Jutta Allmendinger Copyright: Bernhard Ludewig
Jutta Allmendinger Copyright: Bernhard Ludewig

Sorgearbeit fair verteilen. Aber wie, Jutta Allmendinger?

Die gerechte Verteilung von Sorgearbeit ist nach wie vor eine der zentralen Herausforderungen auf dem Weg zu echter Gleichberechtigung. Die Soziologin Prof. Dr. Jutta Allmendinger spricht über die unsichtbare Doppelbelastung von Frauen, warum Väter mehr Verantwortung übernehmen müssen und wie eine Tätigkeitsgesellschaft aussehen könnte, in der Arbeit endlich fair verteilt wird.

Jutta Allmendinger gehört zu den renommiertesten Soziologinnen Deutschlands und ist Expertin für Bildungssoziologie und Arbeitsmarktforschung. Als langjährige Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB, Professorin an der Humboldt Universität Berlin und Mitglied des deutschen Ethikrats hat sie sich intensiv mit Fragen der gesellschaftlichen Gerechtigkeit und Chancengleichheit beschäftigt. Mit ihrem Hintergrund in Soziologie und Sozialpsychologie – unter anderem an der Harvard University – und ihrer langjährigen Tätigkeit in Forschung und Praxis, ist sie eine der führenden Stimmen, wenn es darum geht, wie sich gesellschaftliche Strukturen verändern müssen. Wir sprachen mit Jutta Allmendinger über ein Thema, das sie seit Jahren bewegt: die gerechte Verteilung von Sorgearbeit und was es braucht, um echte Gleichberechtigung im Alltag zu erreichen.

Worüber haben Sie sich zuletzt so richtig geärgert, Frau Allmendinger?  

„Ich ärgere mich immer wieder darüber, dass man primär den Gender Pay Gap, also den Unterschied im Stundenlohn zwischen Männern und Frauen, heranzieht, wenn es um die Ungleichheit zwischen Frauen und Männern geht. Ungleicher Lohn für vergleichbare Arbeit geht gar nicht, klar. Aber wir müssen uns mindestens ebenso mit dem unterschiedlichen Arbeitsvolumen von Männern und Frauen beschäftigen. Teilzeit von Müttern und Vollzeit von Vätern führt zu krassen Unterschieden im Lebenseinkommen und in der Rente.“

Mir schrieb vor kurzem eine Leserin, dass ich als Vollzeit arbeitende Frau mit zwei Kindern in Kauf nehme, dass diese Kinder später eine Therapie machen müssen, weil ich nicht für sie da war. Was würden Sie hier antworten?  

„Ich würde versuchen, mich nicht darüber zu ärgern und mich nicht schlecht zu fühlen. Die Rabenmutter ist noch immer in den westdeutschen Köpfen präsent, es wird noch immer versucht, erwerbstätigen Müttern ein schlechtes Gewissen zu machen. Die Konservierung alter Rollenbilder. Stellen Sie sich einfach vor, Sie wären in Ostdeutschland. Oder in Frankreich. Oder in Schweden. Niemand würde das zu Ihnen sagen. Wichtig: die Forschung gibt keinerlei Hinweise darauf, dass Kinder von Vollzeit erwerbstätigen Müttern als junge Erwachsene psychologische Hilfe brauchen. Auch ihre Lebenszufriedenheit ist nicht geringer als die von Kindern nicht erwerbstätiger Mütter. Eher finden wir das Gegenteil. Sind Mütter schnell wieder erwerbstätig und arbeiten in Berufen, die ihnen ein gutes soziales Umfeld und die Möglichkeit bieten, sich zu entwickeln, kommen sie später viel besser zurecht, im Übrigen auch mit der „Leeren Nest Phase“. Sie machen es ihren Kindern leichter, sich ihren eigenen Lebensentwürfen zu widmen. Für die Entwicklung der Kinder sind Zuwendung, Zuverlässigkeit, Vorhersehbarkeit und Liebe am allerwichtigsten, nicht die permanente physische Anwesenheit der Mutter.“

Wie stehen Sie zu dem Begriff der Vereinbarkeit?  

