Der aktulle Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung ist beschlossen. Was sagt er über den Stand unserer Gesellschaft aus? Damit beschäftigt sich unsere Volontärin Helen heute in Kolumne „Ist das euer Ernst?”.
Deutschland geht es gut?
„Zehn Jahre nach Beginn der Finanz- und Wirtschaftskrise steht Deutschland heute – insbesondere auch im internationalen Vergleich – sehr solide da. Kontinuierliches Wirtschaftswachstum, die höchste Beschäftigtenzahl und die niedrigste Arbeitslosigkeit seit der deutschen Einheit sowie steigende Reallöhne, zuletzt vor allem für Geringverdienende, sind ein weiterer Ausdruck dieser ökonomischen Stabilität.” – So beginnt die Kurzfassung des fünften deutschen Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, der gestern beschlossen wurde. Deutschland geht es also gut, kein Grund zur Sorge – ähm, Moment.
Wie passt das denn zum Beispiel mit dem Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrsverbandes zusammen, der die Armut in Deutschland aktuell auf einem neuen Höchststand von 15,7 Prozent sieht? Wie mit der Situation von Migranten, deren Armutsgefährdung im Jahr 2013 mit 26 Prozent doppelt so hoch lag, wie die von Deutschen ohne Migrationshintergrund? Wie passt er mit der Lebensrealität von Alleinerziehenden zusammen? 9 von 10 alleinerziehenden Mindestlohnempfängern können Miete und Lebenserhaltungskosten von ihrem Lohn nicht zahlen.
Wer Vollzeit zum Mindeslohn arbeitet, dem bleiben im Schnitt nur 339 Euro für Miete und Heizung übrig. Ökonomische Stabilität sieht anders aus. Und auch für kinderlose Mindestlöhner sieht es eigentlich nicht besser aus. Insgesamt gibt es in Deutschland 1,18 Millionen Menschen, die trotz Erwerbstätigkeit Zusatzleistungen beziehen müssen. Was bringt ein Mindestlohn, der nicht zum Leben reicht?
Das Kanzleramt greift ein
Der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung wird allerdings auch noch aus einem anderen Grund kritisiert: Nicht nur, dass er rund eineinhalb Jahre zu spät kommt (eigentlich ist seit 2001 jede Bundesregierung dazu verpflichtet, diesen Bericht in der Mitte ihrer Amtszeit zu veröffentlichen), von der ersten Version zur gerade beschlossenen zweiten Version wurden auf Anregung des Kanzleramtes einige „Schönheitskorrekturen” vorgenommen. Die Ursprungsversion des vom Bundesarbeits- und Sozialministerium durchgeführten Berichtes, enthielt ein ganzes Unterkapitel mit dem Titel: „Einfluss von Interessensvertretungen und Lobbyarbeit”. Im neuen Bericht taucht dieses nicht mehr auf. In der ersten Version gab es zudem einen Absatz, in dem es, laut des Politikwissenschaftlers Christoph Butterwegge hieß, dass hohe Ungleichheit nicht nur den gesellschaftlichen Zusammenhalt, sondern auch das Wirtschaftswachstum negativ beeinflussen könne. Die „Korrektur von Verteilungsergebnissen” sei deshalb eine „wichtige gesellschaftliche Aufgabe”. In den Blick genommen solle deshalb „nicht nur die Verteilung der verfügbaren Haushaltseinkommen, sondern auch die Primärverteilung” werden: „Je geringer die Ungleichheit der Primärverteilung ist, desto weniger muss der Staat kompensierend eingreifen.” In der aktuellen Version steht nun, dass die Folgen großer sozialer Ungleichheit auf das Wirtschaftswachstum empirisch nicht eindeutig belegt seien. Eine Abschwächung des ursprünglichen Ergebnisses, das zur Rechtfertigung zur Untätigkeit gegen die soziale Ungleichheit dienen kann.
Der aktuelle Armuts- und Reichtumsbericht, in dem es übrigens kaum um die Reichen geht, beschreibt an vielen Stellen, dass die Entwicklung einer größeren sozialen Kluft sich in den letzten Jahren deutlich verlangsamt habe und an vielen Stellen sogar zum Stillstand gekommen sei. Laut Christoph Butterwegge entspricht das schlicht nicht der Wahrheit: Die Kluft zwischen arm und reich wird größer. Dank Agenda 2010, Hartz IV und Steuerreformen, die die Reichen weiter begünstigen, mussten die Armen der Gesellschaft immer mehr zurückstecken, während die Gutverdiener weitere Vorteile und langfristige Entlastung erfuhren.
Auf Kosten der Armen
Ja, die Bundesregierung kann einen Rückgang der Arbeitslosigkeit und einen „robusten” Arbeitsmarkt verzeichnen, aber wie konnte das gelingen? Durch Leiharbeit, Teilzeit und Minijobs, durch einen Mindestlohn, der seinem Namen nicht gerecht wird, durch gekürzte Sozialleistungen und eine Gesellschaftsstruktur, die weiter diejenigen benachteiligt, die schon immer benachteiligt waren – und damit diejenigen schützt, die es sich seit Jahrzehnten in ihrem sicheren Netz aus Privilegien bequem machen konnten – und die jetzt Angst haben, diese Privilegien zu verlieren.
Im Umgang mit dem aktuellen Armuts- und Reichtumsbericht lässt sich ein großes Problem unserer Zeit erkennen. Erheblich gekürzt dargestellt wurde nämlich in der verabschiedeten Version auch die Erkenntnis, dass eine Politikänderung deutlich wahrscheinlicher ist, wenn diese von vielen Befragten mit höherem Einkommen unterstützt wird. Und um diese Wähler scheint es der Bundesregierung auch diesjährigen Wahlkampf wieder zu gehen. Aber was wollen diese Wähler?
Die Angst vor dem Abstieg
Lange haben wir darüber diskutiert, dass sich die AfD die Stimmen des kleinen Mannes erkämpft. Gerade aber fand eine Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft heraus, dass AfD-Sympathisanten mit 2.200 Euro netto im Monat besser dastünden als der deutsche Durchschnitt. 25 Prozent von ihnen haben einen hohen Bildungsabschluss. Die AfD wird nicht nur oder hauptsächlich von den „Verlierern” des Systems gewählt, sondern von der gehobenen Mittelschicht, die Angst vor ihrem Privilegienverlust und das Gefühl hat, dass immer nur die anderen Unterstützung erfahren – auf ihre Kosten. Auch das schürt rassistische Ressentiments. Und davor dürfen wir die Augen nicht verschließen. Zur Wahl gehen die Menschen, die etwas zu verlieren haben. Die nachts schweißgebadet aufwachen, weil sie den Traum vom großen Eigenheim, mit mindestens zwei Autos in der Garage und einem Flachbildschirm in jedem Zimmer, in Gefahr sehen. Die Angst haben, dass es für ihre Kinder nicht mehr reichen könnte, aus der sicheren Mittelschicht zu kommen, dass diese in einer wirklich chancengerechten Gesellschaft angehängt werden könnten, von Menschen, die im heutigen System keine Chance haben.
Wer arm ist, geht dagegen oft gar nicht wählen. Warum auch, wenn die Bundesregierung ihre Realität verharmlost und sich ihren Ängsten und Sorgen überhaupt nicht stellt. Die Kluft wird immer größer und das System ist von Ungerechtigkeit geprägt. Der Armuts- und Reichtumsbericht hat versucht das zu beschönigen, aber die Fakten bleiben. Und weil der Bericht so spät beschlossen wurde, muss er Thema im Wahlkampf werden. Bei Hartz IV sind im Monat ein Euro für Bildung vorgesehen. Was für ein besseres Mittel gibt es, um Aufstiegschancen schon in der Kindheit im Keim zu ersticken? Wir sollten uns schämen, in einem Land zu leben, das so ein System unterstützt. Soziale Gerechtigkeit ist aber etwas, das uns alle betrifft, ganz gleich ob Gewinner und Verlieren des heutigen Systems.
Mehr bei EDITION F
Armutsbericht 2017: Die Armut in Deutschland erreicht neuen Höchststand. Weiterlesen
Inge Hannemann: „Ein Leben mit Hartz IV ist entwürdigend.“ Weiterlesen
„Dass viele Kinder aus Arbeiterfamilien nicht studieren, liegt nicht an ihnen selbst“ Weiterlesen