Foto: Madlen Krippendorf

„Sagt nicht ‘Hand aus der Hose’ zu euren Töchtern“ – ein Gespräch mit Katja Lewina

„Sie hat Bock“ – so heißt das neue Buch der Journalistin Katja Lewina, die wie wenig andere offen über sexuelle Selbstbestimmung und das körperliche Selbstbild schreibt. Im Interview spricht sie über ihre offene Beziehung, Hasskommentare und Scheidenausfluss.

Vulven, Sex und Selbstbestimmung

Ihre Artikel tragen Titel wie „Über das Märchen der ausgeleierten Vagina“, „Warum hier ‘Fotze’ in der Überschrift stehen muss“ und „Seit ich mit anderen schlafe, habe ich besseren Sex mit meinem Freund“. Die Journalistin Katja Lewina spricht ehrlich und freiheraus über sexuelle Selbstbestimmung und nimmt dabei keine Rücksicht auf gesellschaftliche Konventionen. Seit drei Jahren schreibt die 36-jährige Journalistin und Mutter über alles rund um Vulven, Sex und ihre offene Beziehung. Erstmalig erlangte sie öffentliche Aufmerksamkeit als sie für „Vice“ über ihre offene Beziehung schrieb – und dafür einige Kritik einstecken musste. Auch andere Texte, wie etwa das Protokoll eines Selbstversuches, bei dem sie 496 Mal im Dezember 2018 masturbieren wollte, wurde heiß diskutiert – selbst Zeit-Kolumnist Harald Martenstein widmete sich in einem Kommentar diesem Artikel. Lewina ließ sich davon nicht aufhalten, pfefferte dem Journalisten eine gekonnt argumentierte Antwort entgegen und widmete sich weiter ihren Kolumnen „Freifahrtschein” und „Untenrum”, in denen sie über die Erfahrungen ihrer offenen Beziehung schreibt und mit Gerüchten, Mythen und Klischees über weibliche Sexualität aufräumt.

„Bibel“ inklusive Glory-Hole

Jetzt hat die Journalistin ein Buch mit dem provokanten Titel „Sie hat Bock“ geschrieben – inklusive „Glory-Hole“ im Buchcover. Das Werk vereint ihre überarbeiteten Kolumnen und weitere neue Texte. Journalistinnen wie Lewina gibt es in Deutschland nur wenige: Frauen, die frei und ohne Scham über ihre Sexualität sprechen – und sich damit letzten Endes für die Selbstbestimmung aller Frauen einsetzen. Auch deshalb trägt ihr Buch einen wichtigen Beitrag zum öffentlichen Diskurs über Sexualität bei. Ihr Buch deckt eine Bandbreite der Themen ab, die in der feministischen Debatte diskutiert werden: Wie wir über unser Geschlechtsorgan reden, wie Frauen ihre eigene Lust durch Sozialisierung vorgeschrieben wird, was Sex auf Augenhöhe bedeutet. Das Buch ist die „Bibel“ (Augenzwinker) für sexuelle Selbstbestimmung und sollte bei jeder*m im Schrank stehen, der*die Sexualität neu definieren und frei von gesellschaftlichen Grenzen leben will. Darüber und mehr haben wir mit ihr im Interview gesprochen.

In deinem Buch rufst du dazu auf, dass Menschen offener über ihre Sexualität sprechen sollen. Gleichzeitig schreibst du aber unter dem Pseudonym Katja Lewina. Warum hast du dich dazu entschieden?

