Foto: Alexander Ronsdorf | Unsplash

Gaslighting: Wenn die Wahrnehmung fremdgesteuert wird

„Gaslighting“ – Dahinter soll sich eine Form des psychologischen Missbrauchs verbergen. Ze.tt fragt: Wie genau läuft das ab? Wer sind die Täter, wer die Opfer? Und was lässt sich dagegen tun?

Irgendwann hielt Kathrin es nicht mehr aus. Sie stürmte ins Badezimmer, schloss sich ein und verletzte sich. Die Wunde war tief, aber sie hatte sie verdient. Oder? Sie war schließlich ein furchtbarer Mensch. Immer wieder schaffte die 26-Jährige es, ihren Mitbewohner unfassbar wütend zu machen. Kathrin merkte zwar meist nicht wie, aber er musste recht haben. Sie kannte ihn ja auch anders: als den perfekten Mitbewohner. Liebevoll, zuvorkommend, rücksichtsvoll. Es musste an ihr liegen.

Als sie in ihr Zimmer zurückgehen wollte, um die Wunde zu verarzten, passte er sie ab. „Zeig mal her“, befahl er. Sie schüttelte ihn ab. „Nein, ich will nicht.“ Er blieb beharrlich, also gab sie nach. „Das ist ja so typisch für dich und deinen schlechten Charakter, Kathrin. Dich extra zu verletzen, nur um mir ein schlechtes Gewissen zu machen und mir die Wunde dann auch noch unter die Nase zu reiben!“

Kathrin schaute ihn ungläubig an: „Aber ich wollte sie dir doch gar nicht zeigen!“ Ihr Mitbewohner entgegnete nur: „Blödsinn, das war nicht so.“

Perfide psychologische Manipulation

Ist das wirklich so passiert oder ist meine Erinnerung verzerrt? Bin ich womöglich tatsächlich so, wie mein Gegenüber mich beschreibt, obwohl ich mich selbst ganz anders sehe? Ist dessen Wahrnehmung korrekter als meine? Gaslighting ist vor allem eines: perfide. Es ist eine Form des psychologischen Missbrauchs, bei dem der Täter sein Opfer so lange manipuliert, bis es völlig verunsichert und hilflos ist.

Die Täter verdrehen Sachverhalte, verbreiten Unwahrheiten oder unterstellen Dinge mit dem Ziel, dem Gegenüber die eigene Wahrnehmung abzusprechen. Es fallen dann Sätze wie ‚Was erinnerst du denn da, das war doch ganz anders!‘ oder ‚Jetzt sei nicht so empfindlich, das war doch gar nicht so schlimm‘“, erklärt die Psychologin Dr. Bärbel Wardetzki.

Das Phänomen sei nicht neu, es habe in zwischenmenschlichen Beziehungen schon immer gewirkt. „Beim Gaslighting geht es um Macht und Einflussname“, sagt Wardetzki. „Wenn ich den anderen nach meinen Vorstellungen definieren kann, beherrsche ich ihn gewissermaßen. Das gibt mir ein Gefühl von Stärke und Überlegenheit.“ Demzufolge seien es häufig Leute mit mangelndem Selbstwertgefühl, die Gaslighting ausübten. Aber auch krankhafte Narzissten oder Personen mit einer psychopathischen Persönlichkeitsstörung befänden sich oft unter den Tätern.

Opfer sieht sich als Täter

Kathrin fällt es schwer, über ihre Erfahrung mit Gaslighting zu sprechen. Sie hat Angst, man könne ihr nicht glauben: „Mein Mitbewohner hat diese Seite immer nur bei mir ausgelebt. Wenn ich mich Freunden anvertraut habe, war die Reaktion jedes Mal ‚Das kann ich mir bei dem aber echt nicht vorstellen.‘“

Dr. Bärbel Wardetzki wundert das nicht: „Genau das bezweckt Gaslighting ja, dass das Opfer von anderen als nicht glaubwürdig eingeschätzt wird. Das ist Teil der Missbrauchsdynamik. Genauso wie sich die Opfer oft als Täter fühlen und manchmal sogar noch die Täter entschuldigen.“

Auch Kathrin ging lange Zeit davon aus, dass sie die Schuldige sei. Die Beziehung zu ihrem Mitbewohner war anfangs perfekt, bis er sie immer häufiger wegen Lappalien kritisierte. Zunächst dachte sie sich nichts dabei, das gehörte eben zum WG-Leben dazu, ganz normal. Irgendwann war jedoch der Punkt erreicht, an dem sie scheinbar nichts mehr richtig machen konnte, ohne seinen kompletten Zorn auf sich zu ziehen.

