Foto: Screenshot Mareice Kaiser

Queen of Chaos oder: Warum ich immer wieder auf „später“ klicke

24.293 ungelesene Mails im Posteingang und ein Desktop, der wie ein Wimmelbild aussieht. Unsere Chefredakteurin findet kreative Freiheit wichtiger als Ordnung.

Updates verfügbar. Möchtest du die Updates jetzt installieren oder es heute Nacht nochmal versuchen? „Installieren“ oder „später“ bietet mir mein Computer als Optionen. Ich klicke auf „später“. Mein Computer schlägt vor: „in einer Stunde erinnern“, „heute Nacht versuchen“ und „morgen erinnern“. Ich klicke auf „morgen erinnern“. Und morgen mach ich das dann wieder von vorn. Es ist mein Circle of Computerlife.

Aber es ist nicht der einzige Circle of Chaoslife, den ich so lebe. Meine Steuerberaterin zum Beispiel kann ein Lied davon singen, allerdings in Moll. „Denken Sie noch an unsere Verabredung?“, schrieb sie mir vor einigen Tagen. Ich finde es sehr süß, dass sie meine verspätete Abgabe der Steuerunterlagen als Verabredung bezeichnet. Und obwohl ich sie mag – werde ich mich erst sehr spät bei ihr melden.

„Sie haben zehn Tage Zeit, Ihre PIN zu ändern“, schreibt mir mein Online-Banking. Am nächsten Tag wieder, am übernächsten auch. Zehn Tage lang, die gleiche Kommunikation. Hätten wir eine romantische Liebesbeziehung, meine Bank hätte längst Schluss mit mir gemacht. Sowas ähnliches passierte: Meine Bank stellte mich offline.

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Ich habe aktuell 24.293 ungelesene Mails auf meinem Smartphone und mein Desktop sieht aus wie ein Wimmelbild. Ein Freund sah letztens meinen Maileingang und schrie: „Wie hältst du das aus!?“ Meine Antwort: gut. Meine detaillierte Antwort: Es ist mir egal. Und: Ich habe keine Zeit, mich darum zu kümmern und sehe auch keinen Grund, mich darum zu kümmern. Die wichtigen Mails lese ich, die wichtigen Mails beantworte ich. Meistens. Wenn es gut läuft.

40 Jahre Chaos

Ich mache es mir und den Menschen, die mit mir arbeiten und leben, nicht leicht: Ich bin das Chaos. Es hat fast 40 Jahre gedauert, mir das einzugestehen. Und genau so lange, nicht mehr dagegen anzukämpfen. Manche Dinge lassen sich ändern, manche nicht. Mein Chaos eher nicht. Ich kann es so handeln, dass es wenig große Probleme gibt. Die kleinen bleiben allerdings. Was aber auch bleibt, ist meine Flexibilität im Kopf.

Chaos kann ziemlich viele Menschen nerven, aber mir lässt es auch die Flexibilität für neue Ideen. Wenn immer alles gleich ist, immer alles geregelt, wo bleibt da die Freiheit? Wo der Platz für „das probiere ich jetzt mal aus“?Ich muss schon alleine deshalb oft Neues ausprobieren, weil ich den ursprünglichen Plan verpasst oder vermasselt habe.

„Ständiges Scheitern macht ziemlich unglücklich. Und so ist Akzeptanz mein Weg.“

Lange Zeit dachte ich, ich müsste jetzt wirklich mal was ändern. Wirklich mal die Steuererklärung pünktlich abgeben, immer alle technischen Geräte updaten, immer pünktlich sein, nichts mehr vergessen, auch nicht meinen Kopf. Aber ständiges Scheitern macht ziemlich unglücklich. Und so ist Akzeptanz mein Weg.

Überschriften statt Excel-Listen

Damit meine ich nicht, einfach alle schlechten Eigenschaften anzunehmen und mich immer mit dem Satz „So bin ich halt“ herauszureden. Nein, natürlich möchte ich mich weiterentwickeln und natürlich möchte ich in vielen Sachen besser werden. Aber es kommt auch darauf an, zu sehen, wo es Sinn ergibt – und wo nicht. Ich werde niemals gut in Excel-Listen werden. Dafür kann ich Überschriften und Teaser. Und zum Glück habe ich Menschen um mich herum, die Excel-Listen können.

In meinem Chaos, da passieren nicht nur doofe und nervige Sachen, sondern auch schöne, sehr schöne.

Zum Beispiel: Ich treffe Menschen, die mir ähnlich sind. Die mir ihre Chaos-Geschichten von verpassten Bussen oder Flugzeugen erzählen – und wir lachen und freuen uns darüber, dass wir nicht alleine sind und es nie langweilig wird. Wir freuen uns, dass es okay ist, wenn wir zu spät zu einem Treffen kommen und kommen gleichzeitig, nämlich circa sechs Minuten zu spät.

Ich komme vielleicht manchmal zu spät, aber ich komme. Das wissen meine Freund*innen und das wissen meine Kolleg*innen. Auf mein Chaos ist Verlass, aber auf mich auch.

Ich will mit Freund*innen lachen, ich will mal pünktlich sein und mal nicht, ich will fröhlich mit meinem Kind sein, ich will philosophieren, denken und schreiben, ich will manche Sachen schaffen und andere nicht. Ich will nicht der perfekt organisierte Mensch im Kapitalismus sein.

„Umarme das wunderbare Chaos, das du bist.“

Elizabeth Gilbert

Ich umarme mein Chaos, weil ich damit mich umarme. Mich, mit all meinen Macken und Makeln. Mich als Mensch. Nicht an jedem Tag; aber immer dann, wenn ich’s nicht vergesse.

Welcher Tag ist heute? Und die Antwort auf alle anderen Fragen.

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