„Als ich angefangen habe über meine offene Beziehung zu schreiben, wollte ich das zunächst unter meinem Klarnamen tun. Bevor ich aber den ersten Text veröffentlichte, ging mir dann echt der Arsch auf Grundeis. Ich dachte: Oh Gott, nachher liest das mein Vater. Und: Ich krieg nie wieder einen ordentlichen Job, wenn man meinen Namen googelt und dann so einen Text von mir liest. Deshalb entschied ich mich für ein Pseudonym. Letzten Endes war es dann aber auch egal, weil die Redaktion unbedingt ein Foto von mir wollte und mich hinterher alle möglichen Leute auf den Text ansprachen. Inzwischen würde ich auch unter meinem Klarnamen schreiben, aber das Pseudonym hat sich nunmal etabliert. Das hat aber auch den Vorteil, dass ich nicht so leicht auffindbar bin. Wenn irgendein ekelhafter Typ mich zuhause aufsuchen möchte, dann muss er sich schon anstrengen.“

Apropos ekelhafte Typen. Du hast in einem Artikel für das Online-Magazin ze.tt berichtet, dass du oft Hasskommentare bekommst. Wie gehst du damit um?

„Anfangs war das wahnsinnig hart, ich war darauf überhaupt nicht vorbereitet. Inzwischen lache ich über solche Menschen. Viel schlimmer als Hasskommentare finde ich es aber, wenn Typen so etwas schreiben wie ,Ich würde so gern mal in deiner Tür stehen und dir die Zunge in den Hals stecken.’ Da kann man nur hoffen, dass so jemand das nicht durchzieht. Überhaupt finde ich es befremdlich, wie viele Männer es mit plumpen Anmachen versuchen, wenn eine Frau über Sex schreibt.“

Was war das für ein Gefühl, als du deinen ersten Artikel veröffentlicht hast und quasi jede*r online lesen konnte, wie du dein Sexleben gestaltest?

„Wenn man anfängt über Dinge zu sprechen, über die andere lieber schweigen, steht man erst mal wie ein Freak da. Es macht aber wahnsinnigen Spaß! Und es macht frei. Wenn ich zum Beispiel über den Ausfluss in meinem Schlüpfer schreibe, statt ihn zu verstecken, entspannt das total — mich und die, die es lesen. Solche Geheimnisse aufzugeben wäre total therapeutisch für uns alle. Und: Je weniger Sexualität tabuisiert wird, desto weniger gibt es Auswüchse wie unterdrückte sexuelle Wünsche und sexualisierte Gewalt.“

Du schreibst jetzt seit drei Jahren über die sexuelle Selbstbestimmung von Frauen. Hat es sich verändert, wie wir als Gesellschaft über unsere Sexualität und die Beziehung zu unserem Körper sprechen?

„Als ich meine ersten Texte publizierte, haben die noch riesige Wellen geschlagen. Ich habe nicht damit gerechnet, dass Hunderte von Menschen mich als Schlampe oder Geistesgestörte bezeichnen und mir mit Vergewaltigung drohen. Seit einer Weile kommt das aber ganz anders an. Es gibt noch immer Hass, aber auch sehr viel positive Resonanz. Viele empfinden meine Texte als Inspiration und finden es toll, dass jemand so offen spricht. Ich glaube, zu diesem Paradigmenwechsel hat auch die #metoo-Bewegung beigetragen. Menschen, die sich nie zuvor mit feministischen Themen auseinandergesetzt hatten, kamen da plötzlich nicht mehr dran vorbei. Vor ein paar Jahren wäre es zum Beispiel noch nicht möglich gewesen, dass die sogenannte Tamponsteuer solch eine Öffentlichkeit bekommt — und am Ende sogar gesenkt wird. Trotzdem ist die eigene Sexualität und der Bezug zum eigenen Körper noch mit Scham behaftet. Auf einer theoretischen Ebene können viele darüber reden, auf einer persönlichen jedoch nicht.“

In deinem Buch schreibst du darüber, dass wir in der theoretischen Debatte viel freier tun als wir das Sexualleben anderer dann tatsächlich akzeptieren. Woran liegt diese Diskrepanz?

