Foto: Petra Bensted – Flickr – CC BY 2.0

Alle wissen es, alle gucken weg: Rechte Gewalt ist in Sachsen Alltag

Elisa ist in Pirna aufgewachsen, nur wenige Kilometer von Heidenau entfernt. Von Nazis terrorisiert zu werden, gehörte für sie als Jugendliche zum Alltag. Aber stört das wirklich jemanden?

 

25/08/2015

Der Ort meiner Kindheit

Heidenau. Das ist wenige Kilometer von meinem Zuhause entfernt, dem Ort, an dem ich aufgewachsen bin und wo mein Elternhaus liegt.

Wie viele andere habe ich mich erschrocken und war wütend, als ich die ersten Bilder und Berichte aus Heidenau gesehen habe. Was dann jedoch folgte und bis eben anhielt, war die absolute Sprachlosigkeit. Sprachlosigkeit, weil mir alles so vertraut vorkommt, weil ich den Ort ja kenne, aber auch, weil die Stimmung, die rassistischen Einstellungen, die Ablehnung von allem Fremden und Neuen sowie die rechten menschenfeindlichen Spannungen in mir vor allem die eigene Erinnerungen an meine Jugend in Pirna wecken. Pirna, eine 40.000 Einwohnerstadt, das „Tor zur Sächsischen Schweiz“, grenzt direkt an Heidenau und ich wette, dass die große Mehrheit der „besorgten Bürger“ aus Pirna kam und kommt.

Ich hatte rechte Mitschüler

Das erste Mal wurde ich bewusst mit „Rechtssein“ in der sechsten oder siebten Klasse konfrontiert. Zwei Klassenkameraden reckten den Arm stolz zum Hitlergruß, aber nur, wenn die Lehrerin nicht hingeschaut hat. Beide verließen das Gymnasium irgendwann und wechselten auf eine der vielen Mittelschulen, von denen es immer hieß, dass sie mit Nazis nur so durchsetzt seien.

Wenn ich meine Freundinnen damals daheim besuchte, war es nicht selten der Fall, dass einer der großen Brüder ein Fascho war. War halt so. Was soll´s? Auf den Dörfern rund um Pirna und Heidenau waren (und sind?) alle Jugendclubs in der Hand von Nazis. Nobody cares.

Ich kann mich an Nächte erinnern, in denen wir (Kids, die keine Nazis waren) einfach an den Elbwiesen abhängen wollten, den billigen Tankstellen-Sangria in der Hand, wir uns aber nicht treffen konnten, ohne von Nazis quer durch die Stadt gejagt zu werden. Normalität in Sachsen.

Es sind nicht nur Parolen

Mir kamen in den vergangenen Tagen auch unzählige Geschichten von Freundinnen und Freunden in den Sinn: ein Freund, dem Nazis wegen seiner „linken Klamotten“ das Bein gebrochen haben; ein anderer Freund, dem – ebenfalls wegen seines erkennbaren Nicht-Rechts-Seins – die Nase gebrochen wurde. Zwei haben ihn festgehalten, ein Dritter hat zugeschlagen. Ein anderer Bekannter, der im Alter von 14 Jahren ebenfalls von Faschos zusammengeprügelt wurde. Eine Freundin, die 2008 ihren Mann nicht mit zum Stadtfest nach Pirna nimmt, da er persischer Abstammung ist und das Stadtfest fest in der Hand von rotzevollen Naziproleten ist. Beim Pirnaer Stadtfest gibt es jedes Jahr ein Zelt, das bis zum Bersten voll mit Thor-Steinar-Nazis ist. Alle wissen es, alle gucken weg.

Mein damaliger Freund wurde mit seinem Auto von Nazis quer über die Landstraßen verfolgt, bis sie ihn irgendwann zum Anhalten nötigten, die Straße versperrten und die Scheibenwischer am Auto seiner Mutter abgebrochen haben. Zum Glück hatten sie keine Baseballschläger dabei.

Ostern 2002 waren wir mit einer größeren Gruppe und unserem amerikanischen Austauschschüler an einem See unter freiem Himmel campen. Irgendwann nachts kam eine Truppe Nazis und hat angefangen uns blöd anzumachen, die Stimmung war ohne Ende aggressiv und hat es nur ein kleiner Funke gefehlt. Ich habe die Polizei gerufen, die erst nach mehreren Anrufen reagiert hat und dann jemanden vorbei schickte. Natürlich waren die Faschos dann schon weg. Und statt sich mit ihnen auseinanderzusetzen, fingen die Polizisten an, unsere Fahrräder zu kontrollieren. Sächsische Zustände.

Wir wurden gejagt

Ende der 90er und Anfang der Nuller Jahre fand in Pirna regelmäßig eine Party statt, die sich mehr oder weniger an alle gerichtet hat, die keine Faschos waren – die Cannabeat. Oft sind wir nachts nach Hause gegangen und haben hinter jeder Ecke Nazis vermutet, teilweise sind die an den Abenden der Party sogar durch den Ort patrouilliert, um gezielt linke Kids zu jagen. The cops did not care. Das war wohlgemerkt, nachdem die SSS (Skinheads Sächsische Schweiz, terroristische Vereinigung) aufgeflogen waren.

Heidenau ist nicht neu

Was am Wochenende in Heidenau passiert ist, ist bei weitem nichts Neues, sondern seit 20 Jahren gelebte sächsische Kleinstadtrealität. Vielleicht war das unterbewusst auch einer meiner Gründe, der Gegend den Rücken zu kehren. Ich habe es einfach nicht mehr ertragen, die schlechte Stimmung, die Abschottung gegen alles Neue und Andere, die Verbitterung über den Fall der Mauer, der Wunsch nach der Rückkehr zur Vergangenheit, der fehlende Wille eine Zukunft zu gestalten. Ich bin gerade auch ratlos darüber, wie man diese Situation nachhaltig verbessern kann, dass auch Sachsen ein Ort wird, wo es zumindest so etwas wie Toleranz gibt – und damit meine ich nicht Toleranz für Intoleranz.

Und damit nicht alle nur von Merkel, Gabriel und den Äußerungen unserer Eliten sprechen, hier ein Link zur Spendenseite der Aktion Zivilcourage, die sich für die Geflüchteten in Heidenau einsetzt und seit mehr als 15 Jahren versucht, dem rechten Spuk Einhalt zu gebieten.

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