Foto: EKD/Baumgart

Margot Käßmann: „Wir brauchen gemeinsame Rituale, Geschichten und Werte“

Spielt Religion in unserer Gesellschaft noch eine entscheidende Rolle oder ist sie gar größer als man vermuten mag? Und wieso gibt es trotz der Frauenfeindlichkeit vieler Religionen gläubige Frauen? Eine dieser Frauen ist Margot Käßmann, die wie keine zweite für die evangelische Kirche steht. Wir haben mit ihr gesprochen.

Religion in der Großstadt?

In Großstädten und besonders in Berlin, kann schon einmal das Gefühl aufkommen, dass der Bezug zu Religionen immer weiter verloren geht – auch in ihrer Sichtbarkeit. Natürlich sieht man gerade in Kreuzberg und Neukölln viele Frauen, die Kopftuch tragen und es begegnet einem auch hin und wieder ein orthodoxer Jude, aber sonst? Neben diesen flüchtigen Begegnungen mit unterschiedlichen Religionen scheint das Thema im gelebten Alltag – also fernab von Medienberichten – kaum mehr eine Rolle zu spielen.

Auch die Statistiken sprechen für weniger Interesse an Religion, 2014 traten fast 500.000 Menschen aus der christlichen Kirche in Deutschland aus. Seit diesem Zeitpunkt sinkt die Anzahl der Kirchenaustritte zwar, allerdings bewegen sich die Zahlen immer noch bei durchschnittlich 400.000 Menschen jährlich.

Und dennoch gibt es noch eine Menge gläubiger Menschen unter uns. In diesem Jahr wurde das besonders am evangelischen Kirchentag deutlich, an dem ungefähr 130.000 Menschen zusammenkommen waren, die Halt im Christentum finden und ihren Glauben in diesen Tagen feiern wollten. Darunter auch sehr viele Frauen, für die ihre Religion fester Bestandteil ihres Lebens ist.  In einer Interview-Reihe sprechen wir daher mit Frauen verschiedenster Religionen, um zu erfahren, was sie bewegt, wie sie leben, was ihr Glaube für sie bedeutet und wie sie diesen vielleicht sogar mit Feminismus vereinbaren.

Die vierte Frau, mit der wir über diese Themen sprechen, ist die ehemalige Landesbischöfin und Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland Margot Käßmann.

Wann war Ihnen klar, dass Sie einen religiösen Berufspfad einzuschlagen wollen?

„Für das Schuljahr 1974/75, als ich 16,17 war, hatte ich ein Stipendium für ein Ostküsteninternat in den USA erhalten. Als Stipendiatin war ich vor allem mit Schülerinnen und Schülern schwarzer Hautfarbe zusammen, die auch durch ein Stipendium dort waren. Über sie habe ich von Martin Luther King gehört und dann auch eine Geschichtsarbeit über ihn geschrieben. Dabei hat es mich fasziniert, dass der Mensch zugleich fromm und politisch sein kann. In dem Internat begegnete ich außerdem zum ersten Mal Jugendlichen jüdischen Glaubens und wurde nach dem Holocaust gefragt. Mit 16 hatte ich, ehrlich gesagt, noch nicht viel über dieses Thema nachgedacht. Dazu kam noch der zu Ende gehende Vietnamkrieg. Die darauffolgenden Diskussionen über die Legitimation des Krieges waren heftig. Auch mein Vater starb in diesem Jahr und ich konnte nicht bei der Beerdigung sein. Aus allen diesen verschiedenen Erfahrungen heraus habe ich mich für ein Theologiestudium entschieden. Ich wollte Antworten auf meine Fragen suchen.“

Als ehemalige Bischöfin und Botschafterin der evangelischen Kirche in Deutschland spielt Religion eine wichtige berufliche Rolle in ihrem Leben. Welche Rolle spielt Religion in ihrem privaten Leben?

„Ich habe über die bald sechs Jahrzehnte meines Lebens ein Vertrauensverhältnis zu Gott gewonnen. Wir sind sozusagen durch das Gebet miteinander im Gespräch. Die biblischen Texte, unsere Glaubenstradition und die kirchlichen Rituale geben mir in den Höhen und Tiefen meines Lebens Halt und Kraft.“

Obwohl die evangelische Kirche weibliche Bischöfe und die Heirat erlaubt, basiert auch sie auf der Bibel, in der die Frau dem Mann an vielen Stellen untergeordnet ist. Wie gehen Sie mit solchen Versen um?

„Das ist in unserer Kirche nun jahrzehntelang diskutiert worden. Der Apostel Paulus lebte in einer Welt, in der eine Gleichberechtigung von Mann und Frau nicht vorstellbar war. Deshalb rät er mit solchen Versen zur Ordnung, wie er sie versteht. Und doch gibt er im Brief an die Galater den Grundsatz vor: ‚In Christus ist nicht mehr männlich und weiblich‘. Martin Luther sagt dann, jeder getaufte Christ ist Priester, Bischof und Papst. Daraufhin dauerte es allerdings noch rund 450 Jahre, bis unsere evangelische Kirche klar erkannt hat: Sind Frauen getauft, dann können auch sie eben all dies, also Priester und Bischof sein.“

Warum schafft es die katholische Kirche bis heute nicht, Frauen Männern gegenüber als gleichwertig zu sehen. Warum dürfen sie dort keine Priesterinnen, Bischöfin oder Päpstin sein?

