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NSU und Themar: Wir müssen endlich etwas gegen den Rechtsruck in Deutschland tun

Deutschland im Juli 2017: Der NSU-Prozess geht zu Ende, in Themar feiern mindestens 6.000 Neonazis bei „Rock gegen Überfremdung”. Wie blind ist Deutschland auf dem rechten Auge, fragt sich Helen diese Woche in ihrer Politikkolumne.

Auch Nazis dürfen tanzen?

Circa 500 bis 1.000 Rechtsradikale kamen am vergangenen Wochenende erneut in Themar, einer kleinen 3.000-Einwohner-Stadt in Thüringen, für ein Konzert mit dem Titel „Rock für Identität” zusammen. Dass es nur „so wenige” waren gilt als Erfolg. Zwei Wochen vorher kamen schließlich auf der gleichen Wiese, in der gleichen Stadt mindestens 6.000 Neonazis aus ganz Europa für „Rock gegen Überfremdung” zusammen. Beide Male konnte die rechtsradikale Szene munter ihre menschenverachtende und verfassungsfeindliche Gesinnung zur Schau tragen. Da marschierte in romantischer Eintracht ein Pärchen in Partner-Shirts über die Wiese: er mit dem Namen „Adolf” und sie mit „Eva” auf dem Rücken. Tattoos mit verfassungsfeindlichen Symbolen wurden bei der Kontrolle durch die Polizei noch überklebt, der Hitlergruß wurde auf dem Gelände am 15. Juli dann aber ausreichend und kollektiv zur Schau gestellt.

Während also ganz Deutschland nach G20 über die Gefahr von Linksextremisten diskutiert und die Rote Flora in Hamburg sich auf eine Razzia der Polizei einstellen muss, können Neonazis, geschützt durch das Versammlungsrecht, in Thüringen die gesamte deutsche Szene der Neonazis versammeln – und dabei auch noch jede Menge Geld einsammeln.

Die Linke-Politikerin Katharina König, die als parlamentarische Beobachterin bei beiden Veranstaltungen in Themar vor Ort war, beschreibt die Veranstaltung am 15. Juli in einem Interview mit Spiegel Online als die heftigste und massivste Zusammenkunft von Neonazis, die sie in den letzten 25 Jahren erlebt hat. Nach ihrer Einschätzung gefragt, ob die Neonaziszene in Deutschland gefährlich ist, antwortet Katharina König im selben Interview: „Ja, die Neonazi-Szene in Deutschland, so wie sie aktuell besteht, ist gefährlich und sie ist bereit Gewalt anzuwenden, das sehen wir ja auch an den Übergriffen auf die Unterkünfte von Geflüchteten. Und was es noch gefährlicher macht, ist der zunehmende Rechtsruck innerhalb der Gesellschaft.” Und genau deshalb müssen wir über Themar, über den NSU, über rechtsradikale Gewalt und den Zustand unserer Gesellschaft sprechen.

Neonazis sind selbstbewusst – und haben allen Grund dazu

In Themar tragen Rechtsradikale menschenverachtende, NS-verherrlichende und größtenteils verbotene Symbole selbstbewusst zur Schau. Sie scheinen nicht das Gefühl zu haben, dass sie sich in irgendeiner Weise verstecken müssen. Einer der Hauptorganisatoren der beiden Konzerte, Tommy Frenck, trägt in einem Interview mit der muslimischen Journalistin Nemi El-Hassan für Jäger und Sammler ein T-Shirt mit der Aufschrift: „Afrika Korps” und auf seinem Hals lässt sich der obere Teil eines Tattoos erkennen: „Aryan”, der englische Begriff für „Arier“. Keine Scham, kein versuchtes Verstecken nationalsozialistischer Symbolik. Die rechte Szene in Deutschland ist selbstbewusst – und sie hat ja auch leider allen Grund dazu.

