Angeblich tobt gerade der langweiligste Wahlkampf aller Zeiten. Aber ist das wirklich so? Mit dieser Frage beschäftigt sich unsere Volontärin Helen diese Woche in ihrer Kolumne „Ist das euer Ernst?”.
Der langweiligste Wahlkampf aller Zeiten?
So richtig glaubt gerade keiner mehr daran, dass in diesem Wahlkampf noch etwas Spannendes passiert. Das Youtuber-Interview der Kanzlerin hat man schon fast wieder vergessen, beim Late-Night-Speeddating alias „Überzeugt uns” der Öffentlich-Rechtlichen sind irgendwann fast alle (inklusive Gauland?) eingeschlafen und die Sommerinterviews zeigten einen wütenden Martin Schulz und eine Angela Merkel, die gar kein Bedürfnis hat, zurückzuschlagen. Klingt tatsächlich alles ziemlich langweilig, aber ist der Wahlkampf wirklich so irrelevant?
Nein, er findet nur nicht unbedingt in TV-Duellen statt, sondern viel mehr in politischen Entscheidungen, die in den letzten Wochen vor der Wahl gefällt werden. Und da wird es spannend. Anstatt gefühlt wochenlang den Fall Jens Spahn gegen Hipster und die Abschaffung der deutschen Sprache zu diskutieren (auch das ist übrigens Wahlkampf, denn während in der Blase der deutschen Großstädte alle damit beschäftigt sind, witzige Memes dazu zu entwerfen, ist Jens Spahn die Aufmerksamkeit sicher – und irgendwo in Deutschland freuen sich eben doch Menschen, „dass es endlich mal jemand sagt”.), weil der Wahlkampf ja sonst nichts hergibt, sollten wir uns die politischen Forderungen, Entscheidungen und Reaktionen der letzten Wochen sehr genau ansehen.
Wahlkampf sieht nicht immer wie Wahlkampf aus
Das Verbot von linksunten.Indymedia, die harten Strafen gegen G20-Protestierende (oder die, die bei den eigentlichen Protesten schon nur noch aus der Untersuchungshaft zugesehen haben), das Gipfeltreffen zur Flüchtlingspolitik in Paris, Gaulands traurige, aber erfolgreiche Versuche sich mit der Forderung nach der „Entsorgung” einer Politikerin seinen Stammplatz in den politischen Talkshows noch vergolden zu lassen, all das ist Wahlkampf.
Mit dem Verbot der linken Internet-Plattform Indymedia hat Thomas de Maizière nicht etwa geltendes Recht durchgesetzt, denn ob das Verbot, das auf einem angeblichen Verstoß gegen das Vereinsgesetz beruht, rechtmäßig ist, werden Verwaltungsgerichte prüfen müssen. Bis das passiert ist, ist die Wahl aber längst vorbei. Das Zeichen, dass die Bundesregierung hart gegen Linksradikale vorgeht, kommt aber noch rechtzeitig vor der Wahl. Damit geht der Innenminister, der beim Grundgesetz ja gerne mal ein Auge zuzudrücken scheint, wenn das höhere Ziel hartes Durchgreifen heißt, klar auf Stimmenfang.
Und auch die ersten Urteile gegen G20-Protestierende, die noch vor den eigentlichen Ausschreitungen in Hamburg festgenommen wurden, sind in ihrer Härte genau das, was Politiker wie Olaf Scholz im Vorfeld gefordert haben. Wenn sich dann zum Beispiel Thomas Oppermann (SPD) mit einem Urteil brüstet, das weit über das von der Staatsanwaltschaft geforderte Maß hinausgeht, dann ist auch das Wahlkampf. Dass wir gleichzeitig in einem Land leben, in dem harte Urteile gegen bereits vorbestrafte Neonazis, die einem Kameramann den Schädel brechen, anscheinend kein gutes Wahlkampfthema wären, ist die traurige Ergänzung dazu.
„Wir lösen das Problem mit den Flüchtlingen”
Wenn Merkel beim Migrationsgipfel in Paris gemeinsam mit dem französischen Präsidenten weitere Maßnahmen zur Externalisierung der europäischen Außengrenze beschließt und damit das Leid der Geflüchteten entspannt aus Europa wegschiebt, dann ist auch das Wahlkampf. Wenn diese Kanzlerin gleichzeitig lieber auf der Gamescom abhängt, als zur Gedenkveranstaltung zum 25. Jahrestag der Pogrome von Rostock-Lichtenhagen zu fahren, ist auch das eine klare Wahlkampfbotschaft. Auf so einer Computermesse kann man ja auch viel nettere Bilder machen als bei einer Gedenkveranstaltung, die uns daran erinnert, dass Rassismus tötet und dass die Ursprünge dieses gewaltbereiten Rassismus mitten in einer rassistischen Gesellschaft liegen, dessen traurige Auswüchse im Wahljahr durch das Ende des NSU-Prozess einmal mehr deutlich geworden sind. Fotos, die symbolisch dafür stehen, dass diese ganze Internetsache für die CDU ja gar kein Neuland mehr ist, machen sich da einfach besser.
Wahlkampf ist aber auch, Themen auszusparen: Zum Beispiel die Tatsache, dass die Anzahl an armen Menschen in Deutschland immer weiter steigt. Wenn man das thematisieren würde, würde der CDU-Slogan: „Für ein Land, in dem wir gut und gerne leben” aber ja auch gar nicht mehr so gut passen, Mist. Und dann müsste man ja auch die Debatte führen, ob das „Sozial” im Namen der SPD in den letzten Jahren überhaupt noch Berechtigung hat. Oh, das könnte wirklich unangenehm werden.
Hier kommt dann glücklicherweise auch noch einmal Jens Spahn ins Spiel, denn, wenn man sich unbedingt intensiv mit ihm beschäftigen will, dann vielleicht lieber mit seiner Einstellung zu Hebammen und Geburten. Im Gegensatz zur Degradierung der Berliner Hipster-Szene tun sich dort nämlich tatsächlich gesellschaftlich relevante Abgründe auf. Lasst uns also lieber darüber sprechen, dass Jens Spahn die Politik nicht in der Verantwortung für die Garantie einer flächendeckenden Geburtshilfe sieht. Denn auch das ist ein Thema, das im Wahlkampf dringend stattfinden sollte.
Langeweile zu empfinden ist ein Privileg
Die Haltung, den Wahlkampf langweilig zu finden, ist wie so vieles in diesem Land ein Privileg derer, die eine Externalisierung der Außengrenzen nach Afrika, die restriktive Maßnahmen gegen Linke und die Akzeptanz rechter Gewalt, daraus resultierender Rassismus, die steigenden Umfragewerte der AfD und Sozialpolitik dieses Landes nicht wirklich betreffen. Ja, für diese Menschen ist der Wahlkampf vielleicht zum Gähnen langweilig, für alle anderen steht aber gerade ganz schön viel auf dem Spiel. Und ihnen sind wir es schuldig, dass wir diesen Wahlkampf ernst nehmen.
Titelbild: Flickr | Erlebnis Europa | CC0 1.0
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