen konnte, die trotz Nichtakademiker*innen-Eltern den formalen Aufstieg in Form eines Masterabschlusses geschafft haben. Herzlichen Glückwunsch. Nur was, wenn das alles immer noch nicht ausreicht?
Smalltalk, selbstbewusstes Präsentieren, zur richtigen Zeit das richtige Fremdwort einstreuen
„Du kannst den Jungen aus dem Ghetto holen, aber nicht das Ghetto aus dem Jungen”, soll der schwedische Fußballnationalspieler Zlatan Ibrahimović gesagt haben. Natürlich ist niemand automatisch auf ewigen Misserfolg programmiert, nur weil er*sie nicht von akademisch gebildeten Eltern erzogen wurde. Erziehungsberechtigte ohne Unidiplom sind nicht zwangsläufig die schlechteren Eltern. Natürlich nicht.
Und der Begriff „bildungsfern” umfasst ein weites Feld. Er kann den ungelernten Staplerfahrer ebenso meinen, wie die Hausfrauen-Mutter ohne Ausbildung, oder den Taxifahrervater, der jeden Abend die Tagesschau schaut. Dennoch lässt es sich nur schwer leugnen: Unsere Kindheit prägt uns. Wir übernehmen und verinnerlichen soziale Verhaltensweisen lange bevor wir einen Fuß ins Gymnasium, geschweige denn in die Uni setzen können.
Und gerade auf diese Verhaltensweisen kommt es bei dem Verlauf einer Karriere oftmals mehr an, als auf alles andere. Smalltalk, selbstbewusstes Präsentieren, zur richtigen Zeit das richtige Fremdwort einstreuen, Netzwerken – all das kann schon während des Studiums Bedeutung haben. In der Zeit nach dem Uniabschluss spielt es jedoch eine noch größere Rolle – und ist gerade bei Geistes- und Sozialwissenschaftlern für den Karriereweg letztendlich oftmals wichtiger, als jedes Unizeugnis, jede 1,0 und jedes überlebte Referat.
Ehrfurcht vor Titeln
Gerade hier hapert es aber oft. Wer am elterlichen Küchentisch nie ganz selbstverständlich politische Diskussionen führte und die erste Person mit Doktortitel tatsächlich erst an der Uni kennenlernte, der hat möglicherweise eine größere Hemmschwelle sich bei Konferenzen, in Raucherpausen oder bei Häppchen und Wein in den diskursiven Zweikampf zu begeben oder intellektuellen Grüppchen-Smalltalk zu führen, als Leute, die im entsprechenden Milieu großgeworden sind. (Unbegründete) Ehrfurcht vor Titeln, die berühmte Angst etwas Dämliches zu sagen, ja ganz einfach Berührungsängste, die sich auch nach Jahren des Studiums oft nur schwer ablegen lassen – all das macht das für den Karriereerfolg so maßgebliche Networking nicht gerade leichter. Möglicherweise gilt das insbesondere auch für Frauen, denen in diesem Bereich ja generell eine Schwäche nachgesagt wird.
Kaum Professor*innen mit nicht-akademischen Background
Die aus einem Arbeiter*innenhaushalt stammende Informatikerin Dagmar Waltemath, die an der Uni Rostock forscht, berichtete beispielsweise in einem Interview mit der Wochenzeitung „Die Zeit”, dass Arbeiter*innenkinder mehr Aufwand und Kraft darauf verwenden müssten, sich ein paar wesentliche Verhaltensregeln unter Wissenschaftler*innen anzutrainieren. Sie müssten erst lernen, sich zu präsentieren. Sie selbst habe beispielsweise erst mit der Zeit begriffen, dass die wichtigsten Minuten bei Konferenzen die Kaffeepausen seien. Früher sei sie zudem ständig in Situationen geraten, die ihr unangenehm waren. „Ich erinnere mich zum Beispiel an eins meiner ersten Konferenzdinner. Damals fühlte ich mich wie in einer Szene des Films Pretty Woman: Es lagen unzählige Bestecke auf dem Tisch, und ich fragte mich: Habe ich jetzt den falschen Löffel in der Hand, um die Suppe zu essen? Natürlich sagt einem das im Zweifel keiner, aber gucken wird jeder.”
Waltemaths Erfahrungen dürften kein Einzelfall sein – und nicht jeder schafft es, sich trotzdem in der akademischen Welt durchzusetzen. Eine 2013 in der Fachzeitschrift „Soziale Welt” erschienene Studie der Soziologin Christina Möller entdeckte beispielsweise einen Trend zur „sozialen Schließung der Universitätsprofessur“. So würden 38 Prozent der zwischen 2001 und 2010 in NRW neu berufenen Professor*innen aus der höchsten sozialen Schicht stammen, nur zehn Prozent aus der niedrigsten. Unter den Professorinnen sei die soziale Selektion sogar noch schärfer. Der Anteil der Professorinnen mit „niedriger“ sozialer Herkunft liege derzeit bei nur sieben Prozent, während es unter den Männern immerhin fast doppelt so viele (13 Prozent) seien. Vorbilder an der Uni für künftige Erstakademikerinnen: Fehlanzeige.
Förderung für Berufseinsteiger*innen? Gibt es nicht
Und während es zwar belastbare Zahlen zu Studierenden, Bachelor- und Masterabsolvent*innen sowie zu Doktorand*innen aus Nichtakademikerfamilien gibt, weiß eigentlich niemand so genau, wie es für diejenigen, die den Sprung vom bildungsfernen Elternhaus in die Akademikerwelt geschafft haben, nach dem Uni-Abschluss, außerhalb der Uniblase weitergeht. Hier mangelt es auch an gezielten Förderinitiativen.
Während es für Studierende aus Nichtakademiker*innen-Elternhäusern mittlerweile spezielle Unterstützungsangebote gibt, wie etwa das vor zehn Jahren von Katja Urbatsch gegründete Informationsnetzwerk Arbeiterkind, sind Absolvent*innen auf sich alleine gestellt. Vielleicht wäre es also an der Zeit eine ähnliche Initiative für Erstakademiker*innen ins Leben zu rufen. Auch wer die Uni erfolgreich hinter sich gelassen hat, kann schließlich Unterstützung bei den ersten, zweiten oder dritten Karrieresprüngen und den damit verbundenen sozialen Anforderungen oftmals mehr als gut gebrauchen.
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