Dürfen Journalist*innen eine Haltung haben? Das fragt sich unsere Redakteurin Helen heute in ihrer Kolumne „Ist das euer Ernst?”.
Wie viel Haltung braucht der Journalismus?
Diese Woche jährte sich der Brandanschlag von Solingen zum 25. Mal. Am 29. Mai 1993 zündeten vier junge deutsche Männer das Haus der Familie Genç in Solingen an. Fünf Mädchen und Frauen kamen dabei ums Leben. Der Anschlag reihte sich ein in eine Serie von rechtsextremen Attentaten: Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Mölln. Zu dieser Zeit führte die CDU und CSU eine Kampagne zur Verschärfung des Asylrechts und wurde dabei von deutschen Medien immer wieder durch die Art ihrer Berichterstattung unterstützt. Die Konsequenz der Anschläge waren durch die Kampagne der CDU/CSU, aber auch durch die Berichterstattung der Medien nicht etwa eine klare Positionierung gegen Rechts, sondern eine deutliche Verschärfung des Asylrechts. Die Zeit dieser Anschläge war auch die Zeit, in der sich die Mitglieder des NSU politisiert haben.
25 Jahre später sitzt die AfD im Bundestag und wir diskutieren darüber, ob Journalist*innen auf Demos gegen diese Partei gehen können oder ob sie dadurch vielleicht ihre Glaubwürdigkeit verlieren. Zumindest fragte das Martin Machowecz, Leiter des Büros der ZEIT im Osten auf Twitter:
Anders formuliert: Können Journalist*innen ihre Haltung nach Außen tragen und trotzdem sachlich berichten?
Wir müssen dringend über Privilegien sprechen
Erst einmal stellt sich die Frage, ob man als Journalist*in vielleicht lieber nicht auf die Anti-AfD-Demo gehen sollte, vor allem für Menschen, die das Privileg besitzen, von dieser Partei nicht persönlich bedroht zu sein. Das trifft tatsächlich auf gar nicht wenige zu. Das ist aber eher ein Problem des Journalismus, der eben viel zu oft nur eine Perspektive kennt: weiß, männlich, abgesichert. All den Menschen, die von der AfD politisch bedroht sind oder sich mit diesen Menschen solidarisch zeigen wollen, sollte es dennoch möglich sein, das auf einer Demo zu tun. Wenn sie dabei transparent sind, können sie weiterhin über die Partei berichten. In sachlichen Berichten sollte das natürlich auch sachlich ausfallen. Aber auch bei einer sachlichen Berichterstattung muss man sich erst einmal Gedanken dazu machen, welche Begriffe „neutral” verwendet werden – und wie neutral diese wirklich sind.
Die Debatte um Neutralität im Journalismus ist keine neue – es ist eine Grundsatzfrage. Und über eine Sache brauchen wir sicherlich nicht zu diskutieren: Journalist*innen müssen in der Lage sein, Privates und Berufliches zu trennen. Das Problem ist aber, dass vieles, was als neutrale Berichterstattung verstanden wird, genau das eben doch nicht ist.
Wozu vermeintliche Neutralität führt, konnte man am vergangenen Sonntag auch beobachten: Bei der Tagesschau hieß es zum Beispiel: „AfD-Demo in Berlin: Systemkritik trifft auf bunten Protest”. „Systemkritik” sollte man ganz dringend, auch als objektive*r Journalist*in mit „Rassismus” ersetzen. Denn der Begriff „Systemkritik” verharmlost, was die Partei tatsächlich tut und bedient das Narrativ, das die AfD für sich selbst nutzt: der politische Underdog, der gegen das herrschende System und für die „kleinen Leuten” kämpft. Journalist*innen sollte mehr als allen anderen bewusst sein, das Sprache immer Realität schafft. Und deswegen ist es wichtig, welche Worte wir nutzen und übernehmen. Wenn von einer „Anti-Abschiebe-Industrie” gesprochen wird, Anwälte von Geflüchteten als „Saboteure des Rechtsstaats” bezeichnet werden und die „Konservative Revolution” gefordert wird, sollten Journalist*innen, Medien und wir alle diese Begriffe nicht einfach unreflektiert übernehmen. Es gibt keine „Anti-Abschiebe-Industrie”, diese Anwälte sabotieren den Rechtsstaat nicht und die „Konservative Revolution” ist ein Begriff mit einer rechten und nationalistischen Tradition. Und genauso wichtig ist es, dass wir die Bedeutung hinter Begriffen sichtbar machen. Wenn Horst Seehofer also zum Beispiel von „ANKER-Zentren” spricht, ist es wichtig aufzudrösseln wofür dieser Euphemismus steht: „Ankunft, Entscheidung, Rückführung” – und zwar in Lagern, die wenig bis gar nichts mit menschenwürdigen Bedingungen zu tun haben.
Journalismus braucht eine Haltung
Wenn, wenn fast die Hälfte aller Bescheide gegen Asylbewerber*innen vor Gericht wieder aufgehoben werden, kein medialer Shitstorm losgeht, nach 1.200 positiven aber schon, dann hat auch das etwas mit der Haltung im Journalismus zu tun. Genauso wie Wortwahl oft eine Haltung ausdrückt. Meldet die Tagesschau also, dass die AfD am vergangenen Sonntag systemkritisch demonstriert habe, klingt das für die zuständigen Redakteure vielleicht neutral – ist es aber nicht. Und wenn mehr Menschen in diesem Land wissen, was Beate Zschäpe am letzten Prozesstag anhatte, als die Namen aller Opfer aufzählen können, dann hat auch das etwas mit einer nicht vorhandenen Haltung im Journalismus zu tun. Aber hey, lasst uns ruhig weiter Homestorys über Götz Kubitschek machen, anstatt die Opfer rechter Gewalt zu Wort kommen zu lassen.
Können Journalist*innen also gegen die AfD demonstrieren, ohne ihren Berufsethos zu verraten? Ja, Journalismus im 21. Jahrhundert funktioniert nicht (mehr) ohne Haltung. So viel sollten wir in den letzten 25 Jahren gelernt haben. Viel problematischer als dass viele demonstrieren waren, ist vielleicht das Gefühl, dass die meisten nach der Demo am Sonntag nun haben: „Das war schön, das hat Spaß gemacht, Berlin ist bunt, nächstes Jahr gerne wieder. Rechte Demonstrationen und Gewalttaten finden, abseits von Berlin, allerdings fast täglich statt. Zum Beispiel am kommenden Wochenende in Goslar. Demonstrieren in Goslar macht zwar nicht so viel Spaß, ist aber mindestens genauso wichtig.
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