Foto: Inga Haar

Jutta Allmendinger: „Wir erleben eine Spreizung ungleicher Lebensentfaltungschancen“

Die Lasten der Corona-Krise sind ungleich verteilt, vor allem tragen sie erwerbstätige Mütter. Doch es gibt Hoffnung für mehr Geschlechtergerechtigkeit, sagt die Soziologin Jutta Allmendinger. Ein Interview

Sie ist eine der führendsten Wissenschaftlerinnen Deutschlands und erregte im vergangenen Jahr große Aufmerksamkeit durch ihr Statement in einer Talkshow. Professorin Jutta Allmendinger sagte, die Corona-Krise und ihre Auswirkungen auf Mütter würden „eine entsetzliche Retraditionalisierung“ von drei Jahrzehnten bedeuten. 

Studien zeigen, dass erwerbstätige Mütter die Hauptlast der Corona-Krise tragen. Männer arbeiten, Frauen arbeiten auch – und versorgen die Kinder. Männer verdienen, Frauen verdienen auch – aber bloß etwas dazu.

Anhand ihrer eigenen Lebensgeschichte, unterfüttert mit wissenschaftlichen Erkenntnissen, erklärt Jutta Allmendinger in ihrem Buch „Es geht nur gemeinsam!“ die Schieflagen unserer Gesellschaft und wie sie sich in der Krise wie unter einem Brennglas zeigen. Die Leiterin des Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) analysiert, kritisiert – und hat Hoffnung.

EDITION F: Ich habe heute den Tag damit verbracht, zwei Grundschulkinder zu beschulen. Das Interview mit Ihnen kann ich führen, weil die Mutter des einen Kindes beide zu einem Spaziergang abgeholt hat. Frau Allmendinger, was läuft hier eigentlich gerade schief?

Jutta Allmendinger: „Schief läuft, dass wir die Möglichkeiten, die wir haben, nicht nutzen. Möglichkeiten zur Entlastung, insbesondere von Frauen.

EF: Was genau meinen Sie?

Allmendinger: „Um die Folgen der Pandemie zu bewältigen, brauchen wir dringend das, was ich soziale Innovationen nenne. Ein Beispiel: Viele Studierende haben ihre Nebenjobs verloren. Wieso nutzen wir nicht dieses Potenzial? Die Studierenden könnten bei der Betreuung von Schulkindern helfen, entweder beim digitalen Unterricht oder bei Spaziergängen, damit Kinder an die frische Luft kommen. Um Ansteckungen zu vermeiden, könnte man die jetzt verfügbaren Schnelltests nutzen.“

Warum wird diese Idee nicht umgesetzt?

Allmendinger: „Das kann ich ihnen leider nicht sagen. Es gäbe ja noch weitere Ideen. Mein Sohn hat beispielsweise sein Staatsexamen in einem der größten Hotels Berlins geschrieben. Also geht es offenbar, dass man Ballsäle für Prüfungen anmietet – das hätte man vor der Pandemie doch für völlig unmöglich gehalten. Wir haben tausende leerstehende Hotels, in denen man Kinder mit mehr Platz beschulen könnte. Oder in denen man zumindest eine teilweise Entlastung für die Mütter schaffen könnte. Die wäre extrem wichtig, auch für ihre Kinder. Die werden ja gerade alle ein bisschen eigen, wenn sie die ganze Zeit nur zu Hause sind.“

Das kann ich so bestätigen. (lacht) Die Last der Coronakrise liegt vor allem auf den Schultern der Mütter. Es sind Mütter, die ihre Arbeitszeit reduziert haben, Jobs gekündigt, die ihre Kinder betreuen und Homeschooling machen. Dafür haben Sie den Begriff der Retraditionalisierung geprägt.

Allmendinger: „Ja, es zeigt sich deutlich, wo wir gerade in Deutschland stehen. Wir haben eine permanente Nicht-Berücksichtigung familiärer Lebenslagen. So lange man das nicht automatisch mitdenkt, liegen alle Themen rund um das Kind in der Verantwortung der Mütter. Das hat nichts mit Gleichberechtigung zu tun.“

Retraditionalisierung meint ja, dass traditionelle Lebensentwürfe bereits verschwunden waren. Meine These ist hingegen: Sie waren nie ganz verschwunden, sondern treten in der Krise nur wieder stärker hervor.

