Postpartale Depressionen können jeden treffen. Und sie haben eine Botschaft. Deswegen ist es so wichtig, dass darüber endlich mehr gesprochen wird.
Wie erkennt man postpartale Depressionen?
Ich habe lange überlegt, ob ich diesen Artikel schreiben sollte. Ich bin nämlich einerseits Fachfrau zu dem Thema, war Ärztin in einer Klinik für Psychosomatik und arbeite jetzt fast ausschließlich mit Müttern. Ich könnte aus dem Stegreif einen Fachartikel schreiben mit Zahlen, Daten und Fakten. Aber ich war auch selbst von einer postpartalen Depression betroffen. Und weil es mir ein großes Anliegen ist, dass diese Erkrankung bekannter und dadurch schneller und besser erkannt wird, möchte ich mich hier „outen” und teilen, wie ich selbst erkrankte und es trotz meines beruflichen Hintergrundes lange Zeit nicht einmal bemerkte.
Postpartale Depressionen sind nämlich tückisch. Sie laufen oft nicht so ab, wie man sich eine klassische Depression vorstellt. Es ist nicht so, dass man eines morgens aufwacht und im Kopf nur noch grau ist. Der Beginn ist oft schleichend und auch die klassischen Hauptsymptome der Depression – der Verlust von Freude, Niedergeschlagenheit und Antriebslosigkeit – stehen nicht unbedingt im Vordergrund.
Bei mir war es so, dass immer mehr Dinge als unüberwindliche Hürde erschienen. Mal eben eine Waschmaschine anstellen? Och nee. Meinem Sohn den Schneeanzug anziehen, um nochmal eine Runde rauszugehen? Zu anstrengend. Mir etwas zu essen machen? Hab ja doch keinen Appetit. Mich verabreden? Was für ein Aufwand. Ich schob erstmal alles auf den Schlafmangel. Dabei schlief mein Sohn damals noch ganz fantastisch. Nur ich lag jede Nacht grübelnd und angespannt wach.
Schleichend wird es schlimmer
Nach und nach entwickelte ich völlig übertriebene Ängste. Ich bin sonst die Mutter, die ihre Kinder völlig entspannt auf Tische, Stühle und Gerüste klettern lassen kann und ihnen vieles zutraut, was andere manchmal völlig aus der Fassung bringt. Aber während der Depression wurden auf einmal Themen wie „plötzlicher Kindestod” übermächtig, obwohl ich mir immer wieder die Statistiken runterbetete und die Tatsache, dass nicht ein einziger Risikofaktor auf uns zutraf. Ich hatte Panik mit meinem Sohn auf dem Arm Treppen rauf- und runterzugehen und kontrollierte immer wieder die Balkontür. Ich hatte ständig Angst, dass ich ihm mit meiner Angst schaden könnte.
Ich hätte es merken müssen. All das – die Schlaflosigkeit, die Ängste, der Rückzug – ist typisch für postpartale Depressionen. Aber weil es erst ganz allmählich schlimmer wurde, ich mich bei alldem immer noch liebevoll und geduldig um meinen Sohn kümmern konnte, und weil ich immer abwechselnd den Schlafmangel, die Hormonumstellung, meine ohnehin eher introvertierte und zurückgezogene Art, oder die Lebensumstellung an sich dafür verantwortlich machen konnte, bemerkte ich das nicht. Ich war unter sehr schwierigen privaten und beruflichen Umständen schwanger geworden – auch das ist nicht untypisch bei den betroffenen Frauen und hätte mich aufmerksamer machen müssen.
Stattdessen gab ich mir die Schuld für mein „Versagen” und fühlte fast körperlich die Erwartungen einer ganzen Gesellschaft und der Generationen vor mir auf mir lasten. Meine Großmutter hatte neun Kinder und hätte sich nie erlauben können so „durchzuhängen”. Die meisten Mütter, die ich kenne, hätten sich das nie erlauben können. Und ich? Ich hatte alles, ich liebte meinen Sohn über alles und besaß die Frechheit so unglücklich zu sein?
Mein Weg zur Gesundung
Irgendwann habe ich verstanden, dass ich diejenige sein sollte, die das durchbricht. Diejenige, die aufhört, ständig unmenschliche Erwartungen an sich zu stellen und anfängt sich selbst zu bemuttern, um überhaupt eine wirklich gute Mutter sein zu können. Das ist es, in Kurzform, was die Erkrankung mir sagen wollte. Nur wenn ich meine eigenen Bedürfnisse respektiere – und das unabhängig von den Erwartungen anderer, was ich in meiner Situation angeblich zu tun und zu lassen hätte – kann ich überhaupt feinfühlig auf die Bedürfnisse meiner Kinder eingehen. Ich kann ihnen nichts gewähren, was ich mir selbst verweigere. Das ist ein längerer und tiefgreifender Lernprozess mit vielen Rückschlägen, und keiner, den man mal eben im Vorbeigehen erledigt, während man ansonsten zum „business as usual” übergeht. Es ist vielmehr eine Lebensaufgabe, die ich dank meiner Kinder erkennen durfte und an die sie mich fast täglich und hartnäckig erinnern.
Eine gewagte These
Postpartale Depressionen betreffen etwa zehn bis 15 Prozent aller Mütter nach einer Geburt. In abgemilderter Form leiden wahrscheinlich noch viel mehr Mütter darunter. Mir ist dabei wichtig zu betonen, dass nach meiner Beobachtung und Erfahrung – entgegen dem gängingen Klischee – nicht psychisch labile Egoistinnen betroffen sind, die ihre Kinder nicht annehmen können. Oft erkranken gerade die Frauen, die besonders sensibel und berührbar sind, vor allem auch was ausgesprochene, unausgesprochene sowie vollkommen unbewusste Erwartungen angeht. Die, die sich besonders viele Gedanken machen, es besonders gut machen wollen und gewohnheitsmäßig die Bedürfnisse anderer über die eigenen stellen. Die, die bemerken, dass das Mutterwerden einen persönlichen Entwicklungs- und Veränderungsprozess lostritt, den man nicht mal eben wieder verdrängen kann. Es ist eine gewagte These, aber ich behaupte trotzdem: diese Mütter sind damit auch Symptomträgerinnen einer Gesellschaft, die Krisen im Allgemeinen und Krisen einer Mutter im Besonderen nicht als die Chance begreift, die sie sind. Einer Gesellschaft, in der Mütter nicht umsorgt werden, damit sie ihre Kinder umsorgen können, sondern ihnen im Gegenteil immer früher volle Leistungsfähigkeit abverlangt und ihre Arbeitskraft höher schätzt als ihr Seelenheil.
Dieser Artikel ist zuerst auf Melanies Blog erschienen. Wir freuen uns ihn auch hier veröffentlichen zu können.
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