Foto: Luis Enrique Becerra

Die stillen Opfer werden laut: Kampf um Gerechtigkeit in Peru

Unter der Regierung des früheren Präsidenten Alberto Fujimori wurden in den späten 90er Jahren schätzungsweise 300.000 Frauen und 20.000 Männer in Peru zwangssterilisiert. Fujimori nutzte die grausame Form der Geburtenkontrolle als Instrument gegen die Armut. Bis heute kämpfen die Opfer für die Aufarbeitung dieser Verbrechen.

„Wir haben keine Angst mehr“

Eines Tages standen zwei Krankenschwestern vor dem Haus von Rute Zúñiga Caceres. Sie müsse unbedingt ins Gesundheitszentrum kommen, sagten sie der jungen Frau, sonst könne ihr neugeborenes Baby nicht registriert werden. Sie ging mit ihnen. Im Zentrum in Anta bei Cusco angekommen, haben sie dort drei weitere Krankenschwestern und ein Arzt erwartet. Sie hielten Caceres fest, fesselten sie an Händen und Füßen und sterilisierten sie – ohne zu fragen, ohne Narkose und ohne Nachbehandlung. Das war im Jahr 1997. 

Rute Zúñiga Caceres war nicht die Einzige, die man dieser brutalen Prozedur unterzog. Unter der Regierung von Alberto Fujimori wurden in den späten 90er Jahren laut Schätzungen rund 300.000 Frauen und 20.000 Männer gegen ihren Willen unfruchtbar gemacht. Bis heute warten sie auf eine Entschädigung.

Caceres ist mittlerweile Präsidentin einer Organisation von zwangssterilisierten Frauen, die sich für die Rechte und Entschädigung der Betroffenen einsetzt. 2015 wurde ihr und 30 weiteren Betroffenen, die sich in der Organisation engagieren, der peruanische Menschenrechtspreis verliehen. „Heute berichten wir darüber, was uns angetan wurde“, sagte die Frau mit den langen schwarzen Zöpfen und dem Filzhut, wie sie Frauen im Hochland tragen, in ihrer Dankesrede. „Wir haben keine Angst mehr.“

Instrument der Armutsbekämpfung

Das, was sich zwischen 1995 und 2001 in Perus Gesundheitszentren abspielte, bezeichnet Amnesty International als eines der schlimmsten Menschenrechtsverbrechen Amerikas. Für den damaligen Präsidenten war die grausame Form der Geburtenkontrolle ein systematisches und notwendiges Instrument zur Bekämpfung von Armut. Der „Club of Rome“, der sich mit Fragen zum Bevölkerungswachstum und nachhaltiger Entwicklung beschäftigt, hatte zuvor vor einer Bevölkerungsexplosion gewarnt. 

Nach dem langen Bürgerkrieg wollte Alberto Fujimori, der damalige Präsident, das Land einen Wachstumsschub verleihen und gleichzeitig die Armut verringern. Dafür ließ er das im katholischen Peru lange Zeit geltende Verbot von Sterilisierungen aufheben und initiierte das sogenannte „Programm für reproduktive Gesundheit und Familienplanung“. Demnach sollte die Anzahl der Kinder pro Frau landesweit von durchschnittlich 3,6 auf 2,5 Kinder gesenkt werden. 

Rute Zúñiga Caceres ist eine der vielen Frauen, die gegen ihren Willen sterilisiert wurden (Foto: Luis Enrique Becerra / SER)

Als Fujimori sein Familienplanungsprogramm öffentlich vorstellte, pries er die Sterilisiation von Männern und Frauen als freiwillige empfängnisverhütende Methode, von der vor allem die arme Bevölkerungsschicht profitieren werde. Er stieß damit auf große Zustimmung: Politikerinnen und Frauenrechtlerinnen freuten sich, dass ihre aus bescheidenen Verhältnissen stammenden Geschlechtsgenossinnen kostenlosen Zugang zu dieser Methode erhielten. Der internationale Währungsfonds, die Weltbank und die Hilfsorganisation US-Aid finanzierten die Kampagne am Anfang. 

