Carola Rackete, die Kapitänin der Sea-Watch 3, wurde verhaftet, weil sie mit 40 gerettete Menschen unerlaubt in den Hafen von Lampedusa eingelaufen ist. Warum muss eine einzelne Person die Verantwortung übernehmen, die eigentliche die europäische Politik tragen sollte? Das fragt sich Helen Hahne heute in ihrer Politik-Kolumne „Ist das euer Ernst?“.
Menschen vor dem sicheren Tot zu retten, soll ein Verbrechen sein?
Seenotrettung ist kein Verbrechen, sondern eine Pflicht. Doch wieder einmal wurde dieser Grundsatz in Frage gestellt: In der Nacht vom 28. auf den 29. Juni wurde die deutsche Kapitänin Carola Rackete, die das private Seenotrettungsschiff Sea-Watch 3 steuerte, auf Lampedusa verhaftet, weil sie mit dem Schiff und 40 geretteten Menschen an Bord, jedoch ohne offizielle Erlaubnis, im Hafen der italienischen Insel anlegte.
Zuvor wartete das Schiff mehrere Tage an der Seegrenze, bevor sich die Kapitänin Mitte vergangener Woche gezwungen sah Kurs auf den Hafen von Lampedusa zu nehmen. 53 Menschen hatte die Crew der Sea-Watch am 12. Juni vor dem Ertrinken im Mittelmeer gerettet. 13 von ihnen wurden aus medizinischen Gründen früher auf europäisches Festland gebracht. Carola Rackete stand vor der schwierigen Entscheidung, wie lange sie die Sicherheit der Menschen auf dem Schiff garantieren kann. Am Wochenende hielt sie die Situation für nicht länger tragbar. Über zwei Wochen harrten die flüchtenden Menschen, die in Libyen Folter erlebt hatten und teilweise schwer traumatisiert sind, zu diesem Zeitpunkt auf dem Schiff aus – ohne zu wissen, ob und wann sie tatsächlich in europäische Sicherheit gebracht werden würden.
Libyen ist kein sicherer Ort
Die Entscheidung der Kapitänin war also kein Protest gegen die europäische Flüchtlingspolitik, wie es Ulrich Ladurner bei ZEIT ONLINE deutete, sondern schlicht unausweichlich, weil der Schutz der Menschen nach Einschätzung Carola Racketes an Bord nicht mehr gesichert war. Lebenretten ist im Gegensatz zu dem, was der Kommentar suggeriert, nämlich kein taktisches Manöver, sondern eine Handlung, die keinen Spielraum für „Oder soll man es lassen”-Debatten in auflagestarken Medien einräumt.
Und die Pflicht zur Seenotrettung, die im internationalen Seerecht festgeschrieben ist, umfasst eben auch, so schreibt es die Juristin und Professorin Dana Schmalz auf dem Verfassungsblog, die Pflicht, die Geretteten an einen Ort zu bringen, an dem die Sicherheit der geretteten Personen nicht gefährdet wird. Sie nach Libyen zurückzubringen, statt nach Italien, war deshalb keine Option. Libyen ist kein sicherer Ort. Gerade erst hat der Chef der internationalen Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ die Zustände in libyschen Gefangenenlagern (dorthin kommen die Menschen, die zurück nach Libyen gebracht werden) als einen „Albtraum” bezeichnet und gefordert, dass Menschen nicht nach Libyen zurückgebracht, sondern von dort gerettet werden sollten.
Wir müssen über Verantwortung reden: Wie absurd ist es, dass eine einzelne Frau die Verantwortung übernehmen muss, die eigentlich die Europäische Union tragen sollte? Denn nichts anderes hat Carola Rackete getan. In Deutschland diskutieren wir dennoch seit Tagen schon wieder, ob Seenotrettung ein Verbrechen ist, anstatt das europäische Recht endlich umzusetzen und politische Verantwortung zu übernehmen. Das Problem lässt sich nämlich nicht einfach nach Italien abschieben. Auch, wenn es wichtig ist, dass Politiker*innen wie Außenminister Heiko Maas (SPD) oder Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU), die sofortige Freilassung der Kapitänin fordern, braucht es eine europäische Aufnahmepolitik, die sich solidarisch zeigt und die geretteten Menschen nicht weiter nur zur Aufgabe der Länder an den Rändern der EU macht. Es braucht eine Politik, die schlicht verhindert, dass das Mittelmeer weiterhin ein Massengrab bleibt.
Die Pflicht, solidarisch zu sein
Und solch eine politische Solidarität gibt es ja bereits. Nicht von der Bundesregierung, aber von vielen sogenannten „Solidarischen Städten”, die sich bereit erklärt haben, geflüchtete Menschen bei sich aufzunehmen. Es wäre an der Zeit, diese Solidarität auch hierzulande möglich zu machen.
Verantwortung sollte auch das neue EU-Parlament übernehmen, wenn es am 2. Juli seine Arbeit aufnimmt. Gerade die Grünen-Politiker*innen, die in ihrem EU-Wahlkampf für ein offenes und solidarisches Europa geworben haben, sollten nun klar Stellung beziehen, wenn sie für diese Worte wirklich einstehen und nicht nur eine Umweltpartei sein wollen.
Die Diskussion: „Seenotrettung – ja oder nein?” ist eine, die man nur führen kann, wenn man die Privilegien eines europäischen Passes hat. Carola Rackete hat erkannt, welche Privilegien ihre Herkunft und ihr Pass ihr geschenkt haben und war bereit diese zu nutzen, um Verantwortung zu übernehmen. Im Interview mit Spiegel Online sagte sie: „Wenn uns die Gerichte nicht freisprechen, dann die Geschichtsbücher”. Der Rechtsruck in Europa, der sich auch in der Kriminalisierung der SeaWatch 3 durch den italienischen Innenminister Matteo Salvini zeigt, stellt uns vor die Frage, was in Geschichtsbücher in 30 Jahren stehen wird. Für die Vergangenheit von morgen sind wir heute verantwortlich.
Darum muss die Politik nun ein Zeichen setzen: gegen das Sterben auf dem Mittelmeer und für eine solidarische europäische Gemeinschaft. Wofür steht die EU sonst? Statt sich einfach selbst an den simpelsten menschlichen Grundwerten zu messen, muss sie die Zivilgesellschaft immer wieder erinnern, dass das die Prämisse für jede verantwortungsvolle Entscheidungen sein muss. Denn während hier schon wieder eine „Oder soll man es lassen”-Debatte geführt wird, fehlt mit der Sea-Watch 3 gerade wieder ein Schiff auf dem Mittelmeer, das die Menschen vor dem Ertrinken rettet, die der EU, so muss man das Nicht-Handeln wohl deuten, erschreckend egal zu sein scheinen.
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