Foto: Ana Torres

Mom Guilt 24/7 – Wo ein Wille ist, ist manchmal überhaupt kein Weg

Redaktionsleiterin Anne ist zweifache Mutter und arbeitet Vollzeit – das schlechte Gewissen ist ihr ständiger Begleiter.

Unsere Editorial Lead Anne-Kathrin Heier arbeitet Vollzeit in der Redaktion – und sie ist Mutter zweier kleiner Kinder. Genug Zeit für Familie, Arbeit und soziale Kontakte zu haben ist nahezu unmöglich. Ihr ständiger Begleiter: das schlechte Gewissen.

Es ist ein paar Tage her. Ich komme ganz außer Atem zu Hause an, schließe das Fahrrad ab und schaue hoch zur Wohnung im zweiten Stock. Alle Lichter brennen. Die beiden Kinder, 5 und 6, warten auf mich. Und ich will jetzt auch hoch zu ihnen, aber meine Beine bewegen sich nicht, sie rühren sich einfach nicht vom Fleck.
„Spinnst du? Was stehst du hier rum? Es ist längst dunkel, deine Kinder müssen ins Bett und wollen dich vorher noch mal sehen.“ – Hi, schlechtes Gewissen. Du warst doch vor fünf Minuten erst hier, hast du was vergessen? 

Das Gewissen setzt sich bei mir in den Magen, wenn es wehtun will.

Anne-Kathrin Heier

Ok. Ich bin Mutter zweier Kinder und arbeite Vollzeit. „Hast du sie noch alle?“, schreit schon wieder jemand. Diesmal ist es vielleicht die zu oft zitierte Gesellschaft mit dem dunkelroten Wutgesicht, die sich vor der Rhododendronhecke um meine Kinder sorgt und mich als Rabenmutter beschimpft. Also lege ich noch einen Zahn zu, stehe um 6 auf, arbeite, ziehe die Kinder an, fahre mit dem Rad die fünfzehn Kilometer ins Office und wieder zurück, vom Kinderarzt zum Fußballplatz, von der Kita zur Turnhalle, vergesse eine Waschmaschinenladung und einen Rückruf. – Klingt chaotisch? Nein. Das ist alles perfekt durchorganisiert, fünf oder sieben Tage die Woche. In diesem Rahmen ist das schlechte Gewissen nur wie ein nerviger Nachbar, der ständig etwas will. Wenn es aber über Beruf und Familie hinaus geht, verschwindet es überhaupt nicht mehr. 

Neulich bekam ich eine etwas verwirrende SMS. Da stand: „Von wegen nächste Woche! Wie siehts aus? Lust und Zeit auf ein Wiedersehen?“ Ich scrollte im Verlauf nach oben, die letzte Nachricht war von März 2019, in der ich ihm verspreche, dass wir uns nächste Woche treffen werden. Das Gewissen setzt sich bei mir in den Magen, wenn es wehtun will. Da stach es in dem Moment gewaltig.

Eine Freundin ist oft richtig sauer auf mich. Sie sagt, sie sei mir nicht wichtig genug und wo ein Wille ist, da sei auch ein Weg und wenn sich das mit meiner Unzuverlässigkeit nicht ändere, dann sehe sie keinen Grund mehr für diese Verbindung. Wieder dieses Stechen im Bauch.  

Dann sind da all diese Menschen, denen es ähnlich geht. Die ihre eigenen Lebenswirklichkeiten haben, zum größten Teil vollkommen andere als meine. Die mich nicht zuallererst als Mutter oder arbeitende Mutter definieren. Und wenn wir es schaffen, uns zweimal im Jahr zu sehen, dann ist das viel und endet immer mit einem Aber-bis-zum-nächsten-Mal-darf-nicht-wieder-so-viel-Zeit-vergehen. Tja.

Und schließlich bin da noch ich. Wenn ich mal frei habe (und mich eigentlich um die vergessene Waschmaschinenladung kümmern müsste), laufe ich mit meinem schlechten Gewissen und Kopfhörern die Potsdamer Straße entlang. Ich höre Formidable von Stromae, und für einen Moment wird die schnaubende Gewissensstimme von der Musik erstickt.

Ich bin nicht in erster Linie Mutter, sondern Mensch.

Anne-Kathrin Heier

Alle sprechen immer von der Vereinbarkeit von Arbeit und Familie. Aber da ist noch viel mehr, was nun mal Zeit braucht. Das Gewissen sagt: „Jetzt stell dich nicht so an. Du jammerst hier rum, während deine Kinder oben weinen, weil sie ihre Mutter vermissen?“ Die Gesellschaft vor ihrem Rhododendronbusch sagt: „Gute Mütter sind perfekte Alleskönnerinnen, und wenn nicht, dann sind sie keine guten Mütter.“

Vielleicht sollten wir diese Stimmen viel öfter unter der Musik ersticken. Oder auch einfach mal laut zu unseren Grenzen stehen. Ich bin nicht in erster Linie Mutter, sondern Mensch. Und wo ein Wille ist, ist manchmal überhaupt kein Weg – jedenfalls nicht sofort.

Nehmen wir den Druck raus. Sprechen wir miteinander über all das, was eben nicht funktioniert! Wenn wir verstehen, dass wir nicht die Einzigen sind, die diese dunklen Wolken ständig mit sich herum tragen – ob im Bauch oder im Kopf oder sonst wo – dann kann das ein Anfang sein: der Anfang vom Ende der Mom Guilt. 

Dieser Text erschien erstmals in unserem Voices Newsletter, für den ihr euch hier anmelden könnt. Jede Woche teilt darin eine Stimme aus dem EDITION F-Team ihre ganz persönlichen Gedanken zu den Themen Sex, Vereinbarkeit, Popkultur, Mental Health und Arbeit.

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