„Niemand konnte damals ahnen, welche Absicht Fujimori hatte“, sagt Ana María Vidal, Direktorin der nationalen Menschenrechtskoordination, die mit den Betroffenen zusammenarbeitet. „Denn die Sterilisiationen waren alles andere als freiwillig.“ Unter falschen Versprechungen, Lügen, Androhungen und manchmal mit roher Gewalt seien die Frauen und Männer aus ihren Dörfern in die Gesundheitszentren gebracht und dort gegen ihren Willen unfruchtbar gemacht worden. Die Zwangssterilisierungen trafen vor allem indigene Frauen zwischen 20 und 40 Jahren, die bereits Kinder hatten und in abgeschiedenen Regionen im Andenhochland und im Regenwald lebten. 

„Dumme Gebärmaschinen“

Der Umgang mit den Frauen sei menschenverachtend gewesen, sagt Caceres, die mittlerweile Tausende von Geschichten gehört hat, die ihrer eigenen ähneln. Die damals 23-jährige Sabina Huilca zum Beispiel sterilisierte man ohne ihr Wissen nach der Geburt ihres vierten Kindes, einer lang ersehnten Tochter. Sie müsse ins Krankenhaus kommen und gereinigt werden, hatte ihr der Arzt gesagt, der kurz nach der Geburt vor ihrer Tür stand. Die Familie verstand nicht, warum eine Reinigung notwendig sei, folgte aber der Anweisung. Als Sabina Huilca im Krankenhaus aus der Narkose aufwachte, war der Arzt noch dabei, ihr den Bauch zuzunähen. „Damit du nicht mehr wie ein Meerschweinchen gebärst“, antwortete ihr eine Krankenschwester Stunden später auf die Frage, was ihr angetan worden sei.

Politiker*innen und Gesundheitspersonal beschimpften die Frauen, die meist Analphabetinnen waren und aus einfachen Verhältnissen kamen, öffentlich und persönlich als „dumme Gebärmaschinen.“ Etliche Frauen waren bei der Sterilisierung schwanger, erlitten Fehlgeburten oder bekamen ihr Baby nach der Geburt nicht mehr zu Gesicht. Mindestens 18 Frauen starben direkt an den Folgen der Sterilisierung, Tausende leiden bis heute unter den gesundheitlichen Komplikationen der ambulanten Eingriffe, die unter miserablen hygienischen Bedingungen stattfanden. 

Als Randgruppe der peruanischen Gesellschaft – Frauen, indigen, Quechua sprechend – wurden sie sogenannte stille Opfer, vom Staat diskriminiert und von ihren Ehemännern und Gemeinden verstoßen, weil sie in der patriarchalischen Gesellschaft der Anden als Frau, die keine Kinder bekommen und nicht arbeiten kann, als nutzlos galten. Sabina Huilca beispielsweise wurde nach den Eingriff schwer krank. Die Wunde infizierte sich, die Schmerzen im Unterleib seien unerträglich gewesen, erzählt die heute 41-Jährige. Feldarbeit habe sie keine mehr leisten können. „Für unser Familienleben wurde das zu einer großen Belastung.“ Ihr Mann habe immer häufiger zum Alkohol gegriffen.

Die indigene Menschenrechtsaktivistin und spätere Politikerin Hilaria Supa Huamán wohnte damals in der Nähe der Huilcas. Ihr fiel der schlechte Gesundheitszustand ihrer Nachbarin auf. „Du musst reden, Sabina, du bist nicht das einzige Opfer“, sagte sie der jungen Frau, die schließlich einwilligte, ihre Geschichte öffentlich zu machen. Bereits ab 1997 sammelte Supa, damals Anführerin einer indigenen Bauernbewegung, Aussagen von Betroffenen in Quechua und ließ diese der peruanischen Rechtsanwältin Guilia Tamayo zukommen.

Sterilisierungsquoten mussten erfüllt werden

Tamayo war eine der ersten, die die Zwangssterilisierungen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit öffentlich anprangerte. In ihrem Bericht „Nada Personal“, zu Deutsch „Nichts Persönliches“, beschrieb sie die haarsträubenden Methoden des vermeintlich menschenfreundlichen Programms. Nach der Veröffentlichung des Berichts 1998 bekam sie immer wieder Morddrohungen und ging schließlich ins Exil nach Spanien. 

