Foto: Omid Armin | Unsplash

„Was würde ich als Mutter tun?“

Hineingeboren werden in eine Welt aus Unfreiheit und Unterdrückung. – Unsere Redaktionsleiterin schreibt in ihrem Voices-Text über die Proteste in Iran aus der Sicht einer Mutter in Deutschland.

Was passiert jetzt im Iran? Ich versuche das meinem 6-jährigen Sohn zu erklären. Aber Kinder hinterfragen alles und möchten das neu zu Erlernende wirklich begreifen, den Sinn des Ganzen vollkommen verstehen. – Es gibt keinen Sinn.

Ich fahre mit dem Rad durch die Nacht. Immer wieder tauchen diese Bilder aus den Nachrichten, von den Social-Media-Plattformen auf und mit ihnen ungeordnete Gedanken: Wie ist das, hineingeboren zu werden in eine Welt aus Unfreiheit und Unterdrückung? Warum ist es hier so still? Menschen aller Schichten, aller Geschlechter, aller Altersgruppen gehen in diesem Moment aufrecht und laut durch die Straßen von Teheran, von Sanandadsch, von Maschhad, von Zahedan – nehmen Folter, Misshandlung, Vergewaltigung und den Tod in Kauf, um gegen das Mullah-Regime zu protestieren.

Ihr Name ist Jîna

Die Proteste ausgelöst hatte der Tod der 22-jährigen Jîna „Mahsa“ Amini, die am 13. September 2022 festgenommen worden war, weil sich ein paar Haarsträhnen unter dem Kopftuch gelöst hatten und sichtbar waren. Drei Tage später starb sie in einem Krankenhaus. Sie wurde von der Sittenpolizeit getötet. Ihr Name ist Jîna – ein kurdischer Name. Er musste dem persischen „Mahsa“ weichen, weil die Behörden keine kurdischen Namen dulden. Jetzt schreien die Demonstrant*innen: „Jin, Jiyan, Azadi”. Es ist eine der ältesten kurdischen Kampfparolen, übersetzt bedeutet sie: „Frau, Leben, Freiheit”. Sie fordern das Ende der islamischen Republik. Sie schneiden sich ihre Haare ab. Sie verbrennen die Kopftücher. Sie tanzen. Sie tanzen im Visier der Sicherheitskräfte. Und hier? – Warum ist es so still? Warum bin ich so still?


„Sie haben Angst vor meinem Haar.
Sie haben Angst vor meiner Stimme.
Sie haben Angst vor meinem Körper.
Ich als Frau kann ein ganzes Regime verängstigen.“

Masih Alinejad, Journalistin, Aktivistin

– Meine Kinder schlafen schnell ein, weil nichts ihre Ruhe stört. Sie schlafen meist durch, weil es nichts gibt, was ihnen Sorgen macht. Sie sind noch klein. Sie besitzen das, was wir „Urvertrauen” nennen. Sie bewegen sich mit einer absoluten Zuversicht in die Menschheit durch ihre kleine Welt. Eine Welt, die ich am Morgen störe, als es aus mir herausplatzt, während im Radio über die letzte Nacht berichtet wird. Mein Sohn fragt: Warum bist du wütend? Ich versuche, ihm zu erklären, was im Iran passiert. Ich zeige ihm das Land auf der Karte, die im Kinderzimmer an der Wand hängt. Ich zeige ihm die Bilder von den Straßen – nicht die blutigen. Es sind Bilder von Frauen, die die Kopftücher abnehmen, die ihre Haare öffentlich abschneiden, die ihre Stimme erheben, die keine Angst zeigen, die nicht müde werden, dagegen anzuschreien, die weiter machen, immer weiter.

Nach einiger Zeit fragt er nach: „Weil sie Frauen sind? Wie meinst du das? Ich verstehe nicht, was du sagst.” Er ist sechs Jahre alt und er wartet auf eine Antwort. Für dieses sechsjährige Kind macht das keinen Sinn. Es macht keinen Sinn. – „Weil sie Frauen sind?” – Und ich weiß nicht, wie ich erklären soll, warum die Hälfte der Bevölkerung unterdrückt wird. Dass im Iran gerade so viele Eltern nicht wissen, wo ihre Töchter, wo ihre Kinder sind, ob ihr Leben gerade zerstört wird, ob sie überhaupt wieder zurückkommen. Und trotz allem gehen sie auf die Straße – trotz allem. Mit einer Entschlossenheit, die Begriffen wie „Empowerment” oder „Mut” eine ganz neue Kraft und Bedeutung gibt.