„Der Begriff der Vereinbarkeit wird noch immer zu sehr auf Mütter bezogen. Wir müssen ihn breiter fassen und auch Väter miteinbeziehen. Warum kann man bei den Audits von „Beruf und Familie“ nicht systematisch erheben, wie lange Mütter und Väter in Elternzeit sind? Arbeitsorganisationen könnten diese Zahlen dann veröffentlichen und so transparent machen, welcher Betrieb es auch Vätern erleichtert, in Elternzeit zu gehen. Eine Väterpolitik fände ich in Betrieben ganz wichtig. Es muss klar werden, dass nicht nur Mütter diese Verantwortung übernehmen können und sollen.“

Wir wissen es: Das Narrativ von der perfekten Mutter ist ein Mythos. Warum hält es sich dennoch so stark in der Gesellschaft und in unseren Köpfen? Wie kommen wir da raus?  

„Unsere Kultur und unsere Strukturen sind nicht darauf ausgerichtet, dass Eltern werden eine gemeinsame Sache ist. Noch immer trennen wir anfallende Aufgaben in Frauen – oder Männertätigkeiten und erzeugen so Lebens- und Erwerbsverläufe die sich zwischen Müttern und Vätern sehr unterscheiden. Mit dieser geschlechtsspezifischen Zuweisung von Frauen- und Männerarbeiten geht leider auch einher, dass die „Frauenarbeiten“ wie Erziehen, Pflegen, Reinigen, den Haushalt und die Freundschaften organisieren, etc. anstrengende, zeit- und energieraubende Tätigkeiten sind, die unbezahlt bleiben, während die meisten Tätigkeiten der Männer auf dem ‚Markt‘ erbracht werden und vergütet werden. Die geschlechtsspezifische Trennung der Tätigkeiten führt also zu finanziellen Abhängigkeiten, was dann besonders schmerzhaft zu Tage tritt, wenn Ehen scheitern und Frauen nach wenigen Jahren feststellen müssen, dass sie finanziell auf sich allein gestellt sind. Gegen diesen Teufelskreis hilft nur, dass sich Mütter und Väter von Beginn an alle Tätigkeiten teilen, Väter also mehr für die Kinder tun und sich Mütter mehr auf dem Arbeitsmarkt zeigen. Das mag hart sein, da man sich Geschlechterrollen widersetzen muss und auch mit Strukturen zu leben hat, die nicht sehr günstig sind: fehlenden Kitas, Ganztagsschulen, dem Ehegattensplitting, Minijobs, der kostenlosen Mitversicherung.“

Also wird Mutterschaft benutzt, um patriarchale Strukturen aufrechtzuerhalten?  

„Sie wurde zunächst benutzt, um diese patriarchalen Strukturen überhaupt aufzubauen und wird jetzt eingesetzt, um diese nicht zu brechen. Wenn man heute jungen Männern begegnet, würde man ihnen kaum mehr pauschal unterstellen, patriarchal geprägt zu sein. Die Forschung zeigt eindeutig, dass die meisten jungen Männer eine partnerschaftliche Aufgabenteilung anstreben. Doch daraus wird selten etwas. Halb zieht man Männer zurück in traditionelle Rollen, halb geben sie sich diesen hin. Ähnliches kann man über junge Frauen sagen. Das zeigt sich besonders deutlich im Ost-West-Vergleich: Obwohl sich seit der Wiedervereinigung die Strukturen in Ost und West entsprechen, sind die Geschlechternormen nach wie vor sehr unterschiedlich.“

Wir hören bei EDITION F auf unterschiedlichen Kanälen insbesondere von Männern sehr oft diesen Einwand: Ihr habt doch bereits alles, wo gibt es noch Unterschiede? Kurz: Frauen und Männer sind längst gleichberechtigt. Warum möchten das manche Personen so gern glauben und uns davon überzeugen? 

„Dafür gibt es viele Gründe. Vielfach wird gesagt, dass das, was Mütter machen und wie sie leben, dem entspricht, was sie wirklich tun wollen. Sie sind zwar formal gleichberechtigt, wollen das aber nicht sein. Dieses Argument finde ich immer schwierig, da wir innerhalb von Strukturen leben, die bestimmte Lebensverläufe nahelegen, andere aber erschweren. Wir können also aus unseren Lebensverläufen nicht einfach schließen, dass wir diese so auch wollen. Viele Frauen passen sich den Gegebenheiten an und jammern auch nicht groß darüber. Wir müssen also alles dafür tun, dass Mütter tatsächlich wählen können. Das ist noch viel Arbeit.

