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Atomkrieg, U-Bahn-Vergewaltigung, Drogensumpf – wäre manchmal praktischer, wenn mein Kind nicht lesen könnte

In ihrer Kolumne „Familie und Gedöns“ schreibt Lisa über alles, womit sich Eltern so beschäftigen (müssen), diesmal: Wenn das Kind plötzlich lesen kann.

Analphabeten kannst du ja alles erzählen

Das Gute an kleinen Kindern ist ja, dass ihnen große Teile der Welt verschlossen bleiben; nur durch Übersetzungs- und andere Sprachtransferleistungen von Bezugspersonen, beispielsweise Eltern, sind sie in der Lage, an Informationen zu gelangen.

Das sorgt dafür, dass Kinder in den ersten Jahren in einem recht überschaubaren, gemütlichen Kokon ihr Dasein fristen. Diesen Kokon haben die Eltern natürlich hier und da rudimentär zu kuratieren, sprich sie haben die Tagesschau abzuschalten, wenn Kriegsbilder auftauchen, oder für Ablenkung zu sorgen, wenn man auf dem Weg in die Kita an durchgeknallten Leuten vorbeikommt, die Obszönitäten schreien. Eltern können fröhlich vor sich hin manipulieren, damit das, was zu ihren Kindern vordringt, einigermaßen im Sinne der Eltern ist.

Wie heißt es so schön: Lesen öffnet ein Tor zur Welt. Ich fürchte, das stimmt.

Endlich keine Comics mehr vorlesen müssen!

Klar, es ist auch befreiend, dem Sechsjährigen sagen zu können, er solle sich seinen blöden Donald-Duck-Comic künftig selbst vorlesen (ich weiß nicht, warum ich mich je darauf eingelassen habe, Comics vorzulesen, es ist einfach nur Folter), aber: Das Kind kann ja jetzt leider nicht nur Donald-Duck-Comics lesen, sondern: Alles!

Damit hat eine neue Ära begonnen. Inhaltlich passen musste ich schon vorher permanent („Warum ist der Himmel blau?“ „Äh, ich google das gleich mal“); nun kommen unangenehme Fragen zu Themen dazu, die man bisher unter Verschluss halten konnte.

Tausende tote Kinder in Syrien, Atomkrieg-Bedrohung, #metoo, Serienvergewaltiger in der Berliner U-Bahn, Kokain-Sumpf, Gewalt-Exzesse, sexueller Missbrauch: Wenn man darüber nachdenken muss, welche Schlagzeilen man im Alltag, jeden Tag, eigentlich gern von einem sechsjährigen Kind fernhalten würde, merkt man nochmal mit voller Wucht, was für ein verkorkster Ort die Welt eigentlich ist.

Ein Spießrutenlauf durch die Hölle

Allein die Aufsteller vor dem Lieblingskiosk des Kindes sorgen für Erklärungsnöte:

„Berliner Polizei nimmt Drogen-Dealer hoch”

„Sex-Skandal: Oxfam-Mitarbeiter feierten Orgien im Katastrophengebiet“

„Gewalt, Tränen, Sex: Leben im Berliner Knast“

Ja, äh, also … Ich habe das ungute Gefühl, dass das Leben künftig komplizierter und mühsamer wird. Wie mache ich dem Kind klar, dass die Welt viel Böses enthält, ohne dass es daran verzweifelt? Neulich musste sogar ein Hörspiel von „Pixi Wissen” zum Untergang der Titanic abgebrochen werden, unter großem Protest des vierjährigen Kindes, weil das Sechsjährige die Vorstellung nicht ertrug, dass das Schiff gleich gegen den Eisberg fahren und sinken würde, und Leute sterben würden.

Für Kinder, denen das Leid anderer so stark zu schaffen macht, ist das Leben als Leser natürlich eine einzige Zumutung. Ein Spießrutenlauf durch die Hölle.

„Vergewaltiger aus der U6 stellt sich der Polizei”

Es fühlt sich an, als ob eine Lawine an Themen, die sich aufgestaut hat, von denen ich gehofft hatte, ich könnte sie einfach für immer von meinem Kind fernhalten, nun über uns hinwegrollen.

„Mama, was ist ein Vergewaltiger? Was macht der in der U6? Warum stellt er sich der Polizei? Was hat er denn gemacht? Welche Farbe hat die U6?“

Immerhin die letzte Frage kann ich guten Gewissens beantworten: lila.

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