„Das muss die katholische Kirche beantworten.“

Haben Sie sich als Frau in ihrem Beruf jemals wegen Ihres Geschlechts benachteiligt gefühlt?

„Klar habe ich das erlebt. Als Vikarin sagte zum Beispiel ein Einzelhändler beim Einkaufen zu mir: ‚Das hätte der alte Dekan nie erlaubt, dass eine Frau diese Kanzel betritt.‘ Als ich dann junge Pfarrerin war, wollte ich mir mit meinem Mann die Stelle teilen. Die Kirchenleitung sagte: ‚Sie haben schon ein Kind, sind mit Zwillingen schwanger, das ist doch nicht passend.‘ Und als ich als Bischöfin kandidiert habe, wurde massiv angefragt, ob eine Mutter von vier Töchtern so ein Amt wahrnehmen kann. Der Gegenkandidat hatte zwar fünf Söhne, aber das hat niemand thematisiert, weil alle davon ausgingen, da gebe es gewiss eine Frau im Hintergrund, die all das Familiäre regelt.“

Inwiefern glauben sie, dass Religion und insbesondere der evangelisch christliche Glaube mit Feminismus zu vereinbaren sind?

„Martin Luther hat Frauenleben aufgewertet. Zum einen durch die bereits erwähnte Tauftheologie. Zum anderen, weil er klargemacht hat, dass nicht das Leben abseits der Welt, sprich im Kloster und Zölibat, ein gutes Leben vor Gott ist, sondern das Leben mitten in der Welt, mit Sexualität, dem Gebären von Kindern, dem Beruf, etwa in der Landwirtschaft – das hat Frauenleben aufgewertet. Durch die Heirat ehemaliger Mönche und Nonnen wurde dieses Leben, der Alltag der Welt, das gute und verantwortliche Leben vor Gott. Zudem hat Luther Bildung für alle gefordert, für jeden Jungen und jedes Mädchen gleich welcher sozialen Herkunft. Das war ein Durchbruch!“

Sie haben sich damals, als Sie wegen Trunkenheit am Steuer eine Anzeige bekommen haben, sich ganz bewusst dazu entschieden Ihr Bischofsamt niederzulegen. Es gibt Männer, die weitaus schlimmere Vergehen begangen haben und trotzdem noch ihr Amt ausüben. Ist es etwas typisch Weibliches, sich nach einem Fehltritt zurückziehen zu wollen?

„Ob das typisch weiblich ist, kann ich nicht beurteilen. Aber ich finde, der Mensch muss zu den eigenen Fehlern stehen. Meine Erfahrung ist, dass die anderen dann auch eher Nachsicht mit dir und deinem Vergehen haben. Da gibt es dann durchaus auch Empathie. Alle machen Fehler und niemand sähe die gern auf Seite eins der Tageszeitungen.“

Haben Sie jemals bereut, diesen Schritt gemacht zu haben?

„Den Anlass habe ich bereut, die Konsequenz daraus nicht.“

Die Austrittszahlen aus den Kirchen zeigen, dass sich immer weniger Menschen mit der Kirche identifizieren können. Wie möchten Sie dem entgegentreten, falls Sie dies überhaupt möchten.

„Mir tut es weh, dass Menschen aus der Kirche austreten. Ich erlebe, wie die kirchliche Gemeinschaft in einer Welt, die ständig Mobilität und Innovation fordert, Halt geben kann. Wir brauchen doch gemeinsame Rituale, Lieder, Geschichten und auch Werte. Woher sollen die denn kommen, wenn sich alle nur noch individuell definieren? Ich hoffe darauf, dass unsere Gottesdienste sich erneuern. Ich möchte, dass Menschen so gestärkt daraus hervorgehen, dass sie sagen: ‚Das brauche ich bald wieder‘ und nicht erst nächstes Weihnachten wiederkommen möchten. Und ich hoffe, dass Menschen wieder Sehnsucht nach Gottesdiensten entwickeln. Dabei geht es dann nicht um ein ‚Was bringt mir das‘, sondern ein ‚Wie bringe ich mich zweckfrei in das Lob Gottes der Welt ein‘. Da geht es dann auch nicht um: ‚schnell und effektiv‘, sondern um eine entschleunigte Zeit. Da geht es nicht um ‚Innovation‘, sondern um Tradition, die mich hält, wie die Mütter und Väter im Glauben vor mir seit Jahrhunderten getragen wurden.“

Ein Austritt aus der Kirche heißt nicht zwingend sich nur noch individuell zu definieren, vielmehr verdeutlichen Menschen so eher, dass die Kirche als Institution nicht mehr zu ihnen passt. Wie könnte die Kirche das ändern?

„Die Kirche, das sind die Menschen, die sie gestalten. In der evangelischen Kirche kann sich jeder und jede auf Ortsebene bis hin zur Gesamtleitung daran beteiligen.“

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