Die Eingriffe, schrieb Tamayo damals, fanden zu mehr als 90 Prozent unter Zwang oder durch betrügerische Beratungen statt. Um die Kosten niedrig zu halten, wurden Narkosemittel aus der Tiermedizin eingesetzt. Oftmals nahmen Krankenschwestern oder Studierende der Medizin die Eingriffe vor. Gleichzeitig legte die Regierung den Gesundheitszentren und deren Personal Sterilisierungsquoten auf. Der Präsident sei persönlich jeden Monat von den Dienststellen der Gesundheitminister über die Zahl der Sterilisierungen informiert worden. Wurden die Quoten nicht erfüllt, drohte dem Personal die Kündigung. Für jede Sterilisierung gab es eine Belohnung zwischen vier und zehn US-Dollar. 

Nach der Publikation von Tamayos Bericht gab es erste Untersuchungen. Die Entwicklungsgelder aus den USA, die das Familienplanungsprogramm bis dato unterstützt hatten, wurden eingestellt. Zunächst stritt die Regierung Fujimoris jegliche Verantwortung für die Sterilisierungen ab, aber als die finanzielle Hilfe auch von anderen Organisationen ausblieb, nahm die Regierung schließlich Abstand von ihrem Quotensystem und zuletzt auch von ihrem Sterilisierungsprogramm.

Ana María Vidal, Leiterin der Nationalen Menschenrechtskommission, unterstützt die Frauen in ihrem Kampf für Gerechtigkeit (Foto: Eva Tempelmann)

Neues Gesetz als erster Schritt 

Auf nationalen und internationalen Druck hin erließ der damalige Präsident Humala 2015 schließlich ein Gesetz zur Registrierung der betroffenen Frauen. Ana María Vidal, Leiterin der Nationalen Menschenrechtskommission, begrüßte das Gesetz als einen ersten Schritt zu mehr Gerechtigkeit. Aber es greife zu kurz, kritisiert sie, denn es besage nur, dass die Frauen nun gerichtlich Klage gegen den Staat erheben und staatliche Unterstützung für die Anwaltskosten und für psychologische und gesundheitliche Behandlung bekommen könnten. Aber es handele sich um einzelne Verfahren, die mehrere Jahre dauern könnten.

Was immer noch fehle, sei die politische Anerkennung der Massivität der Eingriffe, die systematische Durchführung der Sterilisationen auf Befehl von ganz oben. „Es muss dringend eine Politik für integrale Wiedergutmachung geben“, sagt Vidal. Dazu gehöre, dass die Frauen über ihre Rechte informiert würden und einen Anspruch auf umfassende wirtschaftliche Entschädigung bekämen, auf Umschulung, Einkommensprogramme und eine professionelle ärztliche Behandlung – „und zwar nicht in den Gesundheitszentren, in denen die gleichen Leute sitzen, die damals die grausamen Sterilisierungen durchgeführt haben.“ 

Auf Drängen nationaler Menschenrechtsorganisationen hat die Staatsanwaltschaft Ende 2018 nun zum ersten Mal Fujimori und drei seiner damaligen Gesundheitsminister für die Zwangssterilisierungen angeklagt. Für die Betroffenen ist das ein weiterer Lichtblick auf ihrem langen Weg zur Gerechtigkeit. „20 Jahre nach diesen Verbrechen warten wir noch immer auf eine Wiedergutmachung dessen, was uns angetan wurde“, sagen Rute Zúñiga Caceres und Sabina Huilca, die sich im Februar 2019 beim nationalen Treffen der Opfer von Zwangssterilisierungen in Lima trafen. Beide haben sich offiziell registrieren lassen und klagen nun gemeinsam gegen die damalige Regierung. Ob sie unter dem aktuellen Präsidenten Martín Vizcarra auf Entschädigung hoffen können, ist bislang unklar.

Von Eva Tempelmann, Lima

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