Foto: Mariana Vusiatytska | Unsplash

Das Gefühl, das uns alle verbindet: Fremde

Wenn irgendwas im Leben passiert, was neu ist und man dadurch mit neuen Leuten in Kontakt kommt oder in einer neuen Umgebung ist, kommt man sich erst einmal fremd vor. Manchmal hält sich dieses Gefühl aber auch – genau darüber hat Bianca Fritz ein Buch geschrieben.

In der heutigen Zeit begegnen wir oft dem Gefühl der Fremde. Sei es nun, dass man sich selbst fremd fühlt, oder wir Menschen begegnen, die sich fremd fühlen. Zahlreiche Menschen müssen momentan aufgrund der Lage in ihrer Heimat ihr Land verlassen und neu Fuß fassen in einem für sie völlig neuen Land. Leider erwartet diese Menschen hier nicht nur eine Willkommenskultur, sondern auch oft auch Verachtung oder sogar Hass. Bianca Fritz will durch ihr Buchprojekt „Fremdsein: 15 Geschichten über ein Gefühl, das verbindet” Empathie und Gefühl dafür wecken, dass jeder sich einmal fremd fühlt. Wir veröffentlichen eine der Kurzgeschichten.

Modus Nah – Felicitas Pommerening

„Das ist ja wohl die höchste Form von absurd, hmm, hmm, was in aller Welt hat mich bloß hergeführt? Dab-di-dab … der Klebstoff löst alle Probleme, die Klobürsten so hergeben …”  „Anne?” Ich beiße mir sofort auf die Lippe und höre auf zu singen. „Anne?” Es ist mein Chef, Robert. Er hüstelt, als wäre ihm etwas unangenehm. „Das hier ist die Männertoilette”, sagt er. Ach so! „Ich bin nicht auf der Toilette!”, rufe ich gegen die Kabinenwand. „Ich kümmere mich um das Klobürstenproblem!”

Kurz ist Stille, dann öffnet sich langsam die Tür hinter mir, und Robert steckt den Kopf in die Kabine. Ich sitze auf dem Boden und habe meine Hände an dem Gefäß, das die Klobürste hält – und an der Halterung, die das Gefäß hält. Ich kann meine Hände von beidem nicht lösen, weil ich Halterung und Gefäß aneinanderpressen muss, bis der Klebstoff getrocknet ist. Robert sieht mich mit einem Gesichtsausdruck an, den ich als mitleidig empfinde. Dabei hat er mich damit beauftragt, das Klobürstenproblem zu lösen! Hätte er sich ja mal früher überlegen können, dass mich das nicht in die erhabenste aller Lagen bringt!  „Ich dachte, du würdest einfach neue Klobürsten für das ganze Büro bestellen – mit kleineren Köpfen, so dass sie in den Gefäßen nicht mehr steckenbleiben…” Ich richte meinen Blick weg von ihm zurück auf meine Hände – vor allem, weil ich sonst einen Krampf im Hals bekomme. Vorsichtig lasse ich die Halterung und das Auffanggefäß los und stehe auf.

„So geht es aber auch”, sage ich zu Robert. „Schau!” Ich ziehe an der Klobürste, die – wie immer – in dem Auffanggefäß feststeckt, weil der Kopf zu groß ist. Bisher hat sich in diesem Moment regelmäßig das Auffanggefäß aus der Halterung gelöst und für unschöne Folgen gesorgt. Aber jetzt kleben Gefäß und Halterung zusammen – dank mir –, und mit einem festeren Ruck gibt das Gefäß die Klobürste frei. Ich halte sie triumphierend in die Luft. „Tadaa!”  Robert weicht zurück.  „Super”, sagt er angeekelt.  Solche Allüren kann ich mir nicht leisten. Ich stecke die Klobürste zurück, sammle meinen Klebstoff auf und gehe an das Waschbecken, um mir die Hände zu waschen. „Alle Klobürstenhalter sind jetzt mit den Auffanggefäßen zusammengeklebt. Keine Unfälle mehr mit dem Sapsch aus dem…”  Robert hält die Hände hoch. „Schon gut!”, unterbricht er mich. Ich stelle den Wasserhahn ab und ziehe ein Papiertuch aus dem Spender, um mir die Hände abzutrocknen.

Es tut mir leid, dass du das jetzt machen musstest”, sagt Robert hinter meinem Rücken und ich halte mitten in der Bewegung inne, das Papiertuch zwischen den Fingern. „Das wollte ich nicht, dass du hier nach deinem Feierabend auf dem Toilettenboden sitzt …”  Ich werfe das Tuch weg und drehe mich langsam zu ihm um. Sollte man seinem Chef sagen, dass man seinen Job nicht erst jetzt, nicht erst seit dem Klobürstenproblem absurd findet, sondern seit eh und je? Jeden Tag? Vermutlich nicht. „Ich finde meinen Job nicht erst seit heute absurd, nicht erst seit dem Klobürstenproblem”, sage ich. Natürlich.