Allmendinger: „1994 ging mein Sohn in die einzige Kindertagesstätte für Unter-3-Jährige in Bremen. Für 1.800 D-Mark im Monat. Wir sind also auf jeden Fall weitergekommen, was die öffentliche Infrastruktur angeht. Wir sind aber noch immer nicht bei Ganztagsschulen oder Schulen, die bis 16 Uhr geöffnet sind. Wir haben noch immer nicht genügend Kindertagesstätten für Kinder unter drei Jahren. Ja, wir haben Fortschritte gemacht, aber sie sind in der Krise sofort zur Disposition gestellt worden. Unhinterfragt und ohne, dass man versucht, alternative Lösungen zu finden – wie beispielsweise bei den Universitäten durch die Anmietung von Hotels oder für den Arbeitsmarkt durch die wichtigen Kurzarbeitermodelle.“

Mütter sind aktuell mehrheitlich raus aus dem Arbeitsmarkt. Es gibt weniger Beiträge von Wissenschaftlerinnen und von Journalistinnen. Was bedeutet das, für die Medien, für die Wissenschaft, für die Zukunft?

Allmendinger: „Journalismus, in dem Frauen weniger Gehör finden, leidet und wird ärmer. Wissenschaftlicher Fortschritt und Innovation geraten ebenfalls ins Hintertreffen, wenn Wissenschaftlerinnen sich nicht mehr ihrer Arbeit widmen können. Und auf individueller Ebene erleben wir eine Spreizung von ungleichen Lebensentfaltungschancen, wie ich sie schon lange nicht mehr gesehen habe.“ 

Unter #CoronaEltern schreiben seit April 2020 viele Eltern, vor allem Mütter, von ihrer Überforderung bis zum Burnout innerhalb der Krise.

Allmendinger: „Im Frühjahr sprangen bei der Debatte zu meiner Retraditionalisierungsthese einige Journalisten den Vätern bei: Sie würden sich  doch in der Pandemie um ihre Kinder kümmern, mit ihnen auf den Spielplatz gehen. Da hatte ich noch Hoffnung: Immerhin sahen die Väter, dass wir ein Problem haben, sonst hätten sie sich nicht verteidigen wollen. Aber mittlerweile ist es ja noch schlimmer. Es gibt psychologischen Studien, die zeigen, dass Männer psychisch gut durch die Krise kommen, während die Mental Load, also der Stresslevel, bei Frauen extrem gestiegen ist.“ 

Wie sieht das bei Ihnen im Arbeitsumfeld aus?

Allmendinger: „Die Pandemie ist auch eine schwere Zeit für uns am Wissenschaftszentrum. Wir versuchen alles, um die Folgen erträglich zu machen, aber ich habe Forscherinnen vor mir, die die Doppelbelastung nicht mehr aushalten und der Wissenschaft verloren gehen. Darunter auch einige meiner High Potentials. Sie sitzen dann vor mir und versuchen sich zu erklären. Und irgendwie kann ich das nachvollziehen. Aber ich fühle mich auch ohnmächtig in diesen Situationen: Das sind so kluge Frauen, die wir dringend in der Forschung bräuchten.“

Eine Kampagne von Juristinnen fordert aktuell, Elternschaft und die Sorge und Pflege für Angehörige ins Antidiskriminierungsgesetz aufzunehmen. Was halten Sie davon?

Allmendinger: „Davon halte ich viel. Sorgende und pflegende Menschen im Stich zu lassen, ist wirklich ein diskriminierender Akt.“ 

An welchen Punkten kann man feststellen, dass man bei Elternschaft von Diskriminierung sprechen kann?

Allmendinger: „Man sieht das vor allem an der ungleichen Verteilung von Pflegearbeit und Erwerbsarbeit, also von unbezahlter und bezahlter Arbeit, zwischen Männern und Frauen; denn es sind hauptsächlich die Frauen, die Kinderbetreuung und Sorgearbeit übernehmen. Diese Ungleichheit führt zu großen Unterschieden in der finanziellen Absicherung im Alter. Das sind alles harte Zahlen.“

Es braucht also strukturelle Änderungen?

Allmendinger: „Interessant ist, dass Eltern sich oft einig sind, bevor sie ein Kind bekommen, Kinderbetreuung und Haushalt gerecht aufzuteilen. Wenn dann das Kind da ist und wir zwei Jahre später in die Haushalte schauen, hat sich oft alles anders entwickelt: Erwerbsarbeit ist Männersache, die Frauen – oft nur in Teilzeit beschäftigt – kümmern sich um die Kinder. Wenn man es alleine schaffen würde, dass die Paare an ihren selbst gesteckten Zielen festhielten, dann wäre viel gewonnen. Strukturelle Veränderungen, wie beispielsweise eine Ausweitung der Vätermonate, würden Männern helfen, bei ihren Vorsätzen zu bleiben.“

Sie beschreiben in ihrem Buch, wie Sie zur Frauen-Sachverständigen wurden. Und schreiben ebenfalls: Eine Frau in der Wissenschaft kommt an Frauenfragen kaum vorbei.