Hier stehen deutsche Politiker*innen vor Kameras und loben den Mut der Menschen in Iran. Aber sehen wir wirklich diese Bilder? Sehen wir, wie Sicherheitskräfte Student*innen einkesseln, wie auf offener Straße auf sie geschossen wird? Sehen wir, wie alle, alle Menschen dem Mädchen, das sich, auf einem Stromkasten sitzend, die Haare abschneidet, zujubeln? Sehen wir, wie sich Grundschülerinnen das Kopftuch herunterreißen und im Chor schreien: „Ich bin ,Mahsa‘ Amini!“? Verstehen wir, dass hier mit dem Einsatz von Menschenleben für die Freiheit gekämpft wird?

Was würden wir als Eltern tun?

Ich fahre in der Nacht auf dem Fahrrad durch die Straßen von Berlin und denke über die Gleichzeitigkeit der Ereignisse nach. Über Verantwortung. Über uns alle. Über unsere Haut, die die Außenwelt von der Innenwelt trennt. Etwas betrifft mich nicht unmittelbar, also beteilige ich mich nicht. Die Bewahrung einer kleinen privaten Harmonie.
Aber das Regime kann das Internet noch so sehr drosseln – die Bilder kommen bei uns an. Die Bilder und die Forderungen, die Geschichten der Demonstrant*innen, die in dieser Sekunde mit brutaler Gewalt zurückgedrängt werden. Wir dürfen uns nicht abwenden. Wir müssen hinsehen. Die Politik. Die Menschheit. Die Menschlichkeit. Es betrifft uns alle.

Vor wenigen Wochen gab es ein Instagram-Live mit der Aktivistin, Autorin und Journalistin Düzen Tekkal, der Journalistin und Aktivistin Shahrzad Osterer, der Journalistin und Aktivistin Avin Khodakarim und der Außenministerin Annalena Baerbock, die die Situation nicht nur als Politikerin einordnete, sie fragte sich: „Was würde ich als Mutter tun, wenn meine Tochter abends nicht zurückkommen würde, wenn man seit vier Tagen nicht gehört hat, wo sie ist oder wenn man weiß, sie ist im Gefängnis?” Sie sitze hier also nicht nur als Außenministerin, sondern auch als Mutter, als Frau, die sich nicht vorstellen kann, jetzt selber auf die Straße zu gehen oder das eigene Kind rauszulassen, damit es seine Stimme erhebt. 

„Wenn alle Frauen frei sind, dann sind wir auch frei.“

Sharzad Osterer

„Jîna ,Mahsa’ Amini war Kurdin. Sie war Frau. Sie war Sunnitin. Das war ein intersektionaler Fall durch und durch. Und mir fehlt die Solidarität aus intersektionalen Kreisen. Das geht uns alle etwas an. Wenn alle Frauen frei sind, dann sind wir auch frei”, sagt Shahrzad Osterer

Avin Khodakarim erklärt, dass die Unterdrückung in der islamischen Republik sämtliche Bereiche des Lebens betrifft. Und sie spricht über die wenige Zeit, die den Menschen angesichts der immer brutaler werdenden Gewalt noch bleibt, und erzählt von dem, was ihre Cousine vor Ort kurz vor dem Gespräch zu ihr gesagt hat: „Die Tage hier werden immer schlechter. Uns geht die Luft zum Atmen aus.” 

Vom Regime getötet: über 140 protestierende Menschen, darunter mindestens 23 Kinder

Mindestens 23 Kinder sind bei den andauernden Protesten im Iran rechtswidrig von Sicherheitskräften durch scharfe Munition, Metallkugeln aus nächster Nähe und tödliche Schläge getötet worden (Committee on the Rights of the Child). Insgesamt starben über 140 Demonstrant*innen (Amnesty International). Die Dunkelziffer ist vermutlich weitaus höher. Hunderte Kinder sind zudem verletzt, festgenommen und/oder misshandelt worden, hieß es von Seiten des UN-Kinderrechtskomitees.

An einem Abend im Herbst 2022, wenige Stunden nach dem von Düzen Tekkal moderierten Instagram-Live über die Entwicklungen im Iran, stehe ich am Bett meiner fünfjährigen Tochter. Sie ist gerade eingeschlafen –


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