Was das für die Politik und die Gesellschaft bedeuten kann, lässt sich gut an den Asylrechtsverschärfungen der frühen 1990er Jahre erkennen. Damals führten unter anderem die rechtsradikalen Pogrome in Hoyerswerda und Rostock Lichtenhagen nicht etwa zu einem stärkeren Vorgehen gegen rechte Gewalttaten, sondern zu einer Politik gegen Menschen, die in Deutschland Schutz suchen. In Hoyerswerda sah die Polizei erst untätig zu, während die Bevölkerung wegschaute oder sogar applaudierte und mitmachte, um die bedrohten Asylbewerber nach drei Tagen aus der Stadt zu bringen und damit den Nazis die Möglichkeit gaben, Hoyerswerda als „erste ausländerfreie Stadt” zu feiern. Und wie reagierte die Politik? Die beschloss am 26. Mail 1993 den sogenannten „Asylkompromiss”, der das Asylrecht stark einschränkte. Nur drei Tage später starben in Solingen bei einem rechtsextremen Mordanschlag Gürsün İnce, Hatice Genç, Gülüstan Öztürk, Hülya Genç und Saime Genç.

Die Reaktion der Politik und der Applaus beziehungsweise das Wegsehen großer Teile unserer Gesellschaft haben die Neonazi-Szene in Deutschland selbstbewusst gemacht. Wohin dieses Selbstbewusstsein führen kann, zeigt der NSU auf schmerzliche Weise. Denn auch Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe entstammen dieser selbstbewussten Generation von Neo-Nazis. Und zeigen: jahrelang mit rechtsradikalen Motiven zu morden – kein Problem in Deutschland.

Das Ende des NSU-Prozesses, das Ende rechter Gewalt?

Der NSU-Prozess gegen Beate Zschäpe ist diese Woche in die Sommerpause gegangen. Und wird voraussichtlich im September endlich abgeschlossen. Endlich, weil die Belastung für die Angehörigen der Opfer während eines so langen und oft so frustrierenden Prozessverlaufs schwer zu ertragen war und ist. Und trotzdem birgt das Prozessende auch eine große Gefahr. Für die Bundesanwälte steht nämlich fest, Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe haben bis auf ihre drei Mitangeklagten alleine agiert. Ein rechtsradikales Unterstützernetz gäbe es nicht.

Kann also, wenn der Fall abgeschlossen ist, auch die Akte NSU geschlossen werden? Diese Annahme ist ein Hohn für die Nebenkläger und die Angehörigen und Opfer. So viele Beweise sprechen dagegen. Doch die Bundesanwälte scheinen andere Interessen zu vertreten. Neben der Verurteilung der fünf Angeklagten, scheint es vor allem um den Schutz der Sicherheitsbehörden zu gehen. Das zumindest werfen die Anwälte der Nebenklage der Bundesanwaltschaft vor. Für sie ist die These des abgeschotteten Trios klar widerlegt. Und schaut man sich die Beweislage an (wer sich wirklich mit dem Thema beschäftigen will, dem sei NSU Watch wärmstens empfohlen), erscheint es einem tatsächlich absurd und beschämend, dass die Oberstaatsanwältin Anette Gregers den Anwalt der Nebenklage Yavuz Narin im Prozess fragte, an welcher Verschwörungstheorie er nun wieder bastle.

Wir als Gesellschaft müssen Verantwortung übernehmen

Laut der Rosa Luxemburg Stiftung sind 20 bis 30 Prozent der Deutschen ausländerfeindlich und stimmen anderen menschenverachtenden Positionen zu. Können wir es uns in einem Land, in dem der NSU über sieben Jahre lang zehn Menschen ermorden konnte, in dem sich Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte wieder häufen und 6.000 Neonazis an einem sonnigen Samstag im Juli ein Rockkonzert im Zeichen der Gewalt feiern können, wirklich noch erlauben, zu glauben, dass wir kein Rechtsextremismus-Problem haben?

Wann räumen wir endlich beschämt ein, dass unsere Gesellschaft, die viel zu oft im besten Fall wegschaut und im schlechtesten Fall applaudiert, wenn Neonazis gewalttätig werden, ein Rassismus-Problem hat? Wann hören CDU-Politiker in Themar auf, sich zu weigern mit der Antifa gemeinsam gegen Neonazis zu protestieren und erkennen endlich an, welch wichtige Arbeit diese vor allem in Ostdeutschland leistet, an Orten, an die sich der große, bunte, bürgerliche Protest, den man aus Großstädten kennt, eigentlich nie verirrt? Wann beschäftigen sich politische Talkshows am Sonntagabend mit Rechtsrockkonzerten, zu denen mindestens 6.000, größtenteils militante, Neonazis anreisen? Wann lernen wir endlich die Namen der Opfer des NSU?

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