Allmendinger: „Es war auch für mich eine Überraschung, dass ich dieses Buch schrieb. Denn 2019 beschäftigte ich mich mit ganz anderen Themen. Als Professorin lerne ich, und das ist wunderbar, jedes Semester neue junge Leute kennen. Und jahrelang beobachtete ich bei meinen Studentinnen die Überzeugung, keine Probleme zu haben auf dem Arbeitsmarkt. Eine Frauenquote war für die meisten nicht nur unnötig, sondern undenkbar. Dann kam das Jahr 2020 und ich stellte fest: Auch die jungen Frauen spürten jetzt, dass etwas seit Jahrzehnten schiefläuft. In der Bewegung #Ichwill fanden sich zum ersten Mal junge und ältere Frauen zusammen, die gemeinsam für die Frauenquote kämpften. Wir hatten ein Ziel und haben uns alle dafür eingesetzt. Das hat mich berührt und gibt mir Hoffnung: eine echte Allianz der Frauen! Zusammen wollen wir nun weitere Ziele formulieren und gemeinsam durchsetzen.“

Frauenallianzen sind gut und wichtig. Aber was ist, wenn sie nicht reichen?

Allmendinger: „Das werden wir sehen. Ich hätte jedenfalls hoch gewettet, dass sich beispielsweise Markus Söder nicht für die Quote ausspricht. Wir sehen: Frauen stellen die Mehrheit der Wahlbevölkerung – und wenn sie sich zusammenschließen, dann entsteht eine politische Macht, die man nicht unterschätzen sollte.“

Wenn Sie direkt morgen drei politische Weichen stellen könnten: Welche wären das?

Allmendinger: „Die erst Weiche beträfe das Steuersystem: Geringfügige Beschäftigung, Ehegattensplitting und kostenlose Mitversicherung würde ich abschaffen und durch ein Familiensplitting ersetzen, das sich an Kindern ausrichtet. Als zweite Weiche würde ich starke Anreize für Männer setzen, ihre Erwerbsarbeit für die Kinderbetreuung zu unterbrechen. Hinzu kämen, drittens, Forderungen an die Tarifpartner: eine bessere Vergütung von ,systemrelevanten Tätigkeiten‘ und eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung auf – über das gesamte Berufsleben gerechnet – durchschnittlich 32 Stunden pro Woche. Dadurch würden wir die schräge Verteilung von unbezahlter und bezahlter Arbeit zwischen Männern und Frauen aufbrechen.“

Wenn wir optimistisch sind und uns eine geschlechtergerechte Welt vorstellen – mit welchen Themen wollen Sie sich dann beschäftigen?

Allmendinger: „Ein wichtiges Thema ist für mich das, was ich Wohnungsarmut nenne: die ungleiche Verteilung von Wohnraum. Ich beschäftige mich deshalb aktuell mit der Frage, wie wir das Wohnen der Zukunft gut und gerecht gestalten können. Dieses Feld sehe ich auch durchaus mit Sorge, die durch die Pandemie nochmal verstärkt wurde. Denn wir wissen, dass die Gewalt in Familien zugenommen hat, vor allem dort, wo Menschen in beengten Wohnverhältnissen leben müssen. Durch die Pandemie und ihre Distanzregeln ziehen wir uns in Kleingruppen zurück. Dadurch verlieren wir den Kontakt, das Vertrauen zu anderen Gruppen, zu dem großen Wir. Unsere Gesellschaft braucht aber dieses Vertrauen, damit trennende Stereotypisierungen gar nicht erst aufkommen.“

Frau Allmendinger, vielen Dank für das Gespräch.

Jutta Allmendinger, geboren 1956, studierte an der Universität Mannheim, der University of Wisconsin und wurde an der Harvard University promoviert. Von 1999 bis 2002 war sie als erste Frau Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Seit 2007 ist sie Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB).

„Es geht nur gemeinsam! – Wie wir endlich Geschlechtergerechtigkeit erreichen” von Jutta Allmendinger, 96 Seiten, Ullstein Buchverlage.

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