Sodann sehen wir in unserer Forschung, dass Väter die Arbeit von Frauen systematisch unterschätzen und offenbar den Eindruck haben, dass eine Gleichstellung fast erreicht ist. Nehmen wir ein Beispiel: Legt man Männern eine Liste mit den unterschiedlichen Tätigkeiten vor, die in ihrem tagtäglichen Leben zu verrichten sind, und lässt sie schätzen, wer sich wie lange mit der entsprechenden Tätigkeit beschäftigt, so gehen Männer viel häufiger als Frauen davon aus, dass man sich die entsprechende Arbeit fair teilt. Gleichermaßen schätzen Männer den zeitlichen Aufwand zur Erledigung der jeweiligen Tätigkeit niedriger ein als Frauen das tun, sie unterschätzen also den zeitlichen Aufwand von Frauen. Zudem gehen die meisten Männer davon aus, dass man die Tätigkeit auch gemeinsam plant. Frauen dagegen sehen diese ‚mentale‘ Arbeit überwiegend bei sich. Frauen sollten diese Aufgaben also zumindest sichtbarer machen und sie in Anwesenheit der Männer erledigen. Und sie sollten sich bemühen, die Planung und Durchführung von Arbeiten an Männer abzugeben und sie fair zu teilen. Auch wenn es ein Murren und Nachfragen gibt, auch wenn es dann vielleicht länger dauert oder das Ergebnis anders ausfällt.

Ein dritter Grund liegt darin, dass einige Männer den Einsatz und die Wirkung von Quoten überschätzen und darauf hinweisen, dass eigentlich Männer diskriminiert werden.“

Sie sagten einmal: „Wir müssen den Weg von einer Erwerbstätigkeitsgesellschaft zu einer Tätigkeitsgesellschaft suchen.“ Würden Sie diesen Satz für unsere Leserinnen erläutern?  

„Wir sprechen von einer Arbeitsgesellschaft und verengen den Arbeitsbegriff meist sofort auf bezahlte Erwerbstätigkeit. Das sollten wir nicht tun. Denn damit lassen wir die vielen Arbeiten verschwinden, die Frauen tagtäglich tun. Wir müssen also von Tätigkeiten ausgehen, von all dem, was wir wertschöpfend tagtäglich tun. Alles, was gemacht wird, muss auf den Tisch. Und dann sortieren wir. Wir müssen vor allem so sortieren, dass nicht die bezahlten auf einer Seite und die unbezahlten Arbeiten auf der anderen Seite des Tisches liegen. Beide Partnerinnen sollten gleichermaßen alle Tätigkeiten in einem ähnlich hohen Ausmaß erledigen. Oder die Zuständigkeiten gerecht verteilen. Das bringt mich zu einem großen Thema, das mit der Tätigkeitsgesellschaft einhergeht: Wir müssen uns endlich fragen, welchen zeitlichen Raum wir der Erwerbstätigkeit einräumen. Ist die Zielvorstellung jene, dass beide Elternteile Vollzeit erwerbstätig sind? Angesichts der Fülle von Tätigkeiten vermag ich mir das zumindest in Stoßzeiten des Lebensverlaufs, der Familienbildung oder der Pflege kranker Eltern, nicht vorzustellen. Ich sehe hier eher eine 35 Stunden Woche für alle, gerechnet als Durchschnitt über den gesamten Lebensverlauf hinweg. Die restliche Zeit wird dann für andere Tätigkeiten verwendet, Erziehung und Pflege, ehrenamtliches Engagement, Weiterbildung, Selbsthygiene. Interessant ist, dass dieses Modell nicht mit einem geringerem Arbeitsvolumen einhergeht, wahrscheinlich aber mit einer höheren Produktivität.“

Mit Hinblick auf den Gender Care-Gap: Müssen sich erst Strukturen ändern, um die Einstellung unter Vätern bzw. die Einstellung in der Gesellschaft zu ändern? Oder bewirkt der Einstellungswechsel einen Strukturwandel? 

„Das lässt sich am Beispiel der Tätigkeitsgesellschaft schön zeigen. Frauen mussten ja zunächst das Recht erkämpfen, überhaupt erwerbstätig sein zu dürfen. Bis 1957 brauchten Frauen noch die Zustimmung des Mannes, wollten sie erwerbstätig sein. Dann bedurfte es der Durchsetzung des Rechts auf Bildung und Ausbildung jenseits der Geschlechterzugehörigkeit. Auch das ist mittlerweile geschafft. Heute geht es darum, Kinder haben zu können, ohne damit die beruflichen Möglichkeiten zu sehr beschneiden und auf ein Stück eigenes Leben verzichten zu müssen. Bei Vätern ist das meist gegeben, bei Müttern meist nicht. Diese Ungleichheit rückt immer mehr ins Licht und führt mittlerweile dazu, dass viele Frauen das ‚und‘ in Frage stellen und sich entscheiden zwischen Beruf oder Familie. Das In-Frage-stellen von Kindern auf der einen und die Bewegung der TradWifes (traditionelle Hausfrauen) auf der anderen Seite sind hierfür ein Zeichen. Das darf nicht sein. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft müssen darauf reagieren.

Dieser kleine Aufriss zeigt, dass die Frage ob Strukturen zu Kulturen oder Kulturen zu Strukturen führen, unbeantwortet bleiben muss. Sie bedingen sich gegenseitig. Um gesellschaftlichen Fortschritt im Sinne gleicher Optionen für Männer und Frauen zu erzielen, müssen wir breit ansetzen.“

Welchen Wert hat Care-Arbeit denn aktuell in unserer Gesellschaft?  

„Der Wert von Care-Arbeit wird immer dann gesehen, wenn wir alle darauf angewiesen sind. Denken Sie nur an Corona, den Applaus für die Pflegekräfte und wie schnell dieser verklungen ist. Solange die Care-Arbeit Frauenarbeit ist, wird sich daran wenig ändern. Es ist daher wohl auch zu kurz gegriffen, den Wert der Care-Arbeit über das Gehalt steuern zu können oder über die Arbeitszeiten. Klar kann beides besser werden, aber die Reputation erhöht sich erst dann, wenn auch Männer Care-Arbeit leisten.“

Welche Ziele sind mittelfristig realistisch umsetzbar? 

„All das was im Koalitionsvertrag steht, da dieser von den drei Ampelparteien erstellt und unterschrieben wurde. Festgeschrieben sind dort Ansätze einer sehr vernünftigen Väterpolitik: Die Familienstartzeit, also die bezahlte Freistellung der Väter in den ersten beiden Wochen nach der Geburt ihres Kindes. Die Ausweitung der Partnermonate von heute drei auf vier Monate. Darüber hinaus hätte ich mir den Einstieg in den Ausstieg vom Ehegattensplitting gewünscht. Abgeschafft hat man die Lohnsteuerklassen III und V, aber das ändert am Splitting nichts. Auch die sozialversicherungsfreien Minijobs müsste man dringend überdenken. Sie schaden insbesondere Frauen. Dringend auszubauen ist unsere Infrastruktur für Kinder: mehr und bessere Kitas, mit verlässlichen einheitlichen Standards, der entschiedene Ausbau der Ganztagsschulen.
All diese Punkte sind aus einer gleichstellungs- und familienpolitischen Sicht notwendig, für unsere Kinder und deren Bildung sind sie zwingend. Sie bilden auch die Grundlage unserer Demokratie. Die Fähigkeit zur Interaktion, zu Kompromissen, die Ausbildung von Vertrauen und Selbstwertgefühl werden sehr früh im Leben gelegt.“

Die Autorin Sibel Schick hat im Interview mit EDITION F folgenden Satz gesagt: „Ein Feminismus, der kein Problem mit Hierarchien hat und Ungleichheit akzeptiert, macht sich überflüssig.“ – Was ist Feminismus für Sie persönlich?  

„Für mich bedeutet Feminismus, die gleichen Rechte zu haben wie Männer und auch die gleichen Möglichkeiten, diese Rechte einzulösen. Feminismus richtet sich dabei nicht gegen die Männer, Ziel ist ein gewaltfreies gleichberechtigtes hierarchiefreies Miteinander. Der Feminismus gehört allen Frauen und darf nicht begrenzt werden auf Frauen in Führungsetagen. Im Moment geht mir das alles zu sehr in Richtung Hochglanzmagazin und Veranstaltungen für einen kleinen Kreis hoch Privilegierter. Feminismus ist inklusiv in jeder Hinsicht.“

Sie sind am 12. Oktober 2024 Teil des Panels „Bridge the Care Gap – Sorgearbeit fair-teilen“. Mit welcher Erwartung gehen sie in die Diskussion mit Alexandra Zykunov, Sandra Runge, Natascha Sagorski und Sebastian Tigges? 

„Mit der Hoffnung, dass wir uns bei der Beschreibung der Ausgangslage schnell einig sind und somit Zeit haben, sehr konkrete Ziele zu formulieren und Wege, wie diese zu erreichen sind. Mit der Erwartung, dass wir uns zusammentun und gemeinsam werben, dass sich noch in dieser Legislaturperiode etwas verbessern wird. Eine Welle auslösen, den Spirit geben, Vision, Mut und Kraft. Es wird ein aktivierendes Panel werden, für Larmoyanz hat niemand von uns Zeit.“

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