„Wir sind nicht so schnell, wie wir gerne wären. Es gibt inzwischen den Konsens, dass wir alle das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung haben, dass man ,Nein’ sagen darf und das akzeptiert werden muss. Das alles ist aber noch nicht bis in unsere Eingeweide durchgedrungen. Ich treffe noch immer Männer, die sagen, dass sie gar nicht wissen wollen, mit wie vielen Männern ich schon geschlafen habe – nachher seien das mehr als ihre eigenen Sexpartnerinnen.“

In einem deiner Texte schreibst du darüber, dass immer noch mehr Frauen sich von Männern dominieren lassen als andersherum, was auch daran liegt, dass Männer sich nicht trauen, diese Neigungen zu äußern. Was ist, wenn Männer es wirklich einfach nicht mögen, dominiert zu werden?

„Natürlich gibt es Männer, denen es nicht gefällt, submissiv zu sein. Mich wundert es dann aber doch, warum sich die Mehrzahl der Männer in einer eher dominanten Rolle sieht, während Frauen sich den passiven Part zuordnen. Ich denke, dass das etwas mit unserer Sozialisierung zu tun hat. Wir gehen automatisch in diese Rollen rein, andere sind überhaupt nicht denkbar.“

Du bezeichnest die Beziehung zu deinem Mann als ,offene Ehe’. Mittlerweile haben sich ja viele unterschiedliche Begrifflichkeiten für Beziehungen etabliert. Was hältst du von diesen Labels?

„Ich muss für die Menschen da draußen eine Bezeichnung finden, die vermittelt, dass wir etwas anders machen als die meisten. Deswegen nenne ich meine Beziehungsform ,offene Beziehung’. Am besten fände ich es aber, wenn man einfach sagen könnte: Das ist unsere Beziehung – und Punkt. Am Ende ist es ist nämlich unerheblich, ob wir Sex mit anderen haben oder nicht. Wir müssen weg von diesem verfestigten Verständnis, was genau eine ‚richtige’ Beziehung sein soll.“

Du bist ja auch Mutter. Welchen Tipp würdest du jedem Elternteil geben, das in einer offenen Beziehung lebt, um den Kindern diese Beziehungsart so natürlich wie möglich zu vermitteln?

„Man sollte die Kinder nicht auf Teufel komm raus damit konfrontieren. Andererseits ist Ehrlichkeit genau so wichtig. Wenn ich ein Date habe und mein Kind mich fragt, wo ich hingehe, würde ich nicht lügen und sagen, ich ginge nochmal zur Arbeit. Für unsere Kinder ist es inzwischen normal, dass wir uns auch mit anderen Menschen treffen. Aber diese Normalität zu erreichen, war auch ein langer Weg.“

Du bist dafür, dass Frauen ihre Sexualität frei ausleben sollten. Wie kann man als Elternteil Mädchen dabei helfen, ihrem Körper gegenüber positiv eingestellt zu sein?

„Sagt nicht ,Hand aus der Hose’ zu euren Töchtern. Ich finde es wahnsinnig wichtig, dass Mädchen sich selbst erkunden und herausfinden, was sie mögen. Bei Jungs passiert das oft schon automatisch. In einer Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf wurde zum Beispiel nachgewiesen, dass Jungs im Teenageralter viel mehr masturbieren als Mädchen. Und dass Mädchen ihre ersten sexuellen Erfahrungen meist mit Jungs machen und nicht mit sich selbst – während bei Jungs das Gegenteil der Fall ist. Ich würde meine Töchter zwar nicht fragen, ob sie nicht mal ein bisschen maturbieren wollen (lacht). Aber ich finde es wichtig, ihnen ein positives Gefühl gegenüber ihrer Sexualität und ihrem Körper zu vermitteln. Als ich in die Pubertät kam, fühlte ich mich von all den körperlichen Veränderungen total überfordert. Meine älteste Tochter erlebt das alles ganz anders – bewusst, freudig, neugierig. Ich glaube, ihre Generation wird es sehr viel besser haben als wir.“

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