Robert sieht mich an, als würde ihn das nicht überraschen – was mich meinerseits überrascht. „Du gehörst woanders hin”, sagt er wissend, und mir wird das Gespräch plötzlich unangenehm. „Warum hast du dich denn überhaupt hier beworben? Auf diese Stelle?”  Das will ich nicht beantworten.  „Warum hast du mich denn genommen, wenn dir so klar ist, dass ich nicht auf die Stelle passe?”, frage ich lieber zurück. Robert sieht mir eine Weile in die Augen bis ich denke, er macht mir gleich eine Liebeserklärung. Aber dann sagt er nur: „Ich bin Unternehmer, ich muss entsprechend denken. Zumindest hier. Als Psychologe hätte ich dir nach deinem Bewerbungsgespräch etwas anderes gesagt als … wann du denn anfangen könntest.”
Ich halte seinen Blick und gebe mich lässig, auch wenn ich mich eigentlich anders fühle. „Das hier ist einfach nur ein Job”, sage ich achselzuckend, „um Geld zu verdienen. Eigentlich mache ich etwas anderes. Eigentlich bin ich etwas anderes.” „Was denn?” Robert kommt einen Schritt auf mich zu und sieht mich aufmerksam an. Jetzt kann ich seinen Blick plötzlich doch nicht mehr halten und sehe auf das Waschbecken neben ihm.
„Ich singe”, sage ich, und es kommt raus, als hätte ich einen Frosch im Hals. Ich räuspere mich und sehe ihm wieder in die Augen – ich muss mich sehr dazuzwingen. „Ich bin SingerSongwriterin.”
Ein ganz kleines Lächeln erscheint auf seinen Lippen, und er nickt. „Ich habe dich gehört.” Er zeigt auf die Toilettenkabine, in der ich gerade vor mich hin geträllert habe. „Das war nur Quatsch”, erkläre ich ihm, was mir eigentlich recht überflüssig erscheint. „Auf der Bühne singe ich was anderes.” „Natürlich”, sagt Robert schnell. „Ich meinte nur: Ich habe dich gehört. Deine Stimme. Das klang sehr stark.” Ich muss lachen.
„Wirklich”, sagt Robert. „Du hast unglaubliches Talent.” Jetzt werde ich doch tatsächlich rot. „Na ja, vielen Dank”, sage ich und mache mich daran, die Männertoilette zu verlassen. „Danke Anne”, sagt Robert noch, bevor ich weg bin.
„Danke, dass du dich gekümmert hast.” Ich nicke und gehe dann raus.

Auf dem Weg nach Hause gehe ich beim Discounter rein. An der Kasse stelle ich mich in die lange Schlange und warte geduldig. Vor mir sind Studenten mit einem großen Einkauf, offensichtlich für eine Party. Davor eine ältere Frau mit Kopftuch. Hinter mir ein Mann, der unangenehm riecht und nur eine Dose Bier kaufen will. Ich sehe mir die gesamte Schlange an, jeden Einzelnen, und frage mich schließlich, ob hier wohl jeder von sich findet, er sei ganz anders als alle
anderen.
Die Frau ganz am Ende der Schlange lächelt mir kurz zu, als sich unsere Blicke treffen. Ich fühle mich irgendwie ertappt und lächele entschuldigend zurück – woraufhin sie aber auch schon wieder wegsieht, als wolle sie mich nicht weiter stören. Okay, die ist vielleicht ein bisschen wie ich. Zu Hause esse ich auf der Couch meine Instantnudeln und schaue fern. Supergirl rettet die Welt. Ich bin direkt angefixt und freue mich schon auf die nächsten Folgen. Trotzdem lässt mich der Pilot wehmütig zurück. Ich greife nach meiner Gitarre und fange an zu spielen. Die Melodie ist einfach da. Ohne großes Nachdenken. Dann kommen die Worte.

Die Welt liegt uns zu Füßen, nur ich stehe wohl am falschen Ort.
Alle Türen, alle Möglichkeiten vor uns, jetzt, hier und sofort.
Das ist nicht, was zu mir passt.
Vielleicht stolpere ich darüber, weil es eher deine Welt ausmacht.
Ich steh dir gegenüber und ich weiß, was du siehst.
Fühle, wie sich in mir alles deinem Blick verschließt.
Ich bin mehr als das, was ich hier grad tue,
ich denke mehr als das, was ich hier grad sage,
ich wünschte, du könntest in mich hineinsehen
und in meinem Kopf wohnen,
dann würdest du verstehen.
Und mich anders ansehen.

„,Accomplished‘ ist so ein schönes Wort, das gibt es nicht in meiner Sprache.
Vollendet, kultiviert, versiert, so ist nichts von dem, was ich mache.
Also für mich brauch ich’s nicht,
Vielleicht finde ich es deshalb so schön, vielleicht beschreibt es ja dich.

Ich steh dir gegenüber und ich weiß, was du siehst.
Fühle, wie sich in mir alles deinem Blick verschließt.

Ich nehme mir fest vor, dir Einblick zu geben,
den Vorhang wenigstens ein bisschen zu heben,
ich lösche alle Filter, ich teile mich dir mit,
ich glaube, ich will, dass du mich nicht vergisst.

Die Welt liegt uns zu Füßen, nur ich stehe kopf.
Alle Türen sind offen, nur ich klopfe noch.
Möglichkeiten ohne Grenzen, aber keine passt zu mir.
Und jetzt stolper’ ich darüber – denn sie passen zu dir.”

Bianca Fritz: „Fremdsein: 15 Geschichten über ein Gefühl, das verbindet”, 77 Seiten, 4,99 Euro. Alle Einnahmen werden an Flüchtlingskinder gespendet.

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