„Er hat mir stundenlange Monologe gehalten, warum ich der schlechteste Mensch der Welt bin, warum das Zusammenleben mit mir eine Katastrophe ist. Er hat mir immer sehr negative Charakterzüge angedichtet. Zum Beispiel, dass ich meinen Freunden nur helfen würde, um mein Ansehen zu steigern, dass ich egoistisch und manipulativ wäre“, erinnert sich Kathrin. Irgendwann habe sie ihm geglaubt. Wahrnehmungsmanipulation completed.

Gaslighting im Elternhaus

Bei Astrid, 29 Jahre, war es ihr Vater, der sie jahrelang psychisch missbraucht hat. „Er hat mir immer unterstellt, mit mir stimme etwas nicht, ich würde nicht richtig ticken. Meine Sicht, meine Art wahrzunehmen, hatten kein Daseinsrecht. Ich brauchte gar nicht erst anfangen zu denken; es war eh von vorn herein alles falsch.“

Astrid beschreibt Gaslighting wie folgt: „Wenn man sich mit so einem Täter in einer Diskussion befindet, kann man am Anfang ganz genau wissen, dass die Sonne gelb ist; am Ende sitzt man trotzdem total zweifelnd da und hat sich davon überzeugen lassen, dass die Sonne blau ist.“

Als Astrid mit 17 Jahren auszog, fühlte sie sich komplett gebrochen. „Ich konnte mich selbst nicht mehr spüren. Ich hatte keine Ahnung mehr, wer ich war.“

Es kann jeden treffen

Gaslighting kann beim Opfer eine psychische Störung auslösen, bestätigt die Psychologin Dr. Bärbel Wardetzki. Als Beispiel nennt sie Depressionen: „Die Opfer verlieren ihre Lebensfreude, weil sie konstant mit Blick auf den Partner leben. Sie müssen wahnsinnig vorsichtig werden, weil ja jederzeit wieder eine Verdrehung passieren kann, durch die sie als dumm oder unfähig dargestellt werden. Das ist ein Riesenleid, dem die Frauen da ausgesetzt sind. Sie verlieren den Anschluss an ihre Lebensenergie.“

Wardetzki spricht von Frauen, da diese ihrer Erfahrung nach viel häufiger Opfer von Gaslighting werden als Männer. Als Grund wähnt sie eine Art angelerntes, weibliches Minderwertigkeitsgefühl: „Frauen beziehen die Schuld mehr auf sich, als sie nach außen zu geben. Sie neigen dazu, sich der Meinung des anderen anzupassen.“

Dennoch könne Gaslighting jeden treffen, so die Psychologin. Besonders gefährdet seien jedoch labile Persönlichkeiten. „Wer ein gefestigtes Selbstwertgefühl hat, ist erfahrungsgemäß resistenter gegenüber Manipulationen“, glaubt Wardetzki.

Tipps für Betroffene

Wenn Kathrin auf die vergangene Zeit mit ihrem Mitbewohner zurückblickt, würde sie ihrem damaligen Selbst gerne zwei Tipps geben. Sie bereut es, keine Beweise für seinen psychischen Missbrauch gesammelt zu haben: „Er hat so oft behauptet, bestimmte Dinge nie gesagt zu haben. Wenn ich sie aufgenommen, sie mit meinem Handy mitgeschnitten hätte, hätte er sich nicht so leicht aus der Affäre ziehen können“, glaubt Kathrin.

Allen Betroffenen rät sie außerdem, einen Psychologen aufzusuchen. „Ich hätte das viel früher machen sollen.“ Die größte Arbeit während einer Therapie sei, den Gaslighting-Opfern klarzumachen, dass sie die Möglichkeit und die Erlaubnis haben, sich zu wehren, sagt Dr. Bärbel Wardetzki. „Sie müssen begreifen, dass sie nicht verrückt sind; ihnen ist lediglich etwas Verrücktes passiert.“

Der Originaltext von Henrike Möller ist bei unserem Kooperationspartner ze.tt erschienen. Hier könnt ihr ze.tt auf Facebook